Geschrieben am 14. März 2018 von für Crimemag, CrimeMag März 2018

Roman: William Boyle: Gravesend

51YuiKKrjFL._SX330_BO1,204,203,200_CANOLI UND DIE CULTURE OF HONOR

von Ute Cohen

„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme …“ Jetzt noch drei „Ave Maria“ und aus die Maus! Kaum verlässt man das Kirchenschiff, darf man aufs Neue der Sünde frönen. Rein gewaschen wird man mit ein paar auswendig gelernten Versen, die man nach bestem Wissen und Gewissen herunterbetet. Was aber, wenn die Reinwaschung des Katholizismus versagt?

Mit „Mani puliti“ haben wir es auch in William Boyles „Gravesend“ zu tun. Ray Boy Calabrese, amerikanischer Teenie-Traum mit White-Trash-Mindset und italienischen Wurzeln, prügelt, quält, hetzt den schwulen Duncan zu Tode. Auf Druck der Lesben- und Schwulenvereinigung wird Ray wegen eines Hate Crime, eines sexistisch motivierten Verbrechens, wegen Totschlags zur Höchststrafe verurteilt. Nach sechzehn Jahren wird er, geläutert und lebensmüde, aus dem Knast entlassen und sieht sich einer Welt gegenüber, die sich im Gegensatz zu ihm selbst nicht im Geringsten verändert hat. Der Code einer „Culture of Honor“ hat Erwartungshaltungen zementiert, die Ray nach seinem Gefängnisaufenthalt unerbittlich entgegenprallen. Während sich Ray längst vom Maskulinitätskult der italo-amerikanischen Padrini verabschiedet hat, zelebriert sein Umfeld die „Kultur der Ehre“, die zum Rettungsanker für perspektivenlose Jugendliche und Identitätsjunkies wird. Ray Boy hat gefälligst der zu bleiben, der er einmal war: ein Sunnyboy, der die Mädels auf der Kühlerhaube an der roten Ampel vögelt, ein Mann, der den verweichlichten Homos zeigt, was ne Harke ist, ein Typ mit blitzenden blauen Augen und Mechanikerjacke, der Selbstverständliches einfach nicht infrage stellte: „Schwule wurden gemobbt, so war das einfach.“ Ray aber entzieht sich dem Ehrenkodex der Familie, „verweigert“ wäre zu viel gesagt, da sein Lebenswille gebeugt ist, seine Lebenskraft erschöpft. Sein eigener Ruf ist nicht mehr Gegenstand seiner Sorge, es ist ihm scheißegal, was andere von ihm erwarten.

Beleidigungen, Ehrverletzungen, Mannsbilder sind Begriffe, die keinen Wert mehr besitzen. Er fühlt sich schuldig und ersehnt nichts mehr, als dass die Familie des Getöteten Rache nimmt. Eine letzte Würde hofft er darin zu gewinnen, dass er sich dem Tod ergibt. Selbst Hand anlegen will er jedoch nicht: Ehre, wem Ehre gebührt! Conway, der Bruder des Getöteten, soll sein Leben beenden. Das führt zu kuriosen, bitterbösen, schon urkomischen Situationen. Der nervenschwache Conway steht dem noch immer muskelgestählten Ray gegenüber und fragt: „Warum bringst du dich nicht selbst um?“ „Das musst du schon tun“, antwortet Ray und schaufelt sich wortwörtlich sein eigenes Grab.

Disgraziato! Von einem Pechvogel, einer Niete wie Conway erlöst zu werden, ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Conway selbst ist aus Liebeskummer dem Tod einst knapp von der Schippe gesprungen und fühlt sich nicht wirklich imstande, den Beastie Boy Ray zu erlegen und die Rache der Famiglia zu befriedigen. Was bleibt, ist Erniedrigung, wenn schon die Rache nicht funktioniert: „Wenn der Mann sich widerstandslos seinem Schicksal ergab, wollte Conway ihn wenigstens demütigen.“

Auch Alessandra, eine ihr Heil im Showbiz suchende ehemalige Mitschülerin Rays, verheddert sich in der übermächtigen Mammamia-Kokolores-Ehrenkultur und ihren eigenen Sehnsüchten. Großstadtluft hatte sie geschnuppert, etwas Anderes als diese Subway-Guys erlebt und dennoch zieht sie der Bad Boy Ray an, animalisch, raw und moralisch ungefiltert: „Sie dachte an Rayboy, wie er damals in der Highschool ausgesehen hatte, und schob die Hand unter den Bund ihrer Unterhose.“ Gerade noch rechtzeitig ertappt sie sich bei diesem ehrenrührigen Ansinnen: „Aber dann kroch ein Gedanke in ihr hoch. Duncans Gesicht stand ihr plötzlich vor Augen. Das Wort Hate Crime. Augenblicklich verlor sie jede Lust.“

Während Alessandra schwankt zwischen individuellem Begehren und Moral, verbeißt sich Rays Neffe wie ein Bullterrier in die Figur des großen, starken, unerschütterlichen Ray. Er begreift nicht, dass der Onkel transformiert ist, nur noch von Thanatos mit einer Kugel beglückt werden will: „Er hatte sich immer vorgestellt, dass sein Onkel mit Sonnenbrille und rasiertem Schädel zurückkommen würde, voller Wut, weil er in den Knast gemusst, bereit, es der Welt zu zeigen.“ Pustekuchen! Der Kleine wird bitter enttäuscht und lässt seinem aufgestauten Hass freien Lauf. Eine Tirade auf alles und jeden, Frauen im Rollstuhl, vorbeifahrende Autos, die lange Fahrt zur Schule, das Schließfach, Brokkoligrün, Erdkunde und Biologie, seine eigene armselige Existenz als körperlich Versehrter, der den Ansprüchen der Community nicht gewachsen war: „Eugene hasste die meisten Dinge mit einem Hass, der nach Glasscherben schmeckte.“

cannoliDer frühere Rayboy aber mutierte zum Faceless Rayboy, der in dieser Welt der Ehre keinen Platz mehr findet, der weder vergöttert noch verdammt werden kann und deshalb nur noch von der Ehrengalerie getilgt oder – in seiner Urversion – als Blaupause für das eigene, noch zu erschaffende Siegerleben dienen kann.

Was bleibt von der Ehrenkultur? Cannoli – Papas Lieblingsgebäck!

William Boyle. Gravesend. Roman. Polar Verlag Hamburg 2018. Übers.: Andrea Stumpf, 280 Seiten, 18 Euro

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