„Ich könnte das Stück jetzt noch zehn Jahre probieren, bis ich ins Irrenhaus komme, da würde ich dann weiter proben“

Über den Theater-Roman „Sein oder Nicht Sein“ von Klaus Pohl
Als Regisseur Peter Zadek 1999 mit „Hamlet“ einen weiteren Triumph nach dem Bochumer Sonnenblumen-Hamlet mit Ulrich Wildgruber von 1977 feiern wollte, hatte er zwar wieder berühmte Schauspieler wie Wildgruber, Hermann Lause, Otto Sander und Klaus Pohl engagiert, doch Wildgruber sollte nun den Hofschranzen Polonius spielen, während Angela Winkler vom Meister als Hamlet auserkoren war. Der Schauspieler, Romancier und Dramatiker Klaus Pohl, Jahrgang 1952, (1984 für sein Stück „Das Alte Land“ als „Dramatiker des Jahres“ ausgezeichnet) spielte Hamlets Freund Horatio und notierte während der Straßburger Proben auf über tausend Seiten, welche Pleiten, Konflikte, komische Pannen und Zerwürfnisse vom autoritären Zampano Zadek und dem gesamten Team zu bewältigen waren. Pohls „Sein oder Nicht Sein“ ist ein umwerfender, anrührender und luzider Roman über Irrungen/Wirrungen vor und hinter den Kulissen geworden. – Von Peter Münder.
Als „unfassbar glücklicher davonfliegender Luftgeist“ hatte Klaus Pohl in einer seiner ersten Rollen in Shakespeares Sturm am Hamburger Schauspielhaus während der Ära Ivan Nagel den Ariel gespielt. Wild hechelnde Wolfshunde führte er an der langen Leine, gemeinsam jagten sie über die Bühne: Das unfassbare Glück dieses Ausnahmezustands bejubelt Pohl aus der Retrospektive noch Jahrzehnte später selbstironisch und mitreißend, um uns hier nachvollziehen zu lassen, warum er sich vor über 20 Jahren auf dieses Theater-Abenteuer einließ. Was konnte ihn in seiner Euphorie schon bremsen? Hatte er damals nicht überirdische Kräfte? O-Ton Pohl: „Ich hatte es mit viel Chuzpe binnen weniger Jahre vom Obst-& Gemüsehändlerlehrling auf Deutschlands größte Sprechbühne geschafft“, so bringt er diese frühe Erfolgs-Etappe auf den Punkt.
Selbst nachdem sich ein Hund losriss und sich in einem Wildgruber-Bein festbeißen wollte, kläffte Pohl – so erinnert er sich im Roman – das Untier mit raubtierartigem Geheul an und stürzte sich dem rasenden Tier entgegen, „das sich immer wieder mit gefletschten Zähnen in Wildgrubers lehmverschmiertes Kostüm verbiss“. Pohl rannte damals auf hohen Stelzen auf der Bühne herum, trug eine Drachenmaske und wirkte wohl wie ein unkontrollierbarer wütender Urvogel, nach dem der Hund zähnefletschend schnappte und erst nach langem Heulen und Wahnsinnsgebell vom heroischen Kämpfer und Tierbändiger Pohl hinter die Kulissen geschleppt werden konnte. Was vom Publikum frenetisch gefeiert und vom Schauspieler-Duo Wildgruber-Pohl später mit etlichen Gläsern Glenfiddich begossen und mit einer feierlichen Blutsbrüderschaft-Zeremonie zementiert wurde.
All diese zwanzig Jahre später wiederbelebten Erinnerungen führten jedenfalls dazu, dass Klaus Pohl nochmal mit Uli Wildgruber Glenfiddich verkosten und mit der berühmten Truppe auf der Bühne stehen wollte. Also machte sich der damals in New York lebende Schauspieler auf den Weg nach Straßburg, wo man vor der Wiener Premiere in einer ehemaligen Kaserne wochenlang proben konnte. Das alles geschah vor über zwanzig Jahren; dass wir jetzt erst dieses wunderbare Buch lesen können, liegt daran, dass die über tausend Seiten der Pohl-Tagebücher die daran schnuppernden Verlags-Lektoren wohl überforderten; erst der große Erfolg des Hörbuchs weckte 2020 das Interesse diverser Verlage, daraus ein Buch zu fabrizieren.
Pohls Riecher für brisante Konstellationen
Entscheidend war jedenfalls, dass der Schauspieler Pohl von Anfang an die hochbrisante Konstellation unter den Schauspielern richtig einschätzte und die Beziehungspunkte zum grübelnden Prinzen und den Intrigen am dänischen Hof erkannte. Denn für etliche Kollegen war nicht nur etwas faul im Staate Dänemark, sondern auch in der Besetzungswillkür, mit der Zadek die Rollen vergeben hatte. Der eh schon kränkelnde und nicht eben athletische Wildgruber war von seiner Apparatschik-Rolle als Polonius total angewidert; er fühlte sich zwar immer noch als Hamlet-Star und baute darauf, während der Turbulenzen in der Proben-Phase doch wieder als Dänen-Prinz eingesetzt zu werden. Aber er wollte keinen weiteren Hamlet neben sich oder über sich dulden, während Angela Winkler diese Hamlet-Rolle am liebsten abgeben und überhaupt von den Proben mit den unsäglich langen, für sie eigentlich nicht zu bewältigenden Textbergen inakzeptabel war. Ihre zwei Fluchtversuche während der Proben verweisen auch auf ihre fast tragische Überforderung: Als Mutter wollte sie auch für die in einer WG vor Ort untergebrachten Kinder da sein, den Regisseur wollte sie mit ihren Textproblemen nicht enttäuschen, die Kollegen mit ihren Zweifeln an der Rolle nicht verprellen.
Aber Zadek erkannte schließlich – nach scharfer Kritik, Vorwürfen und dem Bau eines Souffleusen-Bunkers samt Kopfhörer für Angela Winkler: Nur mit einer solchen skeptischen Aversion könne man sich den richtigen, ambivalenten Blick und Zugang zur Hamlet-Rolle freischaufeln. Was der in den Bergen bei einem Imker wieder eingefangenen Schauspielerin dann auch nach etlichen Irrungen/Wirrungen weiter half.
Zu dumm für die Rolle? Königin Gertrud erstechen
Im Roman beschreibt Pohl mit scharfem analytischen Blick, wie Wildgruber seinen eigenen körperlichen Verfall kritisch-verzweifelt und zutiefst deprimiert beobachtet und zuletzt auch folgert, dass ihm ein baldiges „Nicht Sein“ bevorsteht. Trotzdem verfolgt Wildgruber die hypersensible Angela Winkler mit Schmähungen und Hohn („Du bist zu dumm für diese Rolle!“) oder er simuliert den Königin-Mörder, wenn er laut nach dem „Polonius-Messer“ schreit, mit dem er die von Eva Mattes gespielte Königin Gertrud – eine getreue Zadek-Bewunderin, die Wildgrubers Schwadronieren nicht mehr ertragen kann –erstechen möchte. Ähnlich wie der Shakespeare-Prinz wollte Wildgruber offenbar auch den Verrückten mimen, aus dem niemand mehr schlau wurde.
Bewährungsproben für Krisen-Manager gab es reichlich: Für chaotischen Trubel ausgerechnet zu Beginn der Proben, als das Team volldynamisch loslegen wollte, obwohl der unberechenbare Sponti Zadek die Kasernenwände zuerst Schwarz anstreichen und dann wieder Weiß bemalen ließ, was für tagelange Zwangspausen sorgte. Wildgruber war auch für einen Tag nach Essen entschwunden, wo er beim Gastspiel von „My Fair Lady“ auftrat, was aber irgendwo im Bürokraten-Apparat untergegangen war und Zadek prompt mit einem Wutanfall quittierte. Pohl war während der Proben längst in Angela Winkler verliebt, er erschien morgens immer mit einer frisch beim Blumenhändler ausgewählten Rose für Angela und fütterte seine Chronik der laufenden, stagnierenden und bestürzenden Ereignisse unentwegt: „Er schreibt wie Mozart“, kommentierte Uwe Bohm den überall hinhorchenden, alles beobachtenden Chronisten Pohl.
Mit kritischem Blick kann Pohl auch all die grotesken Situationen erfassen, die den großen Zampano Zadek als kleinkarierten, eitlen und egomanischen Zeremonienmeister entlarven: Das „Entwackeln“ seines kippelnden Regiestuhls treibt ihn immer wieder dann um, wenn er Probleme nicht lösen kann; die Regie will er niederlegen, weil Wildgruber sich zwischendurch bei seinem „My Fair Lady“-Gastspiel als Doolittle in Essen einen lustigen Auftritt gönnt; als „Arschlöcher“ beschimpft er die gesamte Schauspieler-Truppe. Und die an ihrer Hamlet-Rolle zweifelnde, streckenweise auch verzweifelnde selbstkritische Angela Winkler will er mit einer Begeisterungs-Suada aufmuntern, die eigentlich nur das eigene Ego aufpumpt: „Ich könnte das Stück jetzt noch zehn Jahre probieren, bis ich ins Irrenhaus komme, da würde ich dann weiter proben.“ Umso verblüffender, dass trotz all der chaotischen Phasen und und Streitereien dann doch noch eine überwältigende, bejubelte Wiener Premiere zustande kam. Was wohl doch dem Teamgeist und der Ausdauer der Darsteller zu verdanken war, denn in der schwersten Krise, als Angela Winkler von Zadek wüst beschimpft wurde („Das schlimmste Desaster in vierzig Jahren am Theater. Fürchterlich. Unsäglich. Grauenhaft“), wurde sie ausgerechnet vom Hamlet-Rivalen Wildgruber unterstützt, dessen Rat „Weglassen! Nicht gut sein wollen, lausig“ sie tatsächlich eisern umsetzte.
Für einen tragischen Schlusspunkt Ende Dezember 1999 sorgte Ulrich Wildgruber mit seinem Suizid auf Sylt – er verschwand einfach im Meer, war unauffindbar und hatte seinen Exitus so diskret arrangiert, wie er es zuvor in komischen Szenarien und Witzen über lüstern-hungrige Haifische angedeutet hatte.

Was für ein grossartiger Theater-Thriller!
Dass Krisen, Chaos, Komik, Tragik, Erkenntnis und Verzweiflung auf den morschen Bühnenbrettern eng beieinander liegen, ist ja nichts Neues. Doch Klaus Pohls Chronisten-Perspektive lässt uns so direkt eintauchen in diese Theaterhölle, die phasenweise auch zum beglückenden Idyll wird, dass man aus dem Staunen kaum heraus kommt: „Lesen und Jubeln“ dürfte jedenfalls das Fazit für alle Begeisterungsfähigen nach der Lektüre von „Sein oder Nicht Sein“ lauten.
Klaus Pohl: Sein oder Nicht Sein. Galiani Berlin, Berlin 2021. 288 Seiten, 23 Euro.
Ders.: Lesung auf mp3-CD (5h 24 min), Audio-Verlag Berlin.