Geschrieben am 15. November 2016 von für Crimemag, Primärtext

Primärtext: Michael Connelly über Harry Bosch

51dui7wmdpl-_sx315_bo1204203200_Hieronymus „Harry“ Bosch

– Von Michael Connelly.

Einundzwanzig berühmten Krimiautoren mit Detectives als Serienhelden hat Otto Penzler, ausgewiesener New Yorker Krimiexperte und Betreiber des Mysterious Bookshop, die gleiche Frage gestellt: Wie ist Dein Detective eigentlich entstanden?
Die einundzwanzig Antworten darauf sind 2009 in Form von Essays in dem lesenswerten und erhellenden Band „The Lineup – The World’s Greatest Crime Writers Tell the Inside Story of Their Greatest Detectives“ erschienen. Zu den Autoren, die diese Frage beantwortet haben, gehört auch Michael Connelly.

Die erfolgreiche Verfilmung von Connellys Romanen in der inzwischen drei Staffeln umfassenden Amazon-Prime-Serie „Bosch“ nehmen wir zum Anlass, Ihnen Harrys Entstehungsgeschichte direkt aus der Feder ihres Schöpfers vorzustellen. “ (Staffel Drei ist gerade abgedreht. Die Bosch-Saga geht weiter. Titel des aktuellsten Buches: „The Wrong Side of Goodbye“.) Susanna Mende hat den Text für uns übersetzt.

 

bosch

Vor ein paar Jahren war ich auf einer Lesereise, die mich auch nach Bryn Mawr, einem Vorort von Philadelphia, führte. Ich war früh dran und hatte vor meiner Lesung noch ein wenig Zeit, weshalb ich den Mietwagen in Richtung Westen zu der kleinen Stadt Devon lenkte. Zumindest in den sechziger Jahren, als ich dort mit meiner Familie lebte, war es eine kleine Stadt.

Ich fuhr an der Bahnlinie entlang und fand ich schließlich problemlos die Highland Avenue.

Hier hatte meine Familie in der Nähe der Bahngleise gewohnt, in einem Viertel der Mittelschicht. Unser Haus war ein zweistöckiges weißes Gebäude im Kolonialstil, das mein Vater, ein Bauingenieur, selbst entworfen und realisiert hatte.

Ich hielt vor der Nummer 321 Highland, doch ich stieg nicht aus. Ich saß lediglich hinter dem Steuer und blickte eine Weile zu dem Haus hinüber. Einiges hatte sich verändert, anderes war gleich geblieben. Mein Blick wanderte hinauf zum Fenster des Zimmers, das ich mit einem meiner Brüder geteilt hatte.

In diesem Zimmer hatte ich nachts oben im Etagenbett gelegen und aus dem Fenster geblickt. Durch den Wald hindurch konnte ich die Lichter auf der anderen Straßenseite sehen und die Güterzüge hören, die regelmäßig vorbeirumpelten. Ich konnte auch auf den Vorgarten hinausblicken und in der Dunkelheit der Nacht die Tunnelöffnung dahinter ausmachen. Der Tunnel, der mich häufig in meinen Kindheitsträumen heimsuchte. Der Tunnel, von dem ich glaube, dass Harry Bosch dort geboren wurde.

Das Haus stand auf einem abfallenden Grundstück, was bedeutete, dass ich es durch die Hintertür verlassen und einen steilen Hügel hinaufklettern musste, wenn ich zu meinen Freunden wollte. Vorn fiel das Grundstück zu einem Graben hin ab, der in einen gemauerten Wasserstollen überging, der wiederum unter der Highland Avenue entlang und in den Wald auf der anderen Straßenseite führte. Der Tunnel war alt und modrig und voller Schutt aus Ziegelsteinen und Mörtel. Krummes Wurzelwerk war von oben durchgebrochen und rankte herunter, wie Hände, bereit einen zu packen. Spinnweben, die das von oben durchschimmernde Licht einfingen, hingen in silbernen Mustern zwischen den Wurzeln. Der Tunnel roch feucht wie ein vollgelaufener Keller.

tunnel1Die Feuerprobe, die Jungs von Männern trennte

Es war ein unausgesprochener Initiationsritus in meiner Nachbarschaft, dass jeder Junge durch diesen Tunnel gehen musste. Allein, ohne die Hand von jemandem zu halten oder umzukehren oder sich gar davor zu drücken. Diejenigen, die dem nicht gewachsen waren, wurden von den Gleichaltrigen ausgegrenzt und mussten die entsprechenden Hänseleien über sich ergehen lassen. Der Tunnel war die Feuerprobe, die Jungs von Männern trennte. Und keiner wollte als Feigling gelten.

Man wusste, wer den Tunnel durchquert hatte, und wer nicht. Es gab keine Namensliste. Es wurde nicht einmal darüber gesprochen. Es war einfach eins dieser Dinge, die in der Nachbarschaft bekannt waren. Man wusste, wer das unsichtbare Abzeichen für Mut trug, das einem das Tor zum Mannsein öffnete, und wer gekniffen hatte.

In gewisser Weise sind alle Kindheitserinnerungen übertrieben. Es hieß, wenn man dort drin sei und der Müllwagen darüber fuhr, würden die Wurzen zu schwingen beginnen und der Tunnel wie bei einem Erdbeben wackeln. Und wenn man von der Mitte des Tunnels aus etwas rief, würde die Stimme aus beiden Richtungen widerhallen. Ich kenne die genaue Größe des Tunnels nicht, doch er war schätzungsweise nicht höher als ein Meter fünfzig und nicht länger als zwölf Meter. Für einen Zehnjährigen war das allerdings eine furchteinflößende Dimension.

Als der Tag näher rückte, an dem ich ihn durchqueren sollte, dachte ich viel über den Tunnel nach. Es war Sommer, und ich wusste, dass ich mich beweisen müsste, noch bevor er zu Ende wäre und die Schule wieder anfing. Ich musste diesen Tunnel durchqueren. Nachts, oben auf dem Etagenbett, konnte ich sehen, wie er dort unten auf mich wartete.

Die Träume begannen in diesem Sommer. Richtige Alpträume. Intensiv und dunkel, in denen ich stets allein war. Es war jedes Mal die gleiche Situation: Ich betrat den Tunnel, bereit, mich der Herausforderung zu stellen, doch nach ein paar Schritten fingen die Ziegelwände plötzlich an zusammenzurücken. Dann, als sie gewaltsam vor mir aufbrachen, fuhr eine Zunge aus dem schlammigen Boden heraus und über mich hinweg.

Ich wachte immer dann auf, wenn mir klar wurde, dass ich in das Maul einer riesigen, lauernden Bestie geraten war.

Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, um herauszufinden, warum ich den Traum hatte oder was er bedeutete. Er raubte mir häufig den Schlaf in jenem Sommer und verschwand dann wieder, nachdem ich den Tunnel durchquert hatte. Seltsamerweise kann ich mich an das reale Ereignis nicht erinnern. Ich kann nicht bestätigen, dass es tatsächlich Spinnweben gab. Aber ich kann bestätigen, dass ich es schaffte und, sobald ich hindurch war, zu den Jungs gehörte, die all die anderen hänselten, die diese Prüfung noch nicht bestanden hatten.

fledermausEr war eine sogenannte Tunnelratte gewesen

Ein paar Jahre später war meine Familie von der Highland Avenue im vorstädtischen Philadelphia in die Twenty-Sixth Avenue in Fort Lauderdale, Florida, gezogen, weil mein Vater auf der Suche nach einem Job in der Sonne war. Damals tobte im Hintergrund gerade der Vietnamkrieg. Ich war in der Highschool und kein guter Schüler, also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Vietnam, denn ich dachte, dass es mein Schicksal sein könnte. Ich erinnere mich daran, wie der Schuldirektor über die Lautsprecher in den Klassenzimmern um einen Augenblick des Gedenkens an einen früheren Schüler bat, der dort gefallen war. William Fennel.

Ich hatte ihn nicht gekannt, doch Jahre später suchte ich seinen Namen auf der Gedenktafel in Washington D.C..

Ich erinnere mich, wie mein Vater eines Sommers über einen Mann sprach, der in derselben Immobilienfirma gearbeitet hatte. Er sagte, er habe einen Vollbart tragen müssen, um die Gesichtsnarben zu verdecken, die er während seines Einsatzes in Vietnam davongetragen hatte. Er erzählte meinem Vater, dass er eine sogenannte Tunnelratte gewesen sei. Sein Job sei es gewesen, in unterirdische Labyrinthe zu steigen, wo sich der Feind versteckt hielt und lauerte.

Der Mann wollte meinem Vater keine Details erzählen, doch meine Teenagerfantasie ergänzte die Lücken der Geschichte, die womöglich eindringlicher waren als die Wirklichkeit. Erneut träumte ich davon, im Maul eines unterirdischen Monsters zu stecken.

connelly-tunnelratAufbruch nach Kalifornien

Schon bald nach der Highschool wusste ich, dass ich Schriftsteller werden wollte. Ich liebte Kriminalgeschichten, und ich wollte auch welche schreiben. Ich ging auf die Journalistenschule und hoffte, bei einer Zeitung das Handwerkszeug dafür zu erlernen, während sie mir gleichzeitig Einblicke in die Welt gäbe, über die ich schreiben wollte: Das Polizeirevier. Nach dem College lebte und arbeitete ich mehrere Jahre in Florida und versuchte nebenbei ein paar Kriminalromane zu schreiben. Sie waren nicht gut. Sie handelten von Personen, die darauf spezialisiert waren, Ausreißer zu finden, die allerdings selbst vor Dingen in ihrem Leben davongelaufen waren. Natürlich lernte ich etwas über das Schreiben und die Form des Kriminalromans, während ich mehrere Entwürfe verfasste, doch verließen die Manuskripte die unterste Schublade meines Schreibtisches nie. Ich bin der Einzige, der sie je gelesen hat.

Mit dreißig fühlte ich mich ausreichend gewappnet, um es mit einem weiteren Roman zu versuchen. Doch ich stellte mir ein Ultimatum. Falls das Buch keine Resonanz fände und nicht veröffentlicht werden sollte, würde ich meine Bestrebungen aufgeben und mich meiner Karriere als Journalist widmen. Als Vorbereitung auf mein eigentliches Ziel beschloss ich, mein Leben umzukrempeln. Ich verschickte Bewerbungen in das dreitausend Kilometer entfernte Kalifornien, das Land meiner literarischen Helden – Raymond Chandler, Ross Macdonald und Joseph Wambaugh. Ich war davon überzeugt, dass ich diesen Roman beginnen und in Los Angeles ansiedeln müsste.

Als ich bei der Los Angeles Times ein Vorstellungsgespräch hatte, reichte mir der Herausgeber den Metro-Teil und zeigte auf einen groß aufgemachten Bericht. Er gab mir eine Viertelstunde, um ihn zu lesen und ihm zu sagen, wie ich ihn fortsetzen würde. Es war ein Test. Er wollte wissen, wie gut und wie schnell ich reagieren konnte.

tunnelIn dem Bericht ging es um einen ziemlich dreisten Banküberfall. Die Diebe hatten sich das städtische Abwassersystem zunutze gemacht, um unterirdisch nach Downtown und in die Nähe der Bank zu gelangen. Dann hatten sie ein Loch in den städtischen Tunnel gebohrt und eine eigene Verbindung bis unter den Tresorraum der Bank gegraben. Sie waren hineingestiegen und hatten die ganze Nacht damit verbracht, Schließfächer aufzubohren und deren Inhalt einzusacken.

Der Herausgeber muss von meinem Vorschlag beeindruckt gewesen sein. Ich bekam den Job und zog nach Los Angeles. Schon bald nachdem ich als Polizeireporter angefangen hatte, bekam ich die Erlaubnis, ein Ermittlungsteam zu begleiten, das der ungelösten Tunnel-Kapriole nachgehen sollte. Es war eine dunkle und verborgene Welt und erinnerte mich auf seltsame Weise an den geheimnisvollen Tunnel, von dem ich als Kind geträumt hatte.

Zumindest eine Grundidee

Mein Plan war, ein oder zwei Jahre in Los Angeles zu bleiben und die Stadt kennenzulernen, bevor ich über diesen riesigen, weitverzweigten und faszinierenden Ort schreiben würde, den meine Helden wie ihre Westentasche kannten. Doch am Abend nach der Lagebesprechung bei der Polizei ging ich in das spartanische Schlafzimmer der Wohnung am Freeway 101, die ich mit meiner Frau teilte, und begann zu schreiben. Ich hatte eine Eingebung gehabt: Ich würde über einen Detective schreiben, der wiederholt von einem Tunnel träumte, der Erfahrung mit solchen Tunneln hatte und dessen Vergangenheit seine Gegenwart durchdrang. Damit hatte ich die losen Enden meines Lebens zusammengeführt, und ich spürte, dass ich zumindest eine Grundidee für eine Figur und eine Story hatte, die ausreichend Substanz bot, veröffentlicht zu werden und in der Fantasie der Leser weiterzuleben.

Ich nannte ihn Pierce. Ich hatte irgendwo etwas gelesen, wo Raymond Chandler die fiktive Detective-Figur als jemanden beschreibt, der gewillt und bereit sein muss, hinter sämtliche Schleier und Fassaden der Gesellschaft zu dringen. Mein Detective sollte ein solcher Mann sein, deshalb nannte ich ihn Pierce (dt. durchbohren, durchstechen).

… dann kam der Jazz

Weil ich die meiste Zeit bei offenem Fenster schrieb, hörte ich Musik, um den störenden Lärm vom nahegelegenen Highway zu übertönen. Ich war mit Rock’n Roll aufgewachsen, doch als Schriftsteller fand ich, dass Songtexte den Schreibprozess beeinflussen könnten. Ich wollte über einen Detective schreiben, der allein auf der Welt war, weshalb es mich zu einer Musik zog, die Einsamkeit in mir heraufbeschwor. Jazz. Genauer, den Klang des Jazzsaxophons. Ich begann mit den Ikonen – John Coltrane, Sonny Rollins, Wayne Shorter – und ging von dort aus in die Breite. In dieser Zeit las ich im Time Magazine einen Artikel über einen Musiker namens Frank Morgan, einem Protégé von Charlie Parker, der Heroinabhängigkeit und Gefängnis überstanden hatte, um nach dreißig Jahren erneut aufzunehmen. Es war Frank Morgans Altsaxophon, das mir den Sound für meinen Detective lieferte. In seiner traurigen, doch erhebenden Ballade „Lullaby“, geschrieben vom Pianisten George Cables, fand ich die Hymne meines Detectives. Jahrelang spielte ich das Stück zur Einstimmung an den Tagen, an denen ich schrieb.

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Wie Frank Morgan sollte mein Detective ein Überlebender sein, ein Mann, der seine Vergangenheit überwindet, um seine Gegenwart – und seine Zukunft – zu meistern. Also wählte ich seine Musik sorgsam aus. Pierce sollte Musik von Künstlern hören, die große Hindernisse überwinden mussten, um es zu schaffen. Ob es nun die Drogenabhängigkeit, Rassismus, Armut oder gesundheitliche Probleme waren, die Jazzmusiker, die mich inspirierten, waren Überlebende. Und ich übergab die gesamte Playlist an Pierce.

… und dann eine Goldmine

Tagsüber war ich ein Kriminalreporter. Abends und an den Wochenenden war ich ein angehender Autor, der es endlich schaffen wollte. Ich sah meinen Job am Tag als Recherche für die Nachtschicht an. Es war, als wäre ich auf eine Goldmine gestoßen, in einem Tunnel, wo ich nach allem, was glitzerte, Ausschau hielt. Das Aussehen und die Geräuschkulisse von Polizeirevieren und Gefängnissen, der Cop-Slang, die internen Regeln. Nach jedem Arbeitstag versteckte ich abends das Gold in meinem Buch.

Die meisten Detectives, die ich kennenlernte, waren ehemalige Soldaten, die Hälfte davon Vietnamveteranen. Viele von ihnen rauchten, ein Symptom der Suchtgefährdung, die ich für einen guten Detective für unabdingbar hielt. Ich erinnere mich, wie ich einmal am Schreibtisch eines Detectives saß, der rauchte, während das Rauchen-Verboten-Schild direkt über seinem Kopf an der Wand hing. Obwohl ich selbst nie geraucht habe, machte ich Pierce zum Raucher. Obwohl ich selbst nie in Vietnam war, weil der Krieg bei meinem achtzehnten Geburtstag zu Ende war, machte ich aus Pierce einen Vietnamveteranen. Ich machte ihn zu einer Tunnelratte, die noch immer von den Tunneln träumte und stets nach dem Licht am Ende suchte.

Die Charaktereigenschaften ergaben sich wie von selbst, während ich den ersten Romanentwurf schrieb, in dem Pierce den Mord an einem Mann untersuchte, der ebenfalls eine Tunnelratte gewesen und womöglich an einem Tunnelraub einer Bank in Los Angeles beteiligt gewesen war.

71bxsty652l-_sx300_bo1204203200_Der wahre Tunnelraub, auf dem die Geschichte basierte, fand 1987 statt, in dem Jahr, als ich nach Los Angeles zog. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil im selben Jahr Die schwarze Dahlie von James Ellroy veröffentlicht wurde. Obwohl mich das Buch beeindruckte, war ich damals mehr von der Geschichte des Autors fasziniert, von der ich in Form einer Kurzbiografie in einem Magazin gelesen hatte. Ellroys Mutter war ermordet worden, als er ein Junge war. Er kämpfte darum, dieses einschneidende Ereignis und zahlreiche andere persönliche Dämonen zu überwinden, genug, um Die schwarze Dahlie und andere Romane davor zu schreiben.

Ich fand die Psychologie faszinierend. In meiner amateurhaften Analyse sah es für mich so aus, als würde Ellroy jedes Trauma, das ihn durch den Tod der Mutter heimgesucht hatte,

überwinden, indem er Geschichten über Detectives schrieb, die Opfer rächen und Mordfälle lösen – vor allem von  Frauen.

Ich beschloss, die gleiche Psychologie auf Pierce anzuwenden. Ich gab ihm eine Biografie, die der von Ellroy ähnelte. Als Pierce ein Junge ist, wird seine Mutter ermordet. Weil er seinen Vater nicht kennt, nimmt ihm das Verbrechen nicht nur seinen einzigen, liebenden Elternteil, sondern zwingt ihn in die Welt von Pflegefamilien und staatlicher Jugendfürsorge. Der Junge übersteht die Erziehungsmaßnahmen und wird in Vietnam zum Mann, wo es seine Aufgabe ist, in Tunnel zu klettern und den Feind aufzuspüren. Von dort kommt er nach Hause in eine ebenfalls mit Mängeln behaftete staatliche Institution: das Polizeirevier. Aus dem Soldaten wird ein Detective, der wiederholt den Tod seiner Mutter rächt, indem er Mordfälle aufklärt – vor allem von Frauen.

Es ist ein Schlüsselelement seines Charakters. Das Trauma seiner Jugend wird zur treibenden Kraft in seiner Rolle als Gesetzeshüter. Es ist dieser Aspekt, der jeden Fall, den er übernimmt, zu einer persönlichen Angelegenheit macht.

Ich kannte Ellroy nicht, als ich mich für meine Figur bei seiner Vergangenheit bediente. Jahre später allerdings, als ich mich daran machte, einen Roman zu schreiben, in dem mein Detective beginnt, den seit langem ungelösten Mord an seiner Mutter zu untersuchen, schrieb ich dem Autor einen Brief. Ich legte ihm die Idee für meine Geschichte dar. Ich wusste, dass Ellroy damals vorhatte, einen Tatsachenbericht über den ungelösten Mord an seiner Mutter zu schreiben. Ich fragte, ob mein Roman ein zu großer Eingriff sei. Seine Antwort kam in Form eines spätabendlichen Anrufs ein paar Wochen später. „Leider habe ich keinen Lizenzanspruch auf ermordete Mütter“, sagte er. „Viel Glück mit Ihrem Buch.“

Mein Plan für Pierce war simpel. Ich wollte meinen Mentoren Anerkennung zollen und das benutzen, was sie mir beigebracht hatten, um etwas Eigenes zu erschaffen. Chandler, Macdonald, Wambaugh, auch James Lee Burke, Lawrence Block und Thomas Harris. Ich wollte die Eigenheiten von Typen, die Außenseiter waren, mit denjenigen, die Teil des Systems waren, kombinieren. Pierce wäre ein Außenseiter mit einem Job innerhalb des Systems. Er würde auf Schritt und Tritt mit politischen und bürokratischen Hindernissen zu kämpfen haben. Er wäre gut in seinem Job, doch in der Ausführung nicht fehlerfrei. Zeitweise würde er selbst zu seinem schlimmsten Feind werden. Er würde sich fühlen, als wäre er auf einer einsamen Mission – allein im Tunnel – selbst wenn er einen Partner hätte und Teil einer tausendköpfigen Organisation war. Er wäre jemand, der auf der Suche nach Gerechtigkeit ist, und nicht nur einen Fall abschließen will.

connelly-schwarzes-echo-2002connelly-black-echoDetective Pierce wäre erbarmungslos wie eine Kugel, ein Einzelgänger, den man zu nichts drängen konnte. Nichts würde zwischen ihn und seine Mission geraten, und nichts außer dem Tod könnte ihn davon abhalten, seinen Job zu erledigen.

Mein Ziel war es, einen Charakter zu erschaffen, den die Leser nicht bedingungslos lieben würden, der zu Dingen fähig wäre, die sie womöglich fragwürdig fänden. Doch letztendlich wäre mein Kerl die Sorte Detective, den die Leser haben wollten, wenn es sich um sie oder eine geliebte Person auf dem Stahltische im Leichenschauhaus handeln würde.

Ich machte mir keine Notizen dazu. Ich trug alles nur in den Taschen meiner Vorstellung mit mir herum, und als ich soweit war, begann ich die Geschichte niederzuschreiben. Schon früh gab ich ihr den Titel Schwarzes Echo. Abstrakt und geheimnisvoll, beschwor der Titel auch etwas von der Angst herauf, die ich in meiner Erinnerung beim Durchqueren des Tunnels unter der Highland Avenue empfand.

Dann kam mir das Glück zu Hilfe, während ich Schwarzes Echo schrieb. Ich entdeckte zufällig ein Buch mit dem Titel The Tunnels of Cu Chi. Das Buch von Tom Mangold und John Penycate ist ein erschütternder Bericht über die wahren Erlebnisse der Tunnelratten im Vietnamkrieg. Erst nach der Lektüre des Buches nahmen Pierces Hintergrund als Tunnelratte und die wiederkehrenden Träume endgültig Gestalt an. Während ich Schwarzes Echo schrieb, lag dieses Buch die ganze Zeit auf meinem Schreibtisch. Und auch nach zwanzig Jahren ist es noch immer in Griffweite von dort, wo ich schreibe. Es ist genauso beängstigend und Klaustrophobie erzeugend wie ein Roman von Stephen King. Nur dass Cu Chi real ist. Es lässt die Ängste eines Zehnjährigen, der durch einen zwölf Meter langen Tunnel kriechen muss, wie ein, nun ja, Kinderspiel anmuten.

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Als ich an der University of Florida aufs College ging, hatte ich vor, Bauingenieurwesen als Hauptfach zu belegen. Ich wollte wie mein Vater Häuser konstruieren. Doch schon bald war mir klar, dass ich lieber Geschichten als Häuser konstruierte. Während ich zu Journalismus und Kreatives Schreiben wechselte, belegte ich auch ein paar Seminare in Kunstgeschichte und Geisteswissenschaften. In einem Seminar beschäftigten wir uns mit dem Werk des flämischen Malers Hieronymus Bosch.

Boschs Werk war mir bis dahin nicht bekannt gewesen. Einfach gesagt, ist es Stoff, aus dem Alpträume sind, ein Ausloten des Lohns für ein sündiges Leben in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Die Gemälde sind alptraumhafte Landschaften der Qual und Ausschweifung, sie handeln vom Chaos und seinen Folgen. Feuer brennen unkontrolliert in einer dunklen Unterwelt. Vogelartige Ungeheuer foltern und verstümmeln die Sünder der Welt. Gehörnte Eulen sitzen in den Öffnungen feuchter Tunnel und fällen von dort ihre Urteile. Die Menschheit wird dargestellt, als könnte sie dem Bösen nicht entrinnen, so als wäre sie selbst Anstifterin des eigenen Niedergangs.

Boschs Meisterwerk, das Triptychon Der Garten der Lüste, zeigt auf der linken Tafel Adam und Eva im Garten Eden. Auf der zweiten Tafel herrscht das Chaos, das folgte, als die körperlichen Versuchungen über ein spirituelles Leben gestellt wurden. Und auf der dritten Tafel wird die Bestrafung durch eine gnadenlose Hölle gezeigt.

Jeder, der die Gemälde von Bosch eingehend studiert hat, wird einen unauslöschlichen Eindruck seiner Arbeit im Kopf behalten. Das Zeichen für einen wahren Künstler ist es, etwas zu erschaffen, das in der Vorstellung der anderen weiterlebt. Hieronymus Bosch ist das gelungen. Sein Werk lebt in meiner Vorstellung weiter seit dem Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Ich konnte eindeutig eine Verwandschaft zwischen ein paar von Boschs Monstern und dem Ungeheuer in meinem Traum erkennen.

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Während ich am zweiten Entwurf für Schwarzes Echo arbeitete, wurde ich wieder an den Maler erinnert, mit dem ich mich fünfzehn Jahren zuvor im College beschäftigt hatte. Ich kann heute gar nicht mehr sagen, was die Erinnerung ausgelöst hat. Doch irgendetwas brachte mir das Seminar und die Gemälde ins Gedächtnis zurück. Und mich traf eine weitere Erkenntnis. Was war der Tatort eines Mordes anderes, als eine aus den Fugen geratene Welt? Was war eine Morduntersuchung anderes als Chaos und dessen Folgen? Sogleich wusste ich, dass ich den Namen meines Detectives ändern musste. Ob die Leser mit dem Maler Hieronymus Bosch vertraut waren, spielte keine Rolle. Ich schrieb über einen Mann, der sich täglich in die menschlichen Abgründe hinunterwagte, dessen Job ihn in eine Umgebung zwang, wo Chaos herrschte. Ich schrieb die Geschichte eines Mannes, der mit dem Bösen unter den Menschen konfrontiert wurde, und der gleichzeitig gegen seine eigenen dunklen Seiten ankämpfte. An dem Tag wurde er zu Detective Hieronymus Bosch.

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Jerome ist abgeleitet vom lateinischen Hieronymus. Deshalb hätte Detective Hieronymus Bosch mit Kurznamen vielleicht Jerry heißen sollen. Doch ich entschied mich stattdessen für Harry, als Anspielung auf Dirty Harry Callahan und Harry Caul, zwei Detectives aus Filmen, die für mich während meiner Entwicklung zum Schriftsteller von Bedeutung gewesen waren. Ich hoffe, dass Harry Bosch sowohl etwas mit diesen beiden Harrys als auch den Charakteren der Schriftsteller gemeinsam hat, die ich zuvor bereits erwähnt habe.

Versehen mit einem Namen, einer Geschichte und einer Mission, fehlte Harry Bosch nur noch ein Motto. Jeder fiktive Detective, egal ob nun Privatermittler oder Cop, hat ein persönliches Motto, durch das er oder sie sich vom Rest abheben. Raymond Chandler hat einen Essay darüber geschrieben. „Diese gefährlichen Straßen muss ein Mann entlanggehen …“

Ich wollte es nicht kompliziert machen. Ich wollte ein Motto für Bosch, das etwas über sein Dasein als jemand verriet, der die meiste Zeit seines Lebens nirgends dazugehörte. Ich wollte für ihn ein Motto, das ihn stets an seine Herkunft erinnern und fest auf der Seite der Underdogs verorten würde. Ich wollte, dass Bosch einem Motto folgte, der ihn zu fairen Verhalten zwang, das es ihm ermöglichte, sich nicht so ohne weiteres hinters Licht führen zu lassen oder mächtigen und reichen Personen gegenüber verpflichtet zu sein. Niemals sollte er seine Position zu seinem Vorteil nutzen. Ihm wäre klar, dass er bei jedem Fall sein Bestes geben müsste, egal wer das Opfer war oder was die Beweise zu Tage förderten.

Entweder zählt jeder oder keiner.

Das sollte sein Motto sein.

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Der kreative Auftrag, der mit dem Schreiben einer Romanreihe mit einer stets wiederkehrenden Figur einhergeht, ist, dass sich diese Figur entwickeln muss. Die Reihe entwickelt sich weiter, während sie gleichzeitig immer tiefer in die Vergangenheit eintaucht. Neue Fälle, neue Herausforderungen schlagen den Leser in den Bann. Doch in die Geschichten sind die schimmernden Nuggets der Vergangenheit eingestreut, denen der Leser ebenfalls folgt.

Harry Bosch entwickelt sich also auch. Der Mann, der stets unnachgiebig und selbst hart im Nehmen war, zeigt sich verwundbar. Vor ein paar Jahren hat er erfahren, dass er eine Tochter hat, ein Stück Vergangenheit, dass in vielerlei Hinsicht alles, was davor passierte, auf den Kopf stellt.

Ich würde sagen, dass Harry während der fünfzehn Romane weicher geworden ist. Er ist noch immer ein Außenseiter mit einem Insider-Job. Er lässt sich noch immer nicht hinters Licht führen oder nimmt die Bürokratie einfach hin, wenn sie der Erfüllung seiner Mission im Weg steht. Doch ist er sich seiner selbst bewusster und weiß mehr über die menschliche Natur. Seine Mission hat ihn zu einem Menschen gemacht, der sowohl hoffnungsvoll als auch zynisch ist. Er weiß, was wahre Gerechtigkeit ist und hat eine größere Einsicht in Wiedergutmachung. Er hat ein besseres Verständnis für die Schwächen, die zu den zahlreichen Spielarten menschlicher Verderbtheit führen.

In Das Comeback, dem sechsten Buch der Reihe, klappt Harry ein Streichholzbriefchen auf und findet eine Weissagung, die auf der Innenseite des Deckels abgedruckt ist. Sie lautet:

Glücklich ist der Mensch, der Zuflucht bei sich selbst findet. Für Bosch ist das ein Hinweis auf das, was kommen wird. Harry verfolgt seine Mission, während er gleichzeitig nach einer Zuflucht sucht und sie in sich selbst zu finden hofft. Das macht seine Biographie zu etwas Unvollendetem.

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Das Haus, das mein Vater in der Highland Avenue gebaut hat, mag es noch immer geben, doch der Tunnel ist längst verschwunden. Es war das Erste, was mir ins Auge fiel, als ich den Abstecher von meiner Lesereise machte und dort hinausfuhr. Das heruntergekommene Gelände war in den Jahren, nachdem meine Familie weggezogen war, umgestaltet worden. Der Abwassergraben war zugeschüttet und der Vorgarten begradigt worden. Der Wald auf der anderen Straßenseite war ebenfalls verschwunden und in gepflegte Parzellen aufgeteilt.

Vielleicht stimmt es, dass man nicht wieder nach Hause zurückkehren kann. Doch es stört mich nicht, dass ich an dem Tag den Tunnel nicht mehr fand. Ich war dankbar für das, was er mir gegeben hatte. Eine frühe Mutprobe und eine Erinnerung, die in meiner Vorstellung weiterleben würde. Wenn ich Glück habe, wird die Figur, die aus diesem Tunnel hervorgegangen ist, genauso lange leben.

(Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanna Mende, der wir herzlich danken.)

„Hieronymus Bosch“ aus „The Lineup – The World’s Greatest Crime Writers Tell the Inside Story of Their Greatest Detectives“. Hrg. Otto Penzler, Little Brown & Company, New York 2009. Zum Trailer der dritten Staffel (online ab Feb/ März 2017) und einer Einführung von Michael Connelly geht es hier.

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