Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Schatzsuche September ’21: Crime-Neuerscheinungen

Eine Vielzahl Krimi-Neuheiten …

… erscheinen jeden Monat, dazu Graphic Novels (vulgo: Comics) und DVDs und BluRays. Unmöglich, das alles zu überblicken und zu rezensieren. CrimeMag siebt und schürft deshalb für Sie und weist hier regelmäßig mit Hilfe von: Kaliber.38 und der befreundeten Buchhandlungen Chatwins (Berlin), Wendeltreppe (Frankfurt) und Buchladen in der Osterstraße (Hamburg) auf interessante Neuerscheinungen hin. Empfehlungen für DVDs, BluRays und Comics geben Katrin Doerksen und Thomas Groh

Bitte denken Sie daran, dass gerade in diesen Zeiten Ihre lokale Buchhandlung(en) besonderer Unterstützung und Solidarität bedürfen. Lieber dort bestellen als bei amazon. –

Claudia Denker von der Krimiabteilung im Chatwins in Berlin-Schöneberg:

Vielleicht habe ich auch mal Zeit, die ganzen Bücher zu lesen, die ich mir für die September-Schatzsuche ausgesucht habe? Wäre so schön! Weil, dann kommt ja auch schon wieder Oktober.

Bereits begeistert bin ich von Frank Göhre»Die Stadt, das Geld und der Tod« (Culturbooks) – Hamburg, richtig cool, knapp, zackzack geht das alles. Der sehr gute Krimi für zwischendurch.

Weiterlesen werde ich auch »Die Tote mit der roten Strähne« von Kathleen Kent (Ü. Andrea O’Brien, Suhrkamp). Betty Rhyzyk, eine wilde lesbische Ermittlerin, gegen mexikanische Drogendealer. 

Ebenfalls bei Suhrkamp, und da freue ich mich sehr drauf: »Doom Creek« von Alan Carter (Ü: Karen Witthun). Es geht mal wieder nach Neuseeland, Nick Chester mochte ich schon im »Marlborough Man«. Dieses Mal geht’s gegen ultrareiche rechte Amerikaner, die ein Reich für Arier etablieren wollen – iiiiiih … und wo wir gerade dabei sind (Suhrkamp), bin sehr gespannt auf das neue Buch von Andreas Pflüger: »Ritchie Girl«

Auf meinem Stapel liegt noch ein neuer Titel von Dinah Marte Golch: »Die andere Tochter« (List). Ihr Debüt »Wo die Angst ist« gefiel mir damals gut, mal schauen …

Und dann ist da noch »Sarah Jane« (Ü: Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger), die den als vermisst gemeldeten Sheriff vertreten muss. Der Titel ist von James Sallis, erschienen bei Liebeskind und möchte von mir gelesen werden. Noch dringender aber: Colin Niel: »Unter Raubtieren« (Lenos). Auf dieses Buch warte ich sehnsüchtig. 

Und hier meine Nicht-Krimi-Abteilung, ich bitte um Entschuldigung: Ich weiß, überall steht was über Heinz Strunk»Es ist immer so schön mit dir« (Rowohlt). Mal so, mal so. Ich empfehle: einfach mal selber lesen. Herrlich. Ebenso wie jedes Buch von Sven Regener! Hier »Glitterschnitter« (Galiani).

Ach, und dann kann man herrlich blättern in den Briefen von Peter Hacks an Hansgeorg Michaelis (1944-1998), bei Eulenspiegel erschienen, mit dem schönsten Titel: »Woher kommt die viele Dummheit auf die Welt?« 

 

Jutta Wilkesmann, Wendeltreppe, Frankfurt:

Hier unsere Tipps:

Jesper Lund: Schwedensommer (Emons)

Hans-Ulrich Jörges: Stille Invasion (be.bra)

Manfred Schneider: Die Katze schleicht (Transit)

Philipp Gurt: Der Puppenmacher (Kampa)

Constanze Scheib: Der Würger von Hietzing (Oktopus)

Torsten Meinicke, Buchladen in der Osterstraße, Hamburg

Hier kommt die Ausbeute meiner Schatzgrabungen für September:
– Ken Bruen, Saubermann (Ü: Karen Witthuhn), Polar 2021, 224. S., 14 Euro: Ein sehr erfreuliches Wiedersehen mit den veritablen Drecksäcken Roberts und Brant! London als Dschungel mit wilden Teren drin. Und Brant ist ihr Dompteur. Klein, schwarz, rasant und lustig.

 James Lee Burke, Keine Ruhe in Montana (Ü: Bernd Gockel), Pendragon 2021, 571 S., 24 Euro: Der 17. Band der Dave-Robicheaux-Reihe spielt ausnahmsweise mal in Montana. Aus gutem Grund, denn der Mafioso Sally Dio scheint noch zu leben.

– Uwe Carstens & Harald Stutte, Der Kleine von Dakota-Uwe. Meine Kindheit auf St. Pauli, Rowohlt 2021, 222 S., 15 Euro: Literarisch ganz sicher nicht aus der obersten Schublade, gleichwohl eine unterhaltsame Zeitreise ins St. Pauli der 1970er-Jahre mit großartigen Fotos. Ein Kiez-König, Ganoven, Luden. Und der kleine Uwe „Charly“ Carstens mittendrin.

– Ian McGuire, Der Abstinent (Ü: Jan Schönherr), DTV 2021, 334 S., 23 Euro: Manchester 1867. James O’Connor ermittelt gegen irische Untergrundkämpfer. Der Spitzel hinrichtende Bürgerkriegsveteran Stephen Doyle wird sein Gegenspieler. Der Manchester-Kapitalismus ist hart, grau und gewalttätig.

– James Sallis, Sarah Jane (Ü: Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger), Liebeskind 2021, 218 S., 20 Euro: „Ich heiße Pretty, aber ich bin nicht hübsch. War ich nie, werd ich nie.“ Solche Romananfänge kann nur Sallis. Und wie immer ist es bewährt gut übersetzt.

– Michael Smith, Der stille Held. Tom Crean – Überlebender der Antarktis (Ü: Rudolf Mast), mareverlag 2021, 463 S., 26 Euro: Klar, dies ist kein Krimi, nicht einmal im weiteren Sinn. Aber trotzdem spannend ohne Ende. Scott, Amundsen und Shackleton kennen alle. Nach der Lektüre dieses Buches aber auch den irischen Bauernsohn Tom Crean. Samt britischer Klassenschranken im ewigen Eis.

Comic/Heimkino – von Katrin Doerksen und Thomas Groh

Autoroute du soleil von Baru
Reprodukt, Taschenbuch, Schwarzweiß, 432 Seiten, bestellbar

Taschenbuchausgabe des Comic-Klassikers zum 30-jährigen Bestehen von Reprodukt: Karim und Alexandre rasen auf der Flucht vor rechten Schlägertypen quer durch Frankreich. Ein französisches Gesellschaftsporträt mit der Geschwindigkeit eines Manga.

Burma von Léo Malet und Jacques Tardi
Edition Moderne, Hardcover, Schwarzweiß, 408 Seiten, bestellbar

Gesamtausgabe der tuscheschwarzen Nestor-Burma-Comicreihe. Comickünstler Frank Schmolke über Jacques Tardi: „Die Kunst, eine komplexe Krimihandlung von 200 bis 500 Seiten in ein stimmiges Comicalbum von 80 bis 160 Seiten zu packen, ist ein weiteres Talent unter den vielen Skills, die Tardi so hat. Und nebenbei lässig Kette rauchen.“

Werner Herzog: Das Dämmern der Welt
Roman, Hanser Literaturverlag, 126 Seiten, 19 Euro

Onoda Hirō ist in Japan Legende, bei uns eine mythenumrankte Anekdote. 30 Jahre verschanzte sich der japanische Soldat auf einer Insel, seinen Befehlen treu ergeben: Dieses Eiland wird nicht aufgegeben. Er überlebte den Dschungel, bestahl und terrorisierte die Landbevölkerung. Versuche, ihn davon zu überzeugen, dass der Krieg längst vorbei ist, schlug er als Täuschungslist des Feindes in den Wind. Kurz: ein Stoff, wie gemacht für Kinotitan Werner Herzog, der in seinem filmischen Werk die existenzielle Herausforderung des Dschungels immer wieder als Ausgangspunkt für mythopoetische Ekstasen genommen hat. In den 90ern lernte Herzog Onoda kennen – Seelenverwandte. Mit „Das Dämmern der Welt“, geschrieben während des Lockdowns, setzt er ihm ein düster-dräuendes Denkmal in Buchstabenform: Nicht Psychologie, nicht Politik – sondern das entgrenzte menschliche Sein in einer Ausnahmesituation interessieren Herzog in dieser (paradox schnell zu lesenden) Meditation über die Zeit, die nicht vergeht, um dann doch binnen eines Schmetterlingsflügelschlags ins Rasen zu verfallen.

Der Spalt von Anke Feuchtenberger
Reprodukt, geheftet, Schwarzweiß, 36 Seiten, bestellbar

Der neue Comic von Anke Feuchtenberger ist vielmehr ein streng limitierter grafischer Essay in Form eines Briefs, dessen großformatige Kohlezeichnungen im Lockdown entstanden sind und sich mit dem Raum dazwischen auseinandersetzen.

Andreas Ammer, Micha Acher, Markus Acher, Cico Beck: Ich Mensch zu fliegen such – Gustav Mesmer, der Ikarus vom Lautertal
Hörspiel, BR, 44 Minuten, hier online

Ach, und von wegen Werner Herzog: Dass der baiuwarische Kino-Advokat der Außenseiter sich der Lebensgeschichte von Gustav Mesmer noch nicht angenommen hat, ist sehr verwunderlich. Mesmer war ein Sonderling, lebte im Gebiet zwischen den Alpen und der Schwäbischen Alb. Er überlebte nur knapp die Nazis, verbrachte viele Jahre in der Psychiatrie und widmete sich in der Zeit, die er nicht weggesperrt war, der Konstruktion waghalsiger Flugmaschinen und sonderbarer Instrumente. Dass er den Boden je verlassen hätte, ist nicht überliefert. Nachdem Micha Acher (von The Notwist und Co.) gemeinsam mit Maxi Pongratz (von Kofelgschroa) Mesmer vor kurzem schon ein musikalisches Denkmal gesetzt haben, stößt hier nun noch Hörspiel-Auteur Andreas Ammer und Notwist-Kollege und Bruder Markus Acher hinzu und zaubern ein hypnotisches, um viele Originaltöne angereichertes Hörstück über einen, dessen Berg- und Flug-Ekstasen ihn immer wieder zum Scheitern, aber nie zum Aufgeben verleiten. Eine echte Herzog-Figur eben.

JoJo’s Bizarre Adventure – Part One: Phantom Blood von Hirohiko Araki
Cross Cult, Softcover, Schwarzweiß, 322 Seiten, bestellbar

Auftakt der erfolgreichen Mangareihe, die zwischen 1987 und 2004 im Magazin Weekly Shonen Jump erschien. Im Kern die Geschichte eines Bruderzwist im England des späten 19. Jahrhunderts, weitet sich die Story später in abgefahrene Paralleluniversen aus; das Artwork spielt auf westliche Popmusik und Mode an. 

Tijan Sila: Krach
Roman, Kiepenheuer & Wietsch, 271 Seiten, 20 Euro

1998. Rheinland-Pfalz. Punk, Hardcore, Subkultur. Schlägereien. Mit Rave-Hools und Ossi-Nazis. Und ganz besonders mit dem Proll aus dem Dorf. Bald Abiturprüfung. Aber die Band, erste Konzerte und die erste Liebe (wie immer: die erste enttäuscht, aber die zweite isses) sind wichtiger. Das – und blaue Augen, gespaltene Lippen und notoperierte Schädel – ist der existenzielle Stoff, aus dem Sabahudins Alltag besteht. Die einen nennen Sabahudin Budo, die anderen Gansi. Wie Tijan Sila, der Autor dieses Romans, kommt Sabahudin aus Bosnien, geflohen vor Krieg und Massaker. Befindlichkeitsliteratur für weiße Grünenwähler bietet dieser lebenssatte Schnappschuss eines ganz spezifischen Lebensgefühls aber auf ganzer Linie nicht – und auch keine nostalgische „those were the days“-Sehnsüchte. Aber wer einmal im Leben mit blutender Nase aus dem Pogo kam, vor Hools geflohen ist und an der Mittelfinger-Energie geschmeckt hat, die Punk einem mit auf den Weg gibt, wird diesen Roman lieben (und es vielleicht irgendwie auch ganz okay finden, dass man heute ein anderer ist).

Ralf Bei der Kellen: Too Old to Die Young
Radiofeature, ca. 50 Minuten, Dlf Kultur 2021, hier online

Ach, und von wegen Punk: Der ist ja bekanntlich deutlich älter als Kids aus den 90ern. Ralf Bei der Kellern hat in Berlin-Friedrichshain zwei Urgesteine der Szene ausfindig gemacht. Anders als viele andere der ersten und zweiten Welle deutscher Punks haben sie nicht den Kulturbetrieb geentert, sondern leben (wenn auch etwas modifiziert) bis heute ihren Lebensentwurf, der mit 60 und allem was dazugehört (kaputte Lunge, Diabetes) ganz neue Herausforderungen mit sich bringt. „Verschwende Deine Jugend“ hieß damals Jürgen Teipels Doku-Roman, der um die Jahrtausendwende die Stunde Null der hiesigen Punkszene wieder in die Aufmerksamkeit geholt hat. Doch anders als dieses Buch (und seine Folgeerscheinungen wie Re-Issus, Re-Unions, Ausstellungen, Dokus und Features) ist dieses intime Radiofeature weniger ein Hymnus auf geschlagene Schlachten und erreichte Ziele – sondern ein ganz persönliches, an Lebenserfahrung pralles Dokument eines spöttisch-augenzwinkernden Lebensentwurfs als Außenseiter. Und am Rande: Einer der beiden Punks, Joost Renders, schreibt übrigens Krimis.

Vogelschiss. Die Graphic Novel gegen Rechts von Frauke Bahle und Julian Waldvogel
Guano Project Verlag, gebunden, 128 Seiten, bestellbar

Kreativer Widerstand gegen die AfD und Konsorten, von einem fünfköpfigen Team aus den Bereichen Text, Marketing und Grafik in Comicform gebracht. Mehr als 100 Originalzitate von Politikern und Anhängern treffen hier auf frankobelgisch inspirierten Zeichenstil und bilden eine bemerkenswerte Form von Realsatire. 

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