Reed The Page
In der Überproduktion vermeintlich erotischer Bilder bleibt die Erotik viel zu oft auf der Strecke. Deswegen stellen wir Ihnen in unserer neuen Reihe „Sex and Crime“ in loser Folge spannende Eroten aus Literatur, Musik und Film vor. In dieser Woche ergründet Anica Richter, warum Lou Reed und Bettie Page ein ganz hervorragendes Paar abgegeben hätten und was Leopold von Sacher-Masoch von dieser Konstellation gehalten hätte.
„Night of sin (The Fall) / 1st sex, a feeling of having / done this same act in time before / O No, not again“ (James Douglas Morrison)
Wie oft werden wir am Tag visuell vergewaltigt? Wie oft werden wir täglich unfreiwillig berührt und das auf das Peinlichste? Wie oft besuchen wir unser internes Sexkino, ohne dass wir die geringste Absicht hierzu gehabt hätten?
In Zeiten, in denen Dekolletés nicht länger stimulierend, sondern politisierend an jeder dritten Straßenlaterne (wenigstens die Örtlichkeit bleibt zuweilen gleich) daherkommen, ist eine systematische Verwirrung unserer Sinne oft garantiert. Dem medialen Angriff auf die Libido geht allerdings eine jahrelange Konditionierung voraus. Was mit dem Mädchen von Seite 1 begann, wird von Vera Lengsfeld und ihrer nicht autorisierten Parteienwerbung mit den Bayreuth-Brüsten Merkels sowie Halina Wawzyniaks freimütiger Präsentation eines (ihres?) sozialistischen Arschgeweihs konsequent weitergeführt. Diese Zurschaustellung nackten Fleisches wird weder (Konditionierung sei Dank!) als wirklich schockierend noch als empörend oder anstößig empfunden. Sie wird jedoch in den Medien völlig zu Recht als das entlarvt und angeprangert, was sie, gerade im politischen Kontext, ist: häufig lästig und noch häufiger inhaltsleer.
Doch keine Angst, das TITEL-Magazin wird sich nicht der Sittenwächterei und schon gar nicht dem ungeschminktem Emanzentum verpflichten. Vielmehr stellen wir ab sofort einige, dem Vergessen anheimgestellte und einige ewig lebendige Eroten unserer Zeit aus Literatur, Musik und Film in unserer neuen Rubrik „Sex and Crime“ vor. Zum Start beschäftigen wir uns mit Lou Reed und Bettie Page.
Zu Tisch mit Leopold und Severin
Lange bevor Bettie Page ihren Bachelor of Arts absolviert und Lou Reed zu einem Spaziergang auf der, sagen wir, eher unkonventionellen Seite des Lebens auffordert, kann sich der geneigte Leser des 19. Jahrhunderts an allerlei frivoler Literatur erfreuen. Zur Verfügung steht beispielsweise das von de Sade verfasste und 1791 erschienene Justine ou Les malheurs de la Vertu, das 1792 von einem Kritiker in einem Ergänzungsblatt des „Journal général de France“ folgendermaßen rezensiert wird: „Alles, was die ausschweifende Phantasie an Unanständigem, Verfänglichem, ja Ekelhaftem erfinden kann, ist in diesem seltsamen Roman angehäuft, dessen Titel feinfühlende und rechtschaffende Seelen interessieren und täuschen könnte.“ Nichtsdestotrotz wird dieses Werk de Sades, trotzdem es als verbotenes Buch gilt, nach zehn Jahren bereits in sechster Auflage publiziert – Sex sells, auch (oder gerade) im Mittelalter, aber hallo!
Im Jahr 1870 legt ein studierter Jurist, Historiker und Mathematiker literarisch wie erotisch nach. Leopold Ritter von Sacher-Masoch (bitte keinen Zusammenhang zur Sachertorte herstellen, die wurde zwar auch im 19. Jahrhundert kreiert, allerdings von Franz Sacher) veröffentlicht Venus im Pelz, aus dem der folgende Ausschnitt entnommen ist.
„Eben ging die Türe auf und eine hübsche volle Blondine mit klugen freundlichen Augen, in einer schwarzen Seidenrobe, kam herein und brachte uns kaltes Fleisch und Eier zum Tee. Severin nahm eines der letzteren und schlug es mit dem Messer auf. ‚Habe ich dir nicht gesagt, dass ich sie weich gekocht haben will?‘, rief er mit einer Heftigkeit, welche die junge Frau zittern machte.
,Aber lieber Sewtschu –‘, sprach sie ängstlich.
,Was Sewtschu‘, schrie er, ,gehorchen sollst du, gehorchen, verstehst du‘, und er riss den Kantschuk, welcher neben seinen Waffen hing, vom Nagel.
Die hübsche Frau floh wie ein Reh rasch und furchtsam aus dem Gemache.
,Warte nur, ich erwische dich noch‘, rief er ihr nach.
,Aber Severin‘, sagte ich, meine Hand auf seinen Arm legend, ,Wie kannst du die hübsche kleine Frau so traktieren! ‘
,Sieh dir das Weib nur an‘, erwiderte er, indem er humoristisch mit den Augen zwinkerte, ,hätte ich ihr geschmeichelt, so hätte sie mir die Schlinge um den Hals geworfen, so aber, weil ich sie mit dem Kantschuk erziehe, betet sie mich an.‘
,Geh’ mir!‘
,Geh’ du mir, so muss man die Weiber dressieren.‘
,Leb‘ meinetwegen wie ein Pascha in deinem Harem, aber stelle mir nicht Theorien auf –‘
,Warum nicht‘, rief er lebhaft, ,nirgends passt Goethes ›Du musst Hammer oder Amboss sein‹ so vortrefflich hin wie auf das Verhältnis von Mann und Weib, das hat dir beiläufig Frau Venus im Traume auch eingeräumt. In der Leidenschaft des Mannes ruht die Macht des Weibes, und es versteht sie zu benützen, wenn der Mann sich nicht vorsieht. Er hat nur die Wahl, der Tyrann oder der Sklave des Weibes zu sein. Wie er sich hingibt, hat er auch schon den Kopf im Joche und wird die Peitsche fühlen.‘
,Seltsame Maximen!‘“
EMMA-Leserinnen werden spätestens nach dieser Leseprobe Zeter und Mordio schreien, ungeachtet dessen sei ein Besuch auf der folgenden Internetseite trotzdem (oder erst Recht) empfohlen. => (weiterlesen)
Shiny, shiny, shiny boots of leather …
Lou Reed ist nicht der Letzte und Sacher-Masoch gewiss nicht der Erste, der sich der Venus-im-Pelz-Erotik angenommen hat. Man denke beispielsweise an Tizians Venus im Spiegel aus dem 16. Jahrhundert, in dem sich dem Betrachter eine barbusige, offensichtlich sehr zeigefreudige junge Dame präsentiert, die lediglich ihre Scham mit einem roten, pelzbesetzten Umhang zu bedecken sucht.
Auch Rubens nimmt sich später diesem Sujet an und porträtiert seine zweite Gattin Helena im Bild Das Pelzchen halbnackt und nur mehr schlecht als recht mit einem Pelzmantel verhüllt.
Die Ikonographie von Pelz und Zobel war schon im 16.Jahrhundert eindeutig zu erfassen; der Pelz als vulgärsprachliches Synonym für die weibliche Scham und überdies auch als Verweis auf Prostitution.
In diesem Kontext verwundert weder die Kombination aus Pelz und – der mythologischen femme fatale schlechthin – Venus noch Sacher-Masochs Verweis auf dieses „Duo Infernale“.
Einen eindeutigen Bezug zu Sacher-Masochs Venus im Pelz und der hierin thematisierten sadomasochistischen Beziehung zwischen dem schon vorgestellten Severin und seiner Herrin Wanda stellt Lou Reed her, als er den Song Venus in furs schreibt. Dieser wird 1967 auf dem Album The Velvet Underground and Nico veröffentlicht und darf bis heute, mal abgesehen von Gainsbourgs und Birkins Sex-Evergreen Je t’aime … moi non plus, als einer der vordergründig erotischsten Songs des letzten Jahrhunderts gelten, was der folgende Songtext verdeutlicht:
Venus in Furs (written by Lou Reed)
Shiny, shiny, shiny boots of leather
Whiplash girlchild in the dark
Clubs and bells, your servant, don’t forsake him
Strike, dear mistress, and cure his heart
Downy sins of streetlight fancies
Chase the costumes she shall wear
Ermine furs adorn the imperious
Severin, Severin awaits you there
I am tired, I am weary
I could sleep for a thousand years
A thousand dreams that would awake me
Different colors made of tears
Kiss the boot of shiny, shiny leather
Shiny leather in the dark
Tongue of thongs, the belt that does await you
Strike, dear mistress, and cure his heart
Severin, Severin, speak so slightly
Severin, down on your bended knee
Taste the whip, in love not given lightly
Taste the whip, now plead for me
I am tired, I am weary
I could sleep for a thousand years
A thousand dreams that would awake me
Different colors made of tears
Shiny, shiny, shiny boots of leather
Whiplash girlchild in the dark
Severin, your servant comes in bells, please don’t forsake him
Strike, dear mistress, and cure his heart
Derartig obsessive Texte, die nahezu typisch für alle Velvet Underground Stücke sind, hätten nicht nur die umtriebigen Herzen de Sades und Sacher-Masochs höher schlagen lassen, sondern passen auch hervorragend zu einigen, von Andy Warhol initiierten Happenings in den 1960er Jahren. Schließlich ist Warhol derjenige, der das Debütalbum von Velvet Underground, auf dem sich auch Venus in Furs befindet, produziert und es mit dem berühmten Bananen-Cover-Artwork ausstattet.
The Pelz and the Page
Was hat all das mit Bettie Page zu tun? Der Kreis schließt sich, blickt man aus dem Jahr 1967 gute 20 Jahre zurück.
Die noch unbekannte Bettie Page zieht nach ihrem College-Abschluss nach San Francisco und nimmt dort ihren ersten Modeljob bei einem lokalen – Achtung! – Pelzhändler an. Aus dieser Zeit gibt es keine Bilder von Page, aber auch in späteren Jahren lässt sie sich, wenn auch nicht im Pelz, immer wieder mit tierischen „Accessoires“ ablichten.
Nachdem sie in den 1950er Jahren von dem an Fotografie interessierten Polizeioffizier Jerry Tibbs als Pinup Model entdeckt wird, kommt die große Karriere langsam ins Rollen. Page avanciert 1955 zur „Miss Pinup Girl of the World“. Sie posiert im Bikini, in Dessous und immer häufiger auch in Bildern, die einen fetischistischen Hintergrund haben. Ob mit Peitsche und Halsband, in Fesseln gelegt oder in frivoler Interaktion mit anderen Frauen – für Page gibt es keine Tabus und für sie scheint dies alles, trotz oder gerade wegen der Prüderie der 1950er Jahre, bemerkenswert unproblematisch zu sein.
In the end
Was Bettie Page und Lou Reed letztendlich vereint, ist das Bekenntnis zu einer ästhetischen Darstellung von sexueller Obsession, die über Konventionen und traditionelle Rollenbilder erhaben ist. Gerade der Mut zu dieser individuellen Sichtweise auf Erotik ist es, der lange geächtet war und der, zu Zeiten de Sades und Sacher-Masochs, nicht selten in juristischer Verfolgung und körperlicher Repression endete, aber auch in den 1950er Jahren immer noch gesellschaftliche Ächtung bedeutete. Bettie Page durchbricht mit ihren Fotos den Schutzwall einer hochgradig doppelmoralischen Gesellschaft, die einerseits eine reale, d.h. berufliche und soziale Unterdrückung der (Haus-) Frau als kultiviertes Leitbild ansieht und andererseits eine spielerisch-devote Haltung in sexueller Hinsicht ablehnt (überflüssig zu sagen, dass hierbei die Rolle der Frau auch jederzeit eine dominante sein kann, was jedoch ebenso wenig gesellschaftlich akzeptiert worden wäre).
Lou Reed hatte es mit seiner Venus in Furs in den 1960er Jahren vermutlich ungleich leichter, den sexuell revoltierenden Nerv einer Generation zu treffen, ohne Gefahr zu laufen, vor den Kadi gezerrt oder als Freak angesehen zu werden. Nichtsdestotrotz widmet er sich in seinem Song thematisch einer sexuellen Orientierung, die auch noch heute von der WHO als „Störung der Sexualpräferenz“ eingeordnet wird.
An dieser Stelle sollen weder Madame Page noch Monsieur Reed als sexuelle Botschafter hochstilisiert werden. Aber sie haben mit ihrer Arbeit versucht, die Menschen zumindest ein bisschen aus den Zwängen zu befreien, innerhalb derer sie sehen und fühlen. Schon deswegen wäre ich gerne mal mit beiden einen Kaffee trinken gegangen.
Anica Richter
Zum Thema:
Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt a. Main: Edition Büchergilde 2003. 208 Seiten. 24, 90 Euro.
Marquis de Sade: Justine oder Vom Missgeschick der Tugend (Justine ou Les malheurs de la Vertu). Berlin: Ullstein tb 2009. 224 Seiten. 7,95 Euro.
Velvet Underground: The Velvet Underground and Nico (Polydor/Universal)
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