Geschrieben am 10. Oktober 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Sex and Crime

Die Entdeckung der Leidenschaft

In der medialen Überproduktion vermeintlich erotischer Sujets bleibt die angestrebte und eigentliche Erotik viel zu oft auf der Strecke. Dass dies aber durchaus nicht so sein muss, zeigen wir Ihnen in unserer Rubrik „Sex and Crime“, in der wir in loser Folge einige, dem Vergessen anheimgestellte und einige ewig lebendige Eroten unserer Zeit aus Literatur, Musik und Film vorstellen. In dieser Woche beschäftigt Anica Richter die Frage, inwiefern Rousseau die Kausalitätenkette abgebrochenes Jurastudium – Bankraub – Talkshow leidenschaftlich durchbrochen hätte, und warum Romy Schneider die Verrohung des Burkhard Driest als ganz und gar angenehm empfunden haben mag.

„Der Unbeherrschte weiß, dass es schlecht ist, was er tut, und tut es doch aus Leidenschaft.“ (Aristoteles in Die Nikomachische Ethik)

In Memoriam Moral

Moral ist die Mutter der Leidenschaftskiste, davon konnten bereits die Philosophen der Antike ein Lied singen. Auch heute ist die Frage, ob und inwiefern uns unsere Leidenschaften davon abhalten, Vernunft und Moral in unser Handeln zu integrieren, noch immer von höchster Relevanz. Wäre ohne die leidenschaftliche Gier der mafiösen Manager die Weltwirtschaft tatsächlich an den Rand des Abgrunds geraten? Hätte Boris Becker sich auch ohne leidenschaftliche Triebverblendung auf Gottschalks Couch zum Affen gemacht? Und wäre ohne die leidenschaftliche Lust am Voyeurismus tatsächlich ein Boulevard-Sternchen als tickende AIDS-Zeitbombe entlarvt worden? „Nein!“ wird der desillusionierte Alexithymiker rufen. Aber so ganz ohne Leidenschaft geht es dann doch nicht. Oder, Genosse Steinmeier?!

Das Motiv der Leidenschaft spielt nicht nur in der Literatur eine wichtige, immer wiederkehrende Rolle, sondern auch in der Ikonisierung prominenter, in der Öffentlichkeit stehender Personen. Solange Konventionen und gesellschaftliche Moralvorstellungen eingehalten werden, ist emotionsgeleitetes Handeln kein Problem. Dass die infantile Effie Briest einen 20 Jahre älteren Mann heiratet, der ein dröger Schnösel ist und eigentlich Effies Mutter hatte begatten wollen – selbstverständlich! Aber eine Affäre zwischen Effie und dem leichtlebigen Major von Crampas – Skandal! Rock Hudson und Doris Day in einem Pyjama für Zwei – romantisch! Aber Rock Hudson und ein Mann, womöglich auch noch ohne Pyjama – Skandal! Romy Schneider als Sissi mit Franzl im Zuckerguss-Universum – hach! Aber Romy Schneider auf der Stern-Titelseite als Aktivistin pro Abtreibung – Skandal!

Leidenschaft? Ja, aber bitte gesittet und auf Sparflamme, ansonsten kümmert sich Herr Springer als stellvertretender Moralwächter der Nation darum und dann aber aua!

Jugend ohne Tugend

Das Ausmerzen der schlechten Leidenschaften und der vernünftige Umgang mit den guten Leidenschaften ist das zentrale Thema in Rousseaus Emil oder Über die Erziehung. Damit es gar nicht erst so weit kommt wie bei den bisher genannten Figuren aus Literatur- und Zeitgeschichte, schlägt Rousseau vor, einen jungen Menschen erst dann mit Leidenschaften zu konfrontieren, wenn er diese mittels der Ratio bewerten könne. Folglich müssen alle Emotionen und Leidenschaften vom Zögling ferngehalten werden, das Kind muss „wie ein empfindungsloses Wesen“ erzogen werden und – voilà – keine Skandale in späteren Jahren! Die folgende Handlungsanweisung hätte also einiges zum Guten wenden können, hätte sich nur ein Erzieher wie Rousseau für Burkhard Driest gefunden:

„Heftige Leidenschaften machen auf das beobachtende Kind einen tiefen Eindruck, weil sie sich in deutlichen Zeichen äußern, die es erschüttern und seine Aufmerksamkeit erregen. Der Zorn äußert sich so lautstark, dass man ihn unmöglich übergehen kann. Für einen Pädagogen eine gute Gelegenheit, eine schöne Rede darüber zu halten? Nein! Keine Rede, kein Wort darüber verlieren! Lasst das Kind nur kommen: erstaunt wird es euch sicherlich fragen. Die Antwort ist einfach; sie ergibt sich aus seinen Beobachtungen: ein erhitztes Gesicht, funkelnde Augen, drohende Gebärden, Geschrei, Zeichen, dass der Körper aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Sagt ihm ruhig, ungezwungen, ohne Heimlichkeit: Der arme Mann ist krank; er hat einen Fieberanfall. […] Sollte das Kind bei dieser Vorstellung, die gar nicht falsch ist, nicht frühzeitig einen gewissen Widerwillen gegen die Leidenschaften bekommen, die es als Krankheiten sehen lernt?“  (Weiterlesen)

Im Falle von Burkhard Driest muss, in Hinblick auf seine spätere Entwicklung, aus erzieherischer Sicht einiges verpasst worden sein. Hineingeboren in ein gutbürgerliches Elternhaus, der Vater Diplom-Volkswirt, die Mutter Klavierpädagogin, besucht der junge Burkhard Driest das Gymnasium und macht schließlich, trotz gehäufter Verstöße gegen „Zucht und Ordnung“, das Abitur als Drittbester seines Jahrgangs. Driest befindet sich zu diesem Zeitpunkt, trotz einiger Abweichungen, zweifelsohne auf dem Pfad der Tugend, wobei die Repräsentation seines vermeintlichen Sinns für Recht und Ordnung schließlich in der Wahl seines Studiengangs – Jura – gipfelt.

Doch was nun folgt, ist ein Leben zwischen Kneipe, Knarre und, nach einem Besuch bei der Bank in bester John Dillinger-Manier, Knast. Sofern man an einem Bankraub etwas bemerkenswert heißen kann, ist das im Fall Driest der Zeitpunkt der Tat. Der Überfall auf eine Sparkasse findet im Mai 1965 statt, nur wenige Wochen vor Driests mündlichem Jura-Examen. Der Mann hat also konsequent auf alles geschissen (obwohl man sagen muss, dass ein Überfall kurz nach seinem Examen wohl ebenso kurios gewesen wäre).

Doch wie ist das nun zu erklären? Befand sich der angehende Jurist Driest während des Überfalls im Zustand geistiger Umnachtung und konnte die Konsequenzen seines Handelns nicht überblicken? Denn das hätte doch jeder vernünftige Mensch getan – erst nachdenken, dann die Bank doch nicht überfallen. Oder aber, offenbar bei Driest geschehen, erst nachdenken, dann die Bank überfallen. „Ich lehne alle autoritären Strukturen strikt ab. Es gab keine Perspektive für mein Leben. Einziges Ziel der Menschen damals war es, Geld zu verdienen und eine Position zu erringen. Das kotzte mich an“, sagt Driest 1980 in einem Interview und drei Jahre später: „Was ich gemacht habe, war mich zu inszenieren, auch der Bankraub gehörte dazu, ich bin da ja schließlich nicht als Bewusstloser hineingetaumelt.“

Es ist eine Entscheidung, die Anstand und Moral entsagt, die gleichsam Vernunft und Leidenschaft einbezieht, und die das Individuum in den Fokus der Handlung rückt, gänzlich losgelöst von Staat, Gesetz und Konvention.

Die tapfere Schneiderin

Es war fast wie im Märchenbuch. Obwohl nicht als Gemahlin vorgesehen, heiratet der junge Kaiser Franz Joseph die schöne Prinzessin Elisabeth, in Fachkreisen Sissi genannt, trotzdem. Das ist im Grunde nicht in Ordnung, denn eigentlich sollte doch Helene, Sissis Schwester, den feschen Prinzen zum Mann nehmen und glücklich bis ans Lebensende sein. Aber wer will sich schon an Moral, Vernunft und Absprachen erinnern, wenn es doch um das Lebensglück zweier Liebender geht? Das Königshaus war gnädig mit Sissi und Franz und das Publikum der 1950er Jahre auch – kein Skandal, Glück gehabt!

Als Romy Schneider irgendwann keine Lust mehr auf ihr Image als kindliche Kaiserin der Herzen hat, stattdessen in John Fords Tis Pity She’s a Whore die Annabella gibt, die in inzestuöser Liebe zu ihrem Bruder Giovanni entbrennt oder sich mit Alain Delon im Swimmingpool vergnügt, ist das Publikum dann nicht mehr ganz so nachsichtig, wenn es um die Moral geht.

Schneider streift das bonbonfarbene Sissi-Korsett ab und trägt stattdessen lieber – sich selbst.
Diese Metamorphose Schneiders gründet auf dem gleichen leidenschaftlichen „Drauf-Geschissen!“-Motiv, das auch Burkhard Driest antreibt. Es geht darum, bewusst nicht dem gerecht zu werden, was erwartet wird, nicht das zu tun, was vernünftig, richtig, angemessen oder sonst dergleichen wäre. Skandal!

In the end

Es verwundert schlussendlich nicht, was sich im Jahr 1974 in der Talkshow Je später der Abend zuträgt. Nach etlichen Jahren auf der Flucht vor deutschen Medien und ihrem einst so treuen Publikum aus Sissi-Tagen, gibt Romy Schneider wieder ein Interview im deutschen Fernsehen. Moderator Dietmar Schönherr sucht die anfangs sehr wortkarge und nach eigenen Angaben „wirklich nervöse“ Romy Schneider zu mehr Offenheit zu bewegen, indem er vorschlägt, sie könne sich ja vorstellen, dass es eine Rolle sei, die sie hier spiele.

Dass dieser Vorschlag jede Absicht, ein ernsthaftes und zumindest ansatzweise authentisches Interview führen zu wollen, in absurder Weise zunichte machen muss, sei nur am Rande bemerkt. Trotzdem befolgt Schneider den Rat Schönherrs, spielt jedoch weder die Sissi, noch die Annabella, sondern sie spielt, nein sie inszeniert die Romy. Für Schönherr, für sein, aber nicht ihr Publikum und, das vor allem, für sich selbst. Dann, Auftritt Burkhard Driest in Lederjacke und mit Goldkette, ganz anders als einst der Franzl, den man sonst so neben Sissi, ach was, Romy kannte.

So sitzen sie beieinander, diese beiden leidenschaftlichen Freunde der ausschweifenden Selbstinszenierung, wie ein zweieiiges Zwillingspärchen, das man nach der Geburt getrennt hat. Nur einen Moment distanzieren sich beide von ihren Rollen, Romy Schneider mit drei Worten und Burkhard Driest mit, nun ja, einem Lachen:

Dass Romy Schneider Gefallen an Burkhard Driest findet, macht durchaus Sinn. Er ein Outlaw, sie irgendwie auch. Er eine Art hardboiled-detective, sie die verletzliche Gejagte (die einem hartgesottenen Quickie aber auch nicht abgeneigt wäre). Soviel zur Augenscheinlichkeit. Und dahinter?

Da triumphiert der Unbeherrschte über Moral und Verzicht, da können Jean-Jacques und Emil einpacken, da kann Herr Springer nach Hause gehen.

Denn hinter der Augenscheinlichkeit geht es darum, dass beide, Driest und Schneider, das Ausleben ihrer Leidenschaften als Akt der Befreiung für sich selbst verstehen, indem sie das Individuum, das Ich, in den Vordergrund stellen und den eigenen Körper verwenden, um gegen den Gesellschaftskörper zu rebellieren. Der Körper in bester Foucault’scher Tradition einerseits als Mittel zur Politisierung in Form von Driests Bankraub als eine Abkehr von autoritären Strukturen und der eigenen Anonymisierung innerhalb dieser Strukturen. Und andererseits zur Polarisierung in Form von Schneiders obsessiv-erotischem Körpereinsatz in ihrer Kunst als Verweigerungshaltung an die Erwartungshaltung einer spießigen, doppelmoralischen Gesellschaft.
Skandal!


Anica Richter

Zum Thema:

Aristoteles: Die Nikomachische Ethik
(ēthiká Nikomácheia ). München: dtv 1998. 432 Seiten. 12,00 Euro.

Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung
(Èmile, ou, De l’éducation, 1762). Stuttgart: UTB 1998. 596 Seiten. 13, 90 Euro.

Der Swimmingpool
(La Piscine, 1969). Frankreich/Italien. R: Jacques Deray. B:Jean-Claude Carrière, Jean-Emmanuel Conil. K: Jean-Jacques Tarbès. S: Paul Cayatte. M: Michel Legrand. D: Alain Delon, Romy Schneider, Jane Birkin, Maurice Ronet u.a.
110 Min.