Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

Sabine Rollberg: Die Filme der Nina Gladitz

Nina Gladitz © Wiki-Commons

Nina Gladitz (1946 – 2021) verdient schon lange ein Porträt. Wir freuen uns, mit Sabine Rollberg die vermutlich beste Autorin dafür gefunden zu haben. Sie ist Mitinitiatorin des Symposiums „Allein gegen Leni Riefenstahl – Die Filmemacherin Nina Gladitz und ihr Kampf gegen die Naziregisseurin“ jetzt am 26.4.2020 im Medienzentrum der Universitätsbibliothek Freiburg in Kooperation mit dem Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg. Dabei wird der vom WDR seit 1982 unter Verschluss gehaltene Film von Nina Gladitz zum ersten Mal wieder der Öffentlichlichkeit präsentiert werden. Unser Autor Gerhard Beckmann hatte genau das im September 2021 in einem Offenen Brief an den WDR-Intendanten Tom Buhrow gefordert. Ebenfalls bei dem Syposium in Freiburg dabei ist Prof. Dr. Albrecht Götz von Olenhusen, der Anwalt von Nina Gladitz damals beim Prozess Riefenstahl gegen Gladitz, der am 20.11. 1984 in Freiburg begann.
Anmeldung zum Symposium unter: veranstaltung.gladitz@ub.uni-freiburg.de

Nina Gladitz mit ihrem Bruder Peter Krieg (rechts)

Tom Buhrow bekommt viel Post, daran ist nichts Ungewöhnliches. Dass die Intendanz des WDR jedoch seit 40 Jahren zu ein und demselben Thema immer wieder Briefe bekommt, ist erwähnenswert. Es geht bei diesen Schreiben um einen Dokumentarfilm, der seit 1982 mit einem Sperrvermerk im Archiv des WDR liegt, da er nicht mehr gezeigt werden darf. An diesem Film sind aber seit vielen Jahren Wissenschaftler*innen,  Kurator*innen von Ausstellungen und vor allem Sinti und Roma Gemeinden in Deutschland interessiert. 

„Zeit des Schweigens und der Dunkelheit

In diesem inkriminierten Beitrag begibt sich Josef Reinhardt aus der legendären Musikerfamilie auf Spurensuche nach seiner Kindheit in der Nazizeit, von denen er sechs Jahre in einem Internierungslager in Österreich verbringen musste.  Er war 1942 mit zwölf Jahren zusammen mit seiner Familie und vielen weiteren Sinti als Statist für einen Spielfilm eingesetzt worden. Die bis heute für die Öffentlichkeit unzugängliche Reportage begleitet ihn zu den damaligen Drehorten für jenen Spielfilm und er berichtet, dass die Sinti während der Filmarbeiten wie Tiere in Ställen untergebracht gewesen seien und dass sie keinerlei Entlohnung für die vielen Stunden des Drehs bekommen hätten. Aber die Regisseurin hätte ihnen immer wieder versprochen, sich nach den Dreharbeiten beim Führer dafür zu verwenden, dass „ihre“ Zigeuner nicht nach Ausschwitz abtransportiert würden. Die Regisseurin durften sie damals „Tante Leni“ nennen.

Der Dokumentarfilm „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerung an das, was den Sinti und Roma in der Nazizeit angetan wurde. Die Angaben über die Zahl der Menschen mit tsiganem Hintergrund, die in den NS Vernichtungslagern umgekommen sind, schwanken zwischen 230.000 und 500.000. Über diese Opfer wird bis heute noch immer wenig gesprochen. Umso wertvoller ist ein Dokument, das dies – eindrucksvoll und persönlich – belegt.

Der WDR könnte stolz darauf sein, dass er sich bereits Anfang der 80er Jahre dieses Themas angenommen hatte.

Der Vorschlag für eine Reportage über die Hintergründe der Dreharbeiten von Leni Riefenstahls Spielfilm „Tiefland“ war von der Dokumentarfilm-Regisseurin Nina Gladitz gekommen. Die Absolventin der Münchner Filmschule hatte sich bereits einen Namen mit ersten Filmerfolgen gemacht. Darin ging es um den geplanten Bau des Kernkraftwerks in Wyhl, am Kaiserstuhl, „Lieber heute aktiv, als morgen radioaktiv“ oder den Kampf der Aborigines in Australien gegen Uranabbau, “Das Uran gehört der Regenbogenschlange“.

Der Auslands- und spätere Kulturchef des WDR, Dr. Hansjürgen Rosenbauer, war auf die mutige und engagierte Filmemacherin aufmerksam geworden und beauftragte die damals 35-Jährige, sich mit Josef Reinhardt auf die Reise nach Salzburg zu begeben, wo das Sammellager für die Sinti und Roma gewesen war.

Der WDR muss sich bewusst gewesen sein, dass ein Film, der sich mit der Naziregisseurin befasste, Probleme machen könnte. 1976 hatte Rosenbauer, der auch die Talkshow „Je später der Abend“ moderierte, die Filmdiva zu Gast gehabt. In dieser Sendung behauptete Riefenstahl, dass ihre Filme „rein dokumentarisch und keinesfalls politisch“ seien, und während eines musikalischen Intermezzos, als die Kameras nicht auf sie gerichtet waren, bedrohte sie physisch die ebenfalls geladene Widerstandskämpferin Elfriede Kretschmer aus der Hamburger Arbeiterbewegung. Leni Riefenstahl überzog jeden, der es wagte, ihre Nähe zu Hitler zu thematisieren mit juristischen Geschossen. So bewahrte sie im Nachkriegsdeutschland ihren Ruf als Ästhetin und mutige Filmemacherin. Die Welt von Andy Warhol bis zu Alice Schwarzer lag ihr zu Füßen. Man bewunderte ihre dramatische Filmsprache und dass sie sich als Frau in einer Männerdomäne durchgesetzt habe.

Nina Gladitz unternahm nicht wirklich den Versuch, die Riefenstahl zu einem Interview für ihren Film zu bitten. Nina Gladitz war sich sicher, dass ihr Projekt dann wegen einer einstweiligen Verfügung nie realisiert werden würde.

1981 filmte Gladitz einen Auftritt der Riefenstahl bei einer Veranstaltung der Badischen Zeitung im prall gefüllten Audimax der Freiburger Universität, wo die Regisseurin auf einer Buchtour ihre Fotografien der Nuba präsentierte. Das bildungsbürgerliche Publikum lag der damals 80-Jährigen mit glänzenden Augen zu Füßen. Leni Riefenstahl wirkt auf den von Gladitz gedrehten Bildern fragil und unsicher. Vielleicht interpretiere ich das, denn ich weiß nicht, ob sie den deutlich für die Kamera im Publikum platzierten Josef Reinhardt auch gesehen hat. Er stellt sich bei der Autogrammstunde – in der ein stolzer Herr seinen Band mit Stills aus Riefenstahls „Olympia“-Film in die Kamera hält – deutlich neben seine frühere „Tante Leni“, spricht aber nicht mit ihr.

Nach der Ausstrahlung des Films “Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“, 1982, verfolgte Leni Riefenstahl Nina Gladitz erst mit Strafantrag und dann folgender Zivilklage beim Landgericht Freiburg.

Zweieinhalb Jahre später, am 20.11.1984, kam es zum Prozess in Freiburg. Wohlgemerkt, Riefenstahl verklagte die Filmemacherin und nicht den Sender. Erst in der zweiten Instanz vor dem Oberlandesgericht in Karlsruhe bekam Leni Reifenstahl allerdings nur in einem einzigen Punkt Recht. Der Richter sah nicht als erwiesen an, dass die Hitlervertraute den Statisten versprochen habe, sie vor der Vernichtung in den Gaskammern zu retten, obwohl ein Zeuge im Prozess genau dies bestätigte. Aber diesem Auschwitz-Überlebenden Sinto schenkte das Gericht mit der Begründung, dass er selbst kein Komparse war und alles nur von anderen gehört hatte, weniger Glauben als Frau Riefenstahl. In allen anderen Anklagepunkten obsiegte Nina Gladitz, eben auch vor dem Oberlandesgericht.

In Bezug auf den WDR nutzte ihr das nichts. Denn ihr Film verschwand im Giftschrank des Senders. Sie hätte gerne ihren Film an weitere Sender in anderen Ländern verkauft, eine übliche Einnahmequelle für Filmschaffende. Sie hätte dafür, um weitere Rechtstreitigkeiten mit Leni Riefenstahl zu vermeiden, die eine Szene, in der die Familie Reinhardt sagt, dass „Tante Leni“ die Rettung vor Auschwitz versprochen habe, herausschneiden müssen. Aber all ihre Versuche, das Originalmaterial vom WDR zu bekommen, wurden abgewiesen. 

Da sich Nina Gladitz bis zu Ihrem Tod mit Leni Riefenstahl befasste – siehe auch die Besprechung ihres Buches „Karriere einer Täterin“ von Gerhard Beckmann bei uns auf CulturMag –, könnte der Eindruck entstehen, dass das Motiv für ihren Film war, den Mythos der weltbekannten Regisseurin zu brechen. Ihr ging es aber auch um die Sinti und Roma. Mit der Recherche wollte sie bewirken, dass sie zu einer angemessenen Entschädigung kommen. Das Verhalten der Riefenstahl rund um den Prozess veranlasste Nina Gladitz jedoch dann viel später, weiter über sie zu recherchieren. 

Weil wir beide, also Nina Gladitz und ich, aus Süddeutschland stammen, wurde die freie Mitarbeiterin Gladitz, als sie den Film Anfang der achtziger Jahre realisierte, vorübergehend in mein Büro im WDR einquartiert, da wir uns ja auf badisch gut verständigen könnten. Ich war damals Redakteurin beim Weltspiegel und dem Kulturweltspiegel und bekam hautnah mit, wie Nina um ihren Film kämpfte und welche Enttäuschungen sie einstecken musste. Seitdem waren wir immer in Kontakt, haben in den Jahren etliche lange Telefonate geführt und vieles in diesem Artikel basiert auf diesen Gesprächen. In meiner Beobachtung hat sie der Kampf um ihren Film seelisch und später körperlich gebrochen. Nach dem Prozess bekam sie kaum noch Aufträge. So brach – viel zu früh – die vielversprechende Karriere einer begabten, engagierten Filmemacherin ein, die sowohl bei ihren Themen als auch in ihrer Filmsprache erstaunlich modern wirkt und heutigen Ansprüchen dokumentarischen Arbeitens faszinierend entspricht. Sie war in vielem ihrer Zeit voraus.

Dies möchte ich im Folgenden begründen, beginnend mit dem Film „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“.

Die Regisseurin Nina Gladitz tritt in ihren Filmen nicht wie die allwissende große Reporterin auf. Sie macht ihren Protagonisten, den Sinto Josef Reinhardt quasi zum Co- Autor.  Zuschauer*innen gewinnen den Eindruck, seine Recherche kennenzulernen, also die Perspektive eines Sinto. Nina Gladitz gibt den sonst meist ungehörten Minderheiten eine eigene Stimme. Es dürfte jedem empathischen Zuschauer unter die Haut gehen, wenn Josef Reinhart im Film zu einem Zeitzeugen von früher auf dem Gelände des Lagers sagt, „Ich war auch da, aber nicht als Beamter, sondern als Inhaftierter“. Ein durchgehendes Merkmal ihrer Filmarbeit ist es, Anwältin für Minderheiten, verfolgte Gruppen und ungehörte Stimmen zu sein. Dabei nahm sie sich selbst in ihren Filmen sehr zurück. Ein roter Faden ihrer Themen sind Menschenrechte, soziale, kulturelle und ökonomische Auswirkungen der Globalisierung. Auch die Rolle und Aufgabe von Künstlern*innen in unserer Gesellschaft thematisiert sie immer wieder sowie deren politische Haltung. Oft beginnen Ihre Filme mit einem literarischen Zitat. Bei Zeit des Schweigens und der Dunkelheit ist es ein Text von Carl Zuckmayer aus dem Jahr 1943:

„Mehr als anderswo in der Welt war in Deutschland die Auffassung daheim, daß der Künstler eine geringere gesellschaftliche Verantwortung trage als andere Menschen, ja daß er sozusagen außerhalb der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung ein Eigenleben führe, dessen Boden und Firmament eben die überzeitliche Welt der Künste sein, die Ewigkeit, das Universum, ein Traumreich, das nicht einmal einer religiösen Autorität, nur der vom Künstler selbst erfühlten Gottheit unterstehe. 

Tatsache ist, daß eine ganze Reihe der zu behandelnden Personen auf dem Standpunkt standen, und vielleicht noch stehen, die ganze Schweinerei ginge sie im Grunde nichts an. Sie seien dazu da, ihre Kunst zu machen, und es käme nur darauf an, daß die Kunst gedeihe und weiterlebe – ganz gleich unter welchen äußeren Umständen und unter welchen Bedingungen der Umwelt.“

Langsam wandern die Buchstaben über den schwarzen Hintergrund. Jeder hat genügend Zeit, den Text zu erfassen. Diese Länge würde heute keine Redaktion mehr dulden.

Mit dem Zitat zu Beginn ist das Leitmotiv für den Film gesetzt. Nina Gladitz führt die Kamera selbst, so ist das Team klein und unauffällig, verändert die Realität nicht zusätzlich. Von der Position hinter dem Objektiv wirft sie gelegentlich Fragen ein, um etwas zuzuspitzen oder zu verdeutlichen: „Warum sind Künstler lieber ins Exil als in die Knie gegangen? Die Künstler, die geblieben sind, haben dazu beigetragen, dass der Nationalsozialismus annehmbar wurde.“

Sie will in ihren Filmtexten, den Eindruck eines Allwissenden vermeiden, ihre Beobachtungen oder Fragen sind Teil der Handlung und setzen sich dieser aus. Ihre Filmtexte sind oft Zitate oder eigene pointierte, bewusst subjektive Kommentare. Sie ist nicht die distanzierte Journalistin, sie ist Filmemacherin mit Haltung, aber offen und sensibel für das Geschehen. Sie bleibt in ihren Filmen eine Suchende.

Weitgehend verzichtet sie auf Musik, es sei denn, es wird in der gedrehten Szene musiziert.

Die Tonebene ist im Vergleich zu heutigem auch beim Dokumentarfilm elaboriertem Soundmix extrem mager. Sie hat keine Angst vor Stille oder einem schwarzen Bild, wenn sie es inhaltlich für erforderlich hält. Auch den Schnitt besorgt sie selbst, gerne schafft sie Gegensätze, Gegenüberstellungen durch Montage, um etwas deutlich zu machen. So schneidet sie ein Foto von Leni Riefenstahl zusammen mit Hitler mehrfach gegen ein Bild, auf dem Leni Riefenstahl in Panik aufgelöst angesichts von Gräueltaten, die sie beim Kriegsausbruch in Polen miterleben musste, zu sehen ist. Darunter legt Gladitz auf der Tonebene einen Ausschnitt aus einem anbiedernden Brief der Riefenstahl an Hitler, anlässlich dessen Eroberung von Paris, eine Hymne über dessen Stärke und Willen zur Macht. Oder auf Bildern, in denen Leni Riefenstahl vor ihren Fans in Freiburg kokettiert, legt sie ein Zitat von Max Frisch auf die Tonspur, nimmt der Riefenstahl so die Stimme: „Was hat Kunst zu tun mit Politik, und unter Politik versteht man das niedrige, wovon sich der Kulturträger nicht beschmutzen lassen wolle, das eigentliche Entsetzen hat uns noch nicht erreicht.“ Nina Gladitz will beim Zuschauer etwas bewirken, das versteckt sie nicht und sie setzt dazu bewusst ihre filmischen Mittel ein. Sie lässt die Riefenstahl nicht zu Wort kommen. Sie kontrastiert ihr Bild mit Literatur. Der Film endet abrupt. Das verstörende Gefühl, der Schmerz des von der Riefenstahl offenbar absichtlich übersehenen Zuhörers ihres Vortrags, nämlich von Josef Reinhart, erreicht so den Betrachter von Gladitz´ Film. 

Nina Gladitzs großes filmisches Vorbild war Joris Ivens, der niederländische Dokumentarfilmer, der im spanischen Bürgerkrieg und bei vielen Konflikten um Unabhängigkeit in Asien und Osteuropa gedreht hat. Er war der Lehrmeister einer ganzen Generation von Dokumentarfilmern.

Land der Bitterkeit und des Stolzes

Im gleichen Jahr als sie „Die Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ drehte, befasste sich Nina Gladitz mit einer anderen Ikone des deutschen Films, mit Werner Herzog. Er hatte 1971 einen Dokumentarfilm, „Land des Schweigens und der Dunkelheit“ gedreht. Dabei ging es um taubblinde Menschen. Auch in dieser Arbeit ist Gladitz´ Motiv vorrangig nicht, den vielfach preisgekrönten Regisseur zu denunzieren.  Das ergibt sich erst später. Ihr war ein Schreiben von Indigenen aus Peru an die Zeitschrift „Pogrom“ in die Hände, gefallen, worin diese sich über das aggressive Verhalten von Herzog und seiner Produktionsfirma bei den Dreharbeiten für „Fitzcarraldo“ deutlich beklagt hatten. Für diesen Film mit Klaus Kinski hatte Herzog 1982 die Goldene Palme in Cannes bekommen. Bei den Vorbereitungen zum Dreh soll es zu Gewalt gegenüber dem Stamm der Aguaruna gekommen sein. Weil dieser sich gewehrt hatte, die Filmemacher in ihrer Gemeinschaft aufzunehmen und zu unterstützen, habe Herzog sich mit Hilfe der peruanischen Militärregierung an den Indigenen gerächt und dann den Film an anderer Stelle gedreht.

Nina Gladitz nennt ihren Film “Land der Bitterkeit und des Stolzes“ und eröffnet ihn mit einem Zitat des französischen Regisseurs Jean Renoir: „Eine Kunst, die um ihretwillen in das Leben eingreift, ist obszön.“

Sie erteilt mit ihrer Herangehensweise Herzog indirekt eine Lektion, wie ein respektvolles Miteinander bei Dreharbeiten gestaltet werden kann. Bildliche Klammern des Films zu Beginn und am Ende sind Einstellungen von unendlichen Kreisen im Wasser.

Dann sehen wir in einer von Gladitz gezeichneten Bildergeschichte, wie sie mit ihren indigenen Protagonist*innen den Dreh aushandelt. Die Aguaruna stimmen auf Basis dieser Skizzen in einer Vollversammlung darüber ab, ob sie beim Projekt mitmachen, ob sie Gladitz also ihre Einwilligung für den Dreh geben. Sie entscheiden sich dafür, ein Vertrag des gegenseitigen Vertrauens wird aufgesetzt. Sie wollen ihre Auseinandersetzungen mit Herzog unbedingt selbst darstellen und spielen Szenen aus der Erinnerung nach. Es entsteht der Eindruck, sie selbst führten die Regie. Als Filmgenre ähnelt das dem Dokudrama. Ein Meister dieser dokumentarischen Form war Hanno Brühl, der Vater des Schauspielers Daniel Brühl, der damals für den WDR viele Dokudramen drehte. Darin spielten die Protagonisten erlebte Ereignisse nochmal für die Kamera nach.

Im Film von Nina Gladitz montiert sie ein Zitat von Herzog auf Bilder, die zeigen, wie sich die Indigenen selbst organisieren: „Es kommt darauf an, was man auf der Leinwand sieht“. Nina Gladitz unterstellt Herzog, dass es ihm egal ist, wie er an die von ihm gewünschten Bilder kommt, er sei auch bereit für eine gelungene Szene über Leichen zu gehen. Auch in diesem Fall macht Nina Gladitz nicht den Versuch, Herzog selbst zu den Vorwürfen zu befragen. 

Es herrscht ihrer Ansicht nach eine weltweite Jagd nach immer exotischeren Bildern. Die Filmemacher*innen stünden in harter Konkurrenz, wer die spektakulärsten Einstellungen nach Hause bringt. Nina Gladitz vergleicht ihre Kolleg*innen mit den Goldsuchern früherer Jahrhunderte, sie seien genauso gierig und skrupellos. Sie selbst nimmt nur die Bilder, die ihr von den Indigenen angeboten werden und räumt sich im Film die Zeit ein, jede einzelne ihrer Protagonist*in respektvoll vorzustellen. Es wäre ihr zuwider, sie nur als Statist*innen  zu behandeln. Jede/r Gefilmte hat eine Stimme und das Recht, sein Bild zu verweigern.

Sie strukturiert den Film wie ein Tagebuch, so dass die Zuschauer*innen  der zeitlichen Entwicklung gut folgen können. In ihren Filmtexten lässt sie ihr bei der Recherche und beim Dreh gesammeltes Wissen über Medizin, Bildung, nachhaltige Landwirtschaft, Ernährung, Rolle der Frauen, Sprache, Sozialverhalten, Religion und Kultur der Aguarana einfließen. Das hohe Niveau des gesellschaftlich eigenverantwortlichen Lebens der sogenannten Ureinwohner unter Beweis zu stellen, ist ihr ein großes Anliegen.

Auf einem Kanu, mit dem die Aguaruna in die Schlacht gegen Werner Herzog und seine Crew ziehen, steht „Venceremos“, zu deutsch: wir werden siegen.

Das Fitzcarraldo Team wechselte nach der ergebnislosen Auseinandersetzung mit den Aguaruna den Drehort, bekam den Schutz des Militärs. Nina Gladitz berichtet, dass bei diesen Dreharbeiten fünf Indigene gestorben seien.

Meines Wissens ist Werner Herzog nicht juristisch gegen den Gladitz-Film vorgegangen. Als Redakteurin seines Films über Klaus Kinski, „Mein liebster Feind“, habe ich ihn mehrfach dazu befragt, im Schneideraum und 1999 in Cannes, wo auch dieser Herzog-Film Premiere hatte. Nina Gladitz ging es damals schon schlecht, sie hatte schon lange keine Aufträge mehr bekommen und lebte von der Hand in den Mund, insofern hatte ich den Eindruck, dass sie für Herzog uninteressant war, keine Gegnerin. Er antwortete sehr einsilbig, ich empfand es als herablassend, wie er auf meine ihn offenbar störende Fragen reagierte.

Aber Nina Gladitz hatte auch Erfolg, so tourte sie mit ihrem Film zu Herzogs Dreharbeiten an Universitäten in Deutschland und erfuhr dabei große Resonanz.  Ich erinnere mich an eine völlig überfüllte Vorführung an der Freiburger Uni. 

Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv

Nina Gladitz gehörte zu den sehr frühen Filmemacher*innen, die in den Siebziger Jahren der Anti-Atomkraft Bewegung eine Stimme gaben. In verwackelten schwarz-weiß Bildern eisensteinscher Manier zeigte sie die Bauern, Winzer und Fischer, die sich am nördlichen Rand des Kaiserstuhls zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam Physik zu büffeln und mit Brechtgedichten auf den Lippen gegen die nukleare Energieplanung des Landes Baden-Württemberg zu kämpfen. Nina Gladitz wird zu ihrem Sprachrohr.

Die gerade diplomierte Absolventin der Münchner Filmschule hatte Mitte der Siebziger Jahre noch etwas Geld von ihrem Abschlussfilm übrig und drehte erst mit einem angeheuerten Kameramann. Als ihr klar wurde, dass sie das finanziell nicht stemmen konnte, drehte sie selbst anderthalb Jahre auf dem besetzten Bauplatz und zahlte mit vielen technischen Fehlern einiges Lehrgeld. Sie hatte Regie, nicht Kamera oder Schnitt studiert. So wie die Bauern sich in der Schule im Wyhler Wald zu Kernkraftexperten bildeten, vervollständigte die Filmemacherin ihr praktisches filmisches Know-how.

Premiere in Hiroshima

Nina Gladitz drehte 1985 einen Film über einen US-Fotografen, der in Hiroshima 1946 nach dem Abwurf der ersten Atombombe mit 140.000 Toten erschütternde Fotos im Auftrag der Regierung in Washington gemacht hatte.  Herbert Sussan und seine Bilder über die Schatten von während der atomaren Bombenexplosion verglühten Menschen an Hauswänden waren inzwischen vergessen worden, denn das US -Militär hatte seine Bilder als „classified information“ unter Verschluss gesetzt. Nina Gladitz bewahrt mit ihrem Film „Premiere in Hiroshima“ die Erinnerung an diesen Zeitzeugen des atomaren Grauens. 

Ein japanischer Reporter hatte ihn 1979 aufgestöbert und einen Beitrag über ihn veröffentlicht. Es ist anzunehmen, dass Nina Gladitz über diese Fährte auf den durch seine eigenen Bilder selbst traumatisierten Fotografen stieß.

Der WDR-Kulturchef, Dr. Hansjürgen Rosenbauer, hielt viele Jahre eine schützende Hand über Nina Gladitz, aber ihre improvisierende Art des Filmemachens wurden zunehmend unvereinbar mit den sich bürokratisierenden Rundfunkanstalten. So erzählt ihre treue Aufnahmeleiterin Filia Filius, sie beide seien nach Kalifornien geflogen, ohne vorher eine Verabredung mit dem Fotografen Herbert Sussan getroffen zu haben. Aber Nina Gladitz hatte das Glück auf ihrer Seite, sie traf ihn ohne jede Absprache dort an und er war auch bereit, seine Fotos abfilmen zu lassen. 

Die steinigen Geheimnisse einer Kindheit 

Nina Gladitz griff immer wieder Themen auf, die die dunklen Seiten der Vergangenheit beleuchten. So fing sie in ihrem 1989 gedrehten Film, “Die steinigen Geheimnisse einer Kindheit“ Schattenseiten ihrer Jugend in Schwäbisch Gmünd ein. Ein junges Mädchen stellte das Schulkind Nina auf ihrem Heimweg dar, sie begegnet Verkörperungen ihrer Albträume und offenbart in dem von ihr selbst gesprochenen Text die Abgründe ihrer Kindheit. Sie war in einem noch heute herrschaftlich wirkenden Haus mit Blick auf Schwäbisch Gmünd mit vier Geschwistern in einer Unternehmerfamilie aufgewachsen. Von der Mutter hatte sie gelernt, dass man beim Einkaufen nicht bezahlen musste, sondern auf die Glühlampenfabrik anschreiben lassen konnte. Die Mutter unterschätzte ihre Tochter Nina, wollte sie in die Sonderschule schicken und riet ihr, Kosmetikerin zu werden. Die an Literatur und Geschichte Interessierte kränkte das tief und sie entwickelte ein angespanntes Verhältnis zur Mutter, die damit haderte, dass die Ideale ihrer Kindheit nicht mehr galten. 

Das „Vaterkind“ Nina und ihr ein Jahr jüngerer Lieblingsbruder Wilhelm waren aus der Art der schwäbischen Familie geschlagen. Wilhelm nannte sich Peter Krieg. Er nahm als Künstlernamen den Mädchennamen der Mutter an, studierte Film in Berlin. Als Produzent und Autor schuf er zusammen mit seiner Frau legendäre Filme wie „Flaschenkinder“ über den Skandal wegen künstlicher Babynahrung des Nestlé-Konzerns „Septemberweizen“ über den Hunger im Zeitalter des Überflusses, ein „Trailblazer“ der ökologischen Bewegung oder „Packeis“ über das alternative Zürich.  Er erhielt dafür den Grimme-Preis. Einige Jahre lebten und arbeiteten die Geschwister zusammen in Kirchzarten im Schwarzwald – auch die Mutter wohnte zeitweilig dort – und Nina wirkte auch im Hintergrund gemeinsam mit Peter Kriegs Frau Heidi Knott mit bei der Gründung des auch international renommierte Ökomediafestival in Freiburg. 

Der für den SDR in Stuttgart produzierte Film „Die steinigen Geheimnisse einer Kindheit“ hat mehr inszenierte Anteile als Nina Gladitz frühere dokumentarische Arbeiten. Sie hatte -ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm- ein Drehbuch geschrieben, das der kürzlich verstorbene WDR-Kameramann Peter Kaiser gemeinsam mit Jörg Geißler umsetzte. 

Perlasca- die Wasser des Lebens

Noch weiter auf dem Weg des künstlerischen Dokumentarfilms ging sie 1993 mit ihrem – meines Wissens nach letzten- Film „Perlasca- Die Wasser des Lebens“. Der in Deutschland unbekannte italienische Widerstandskämpfer Giorgio Perlasca ist wiederum eine klassische „Gladitz“-Figur:  Er gab sich 1943 in Ungarn als offizieller Nachfolger des bereits geflüchteten spanischen Botschafters in Budapest aus und nutzte seine diplomatischen Privilegien, um 70.000 Juden vor der Auslieferung an die Nazis zu retten.

Diesen Film produzierte sie mit dem ZDF, ein langjähriger Freund von Nina Gladitz, der Berliner Produzent Eike Schmidt, hält ihn für ihren besten Film. In einem Schloss in der Toscana gestaltet sie ein Gespräch mit dem inzwischen betagten Menschenretter Perlasca. Die Fragen stellt eine junge hübsche Frau, es ist davon auszugehen, dass die Regisseurin ihr die Fragen vorformuliert hat. In ihrem Film, „die steinigen Geheimnisse einer Kindheit hatte sich Nina Gladitz schon von einem jüngeren Mädchen darstellen lassen. Insofern soll die Fragende in diesem Film sicher auch eine Verkörperung der Regisseurin sein.

Nina Gladitz traf der frühe Tod ihres Bruders 2009 ins Mark. Nach einem Aufenthalt in Spanien war sie, wie er auch, nach Berlin gezogen. 

Dort lebte sie inzwischen, mangels Aufträgen, von der Substanz, diese und ihre Gesundheit schrumpften zunehmend. 

Sie konzentrierte sich ganz auf die Recherchen rund um Leni Riefenstahl, entdeckte viele Lügen, Verrat und Betrug und trug dies in ihrem Lebenswerk, dem Buch “Leni Riefenstahl – Karriere einer Täterin“, erschienen 2020 beim Schweizer Orell Fuessli Verlag, zusammen. Kein deutscher Verlag interessierte sich für ihr Manuskript.

Der Autor Michael Kloft hat für Arte über ihre Recherchen die Dokumentation „Leni Riefenstahl- Ende eines Mythos“ produziert. Die französische Seite von Arte tat sich sehr schwer, einem Film über die Entzauberung der in Frankreich noch immer verehrten Regisseurin zuzustimmen. Den Erfolg ihres Buches hat Nina Gladitz noch mitbekommen, sie war in ihre Geburtsstadt Schwäbisch Gmünd gezogen, wo sie gerne noch einen Film über die ehemals ortsansässige Widerstandskämpferin Lina Haag realisiert hätte. Sie hoffte noch bis zum letzten Atemzug, endlich Geld für Auslandsverkäufe oder die Rechte an der Verfilmung ihres Buches zu bekommen. Sie starb aber völlig mittellos und konnte in den letzten Monaten nicht einmal mehr ihre Miete bezahlen. 

Die Dokumentarfilmemacherin Astrid Bischofsberger wohnt heute in dem Haus bei Kirchzarten, in dem auch Nina Gladitz lange gelebt hat. Diese Koinzidenz gab die Initialzündung für die Idee, einen Dokumentarfilm über Nina Gladitz zu realisieren. Im selben Haus hatten auch einst der legendäre Tenor Richard Tauber und im Bauernhof nebenan der Schriftsteller Bodo Kirchhoff gelebt. Nina Gladitz veranlassten diese gemeinsamen Wurzeln bei Kirchhoff ein Schreibseminar am Gardasee zu belegen. Astrid Bischofberger hat die wenigen Kisten voller Papier, die Nina Gladitz hinterlassen hat, aus ihrer winzigen Wohnung in Schwäbisch Gmünd vor der Entsorgung geborgen und der Familie übergeben. Nun wird sie sich filmisch auf die Spuren von Nina Gladitz begeben und hoffentlich herausfinden, was Nina Gladitz die Kraft und Ausdauer gegeben hat, sich ein Leben lang in ihren Filmen für Entrechtete, zum Schweigen Gebrachte und von der Gesellschaft Übersehene einzusetzen und warum sie nicht lockerließ, jahrzehntelang ihre Recherche über Leni Riefenstahl voranzutreiben. Den vielfach für die Riefenstahl verwendeten Schmähbegriff „Reichsgletscherspalte“ hätte Nina Gladitz allerdings selbst nie benutzt, weil sie dies für  sexistisch hielt. Auch eine Gegnerin sollte man in ihren Augen nicht frauenfeindlich denunzieren.

Leider bekommt Nina Gladitz nun nicht mehr mit, dass Ihr Film „Die Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ wieder der Öffentlichkeit zugeführt wird. An ihrem 1. Todestag, am 26. April 2022 wird er in der Freiburger Universität aufgeführt und es wird spannend, wie der WDR begründen wird, warum er diesen Film 40 Jahre unter Verschluss gehalten hat. Im Abspann des Films steht kein Copyright des WDR, was normalerweise am Ende jedes ausgestrahlten Beitrags zu sehen ist, es wird auch kein Name einer WDR- Redaktion genannt. Zu lesen ist lediglich: „Eine Produktion der Gladitz-Film Produktion in Zusammenarbeit mit Channel 4 in Großbritannien“. Sollte Nina Gladitz ihren Filmtitel „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ prophetisch auch auf die Zeit beziehen, in der ihr – und der Öffentlichkeit – der eigene Film vorenthalten wurde?

Filmographie Nina Gladitz

Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv  1976                
Das Uran gehört der Regenbogenschlange  1979                
Gegen den Strom    1980, WDR
Land der Bitterkeit und des Stolzes  1982, WDR
Zeit des Schweigens und der Dunkelheit  1982, WDR
Premiere in Hiroshima   1985, WDR
La Rouge et la Noire   1988,  SFB, HR
Die steinigen Geheimnisse einer Kindheit 1989, SDR
Perlasca – Die Wasser des Lebens    1993, ZDF
Gründung Ökomedia-Festival Freiburg   1980er Jahre.

Sabine Rollberg

Unsere Autorin ist Professorin für künstlerische Fernsehformate, Film und Fernsehen sowie ehemalige Arte-Beauftragte und Redaktionsleiterin der Arte-Redaktion im WDR. Sie entwickelte und betreute die unterschiedlichsten TV-Programme und wurde als engagierte Film-Redakteurin und Katalysatorin auch im Bereich Dokumentarfilm international bekannt. Von September 2008 bis April 2019 lehrte sie an der Kunsthochschule für Medien Köln. Im Jahr 2014 berief die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die Grimme-Preisträgerin in den Beirat der Universität und das Freiburger University College. Ein Interview mit ihr hier.

Siehe auch:
Gerhard Beckmann: Offener Brief in Sachen Nina Gladitz
Gerhard Beckmann: Nazi-Propagandistin, Plagiatorin, Menschenrechts-Verbrecherin. Über die Ermittlungen der Dokumentarfilmerin Nina Gladitz
Albrecht Götz von Olenhusen: Schonungslose Recherchen zur NS-Vergangenheit einer legendären Regisseurin    


Bei einem Filmfestival in Südkorea wird Nina Gladitz im nächsten Jahr eine Retrospektive gewidmet sein. Bei Youtube findet sich eine englische Fassung des vom WDR unter Verschluss gehaltenen Gladitz-Films:

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