Geschrieben am 15. Juni 2018 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2018

Primärtext: Arkadi Babtschenko „Die Farbe des Krieges“

Arkadi_Babtschenko_Die Farbe des KriegesWir reden nicht mehr mit Menschen …

Es war ein sehr seltsamer Auftritt jetzt Ende Mai 2018, die Wiederauferstehung des angeblich von Russland in der Ukraine ermordeten Journalisten Arkadi Babtschenko vor den Fernsehkameras der Welt. Bis heute ist nicht hinreichend erklärt und geklärt, was die merkwürdige Roßtäuscheraktion rechtfertigen könnte, sich als Mordopfer Putins zu inszenieren. Der zweifelhafte Vorgang sollte jedoch nicht den Autor Arkadi Babtschenko vergessen machen, nach wie vor einer der allerwichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller in Sachen Krieg. Deswegen erinnern wir hier daran – mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt-Verlages – mit drei Textauszügen.

„Ich habe immer geglaubt, der Krieg sei schwarzweiß“, schreibt der heute 41 Jahre alte Arkadi Babtschenko, der den Krieg aus eigener Erfahrung kennt. Mit 18 Jahren wurde er zum Militärdienst einberufen, 1996 nach Tschetschenien versetzt, mitten in den Krieg. Die Farben, merkt er bald, verschwinden nicht, der Krieg wird nicht schwarzweiß, und die Dinge, die geschehen, sind real: die Brutalität innerhalb der russischen Armee, das zermürbende Warten auf den nächsten Angriff. Vermummte Gestalten, die auf den Straßen Grosnys umherirren und unter Beschuss geraten – bis sich herausstellt, es sind russische Mütter auf der Suche nach ihren toten Söhnen. Solche Bilder haben Babtschenko nicht mehr losgelassen. Um ihren Bann zu brechen, hat er die von Hass und Grausamkeit beherrschte Welt geschildert – mit einer Eindringlichkeit und Präzision, die ihresgleichen sucht. „Eigentlich bin ich nie daraus zurückgekehrt, ich bin dort verschollen“, sagt er über sich und seine Zeit in Grosny und Umgebung. In den zweiten Krieg dort zog er dann freiwillig, als Söldner, für 900 Dollar im Monat. Seine Texte bersten vor Unmittelbarkeit und Sinneseindruck. Wie kaum sonst wo rückt einem bei ihm der Krieg auf den Leib, auf die Haut, durchdringt Nase und Magen, Ohren und Gaumen, lässt Adrenalin hochschießen. „Der Krieg“, weiß Babtschenko, „ist anziehend, so wie jede Missgestalt anziehend ist.“

Sam_Keen_Faces of the EnemyHier nun zwei Textauszüge aus „Die Farbe des Krieges“ von 2007:

Ich wische den Boden auf, ich bin Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst. In der Kleiderkammer trinken seit gestern Abend die Offiziere. Der Kommandeur der Aufklärungskompanie, Leutnant Jelin, ist schon ziemlich dicht, sein massiges Gesicht ist auf die Schultern gesunken, die tranigen Augen sind ausdruckslos, nur in den Pupillen brennt der Hass.

Die MPi hat er auf den Knien stehen. Jelin schießt methodisch an die Zimmerdecke. Das ist so seine Angewohn- heit – wenn er getrunken hat, setzt er sich auf einen Stuhl und schießt an die Decke. Das kommt bestimmt von seiner Verwundung, früher soll er ein fröhlicher, zum Lachen aufgelegter Bursche gewesen sein. Dann ist bei Samaschki seine halbe Kompanie draufgegangen. Später flog er selbst mit einem Panzerwagen in die Luft. Und dann noch einmal, wie es heißt. Heute ist Jelin der allerwütendste Offizier im Regi- ment. Er redet überhaupt nicht, Befehle erteilt er nur mit den Fäusten. Er scheißt auf alles – auf das Leben der Soldaten, auf das Leben der Tschetschenen, auf sein eigenes Leben. Gefangene macht er nicht, er schlachtet sie selbst, genauso, wie sie unsere Soldaten schlachten, er presst ihren Kopf mit dem Fuß an den Boden und schneidet ihnen die Kehle durch. Er will nur eins – dass immer Krieg ist und dass es in diesem Krieg jemanden zu töten gibt. Die ganze Decke ist durchlöchert wie ein Sieb, der Stuck rieselt Jelin ins Haar, aber er scheißt darauf. Er ballert methodisch nach oben.

Neben ihm sitzt ein kleiner Armenier, Panzerfahrer. Es ist Major Arzumanjan, Kommandant eines Panzerbataillons, ich habe ihn schon mehrmals gesehen. Auch er ist leicht verwundet. Wodka lockt ihn nicht, er erzählt Jelin in höchsten Tönen von einem Kampf in Bamut: «Warum hat man uns nicht erlaubt, dieses aufsässige Dorf fertigzumachen? Ha? Wer hat uns da reingelegt? Ha? Wir hatten sie schon in die Berge getrieben, ein Sprung noch, ein Angriff – und da heißt es plötzlich: ‹Rückzug!› Warum? Warum? Es waren noch zweihundert Meter bis zur Schule, die hätten wir einnehmen können und fertig, das Dorf wäre unser gewesen! Wer hat diesen Krieg gekauft, wer bezahlt dafür? Ich habe dreißig Zweihunderter, verstehst du, dreißig! Drei Wagen sind verbrannt! Jetzt fahre ich Leute holen, kriege solche Milchgesichter und schicke sie wieder ins Gemetzel. Die haben doch keine Ahnung, du malträtierst sie und malträtierst sie, und sie verrecken in Massen. Wer ist dafür verantwortlich, ha, Jelin?»

Jelin stößt unartikulierte Laute aus und schießt gegen die Decke.

Sie schenken nach. Der Wodka gluckert erfrischend in den Gläsern. Ich spüre seinen Geruch, den Geruch von unglaublichem Fusel. Hergestellt wird dieser Wodka hier, in Mosdok, in der Ziegelei – und er kostet nur Kopeken. Jeder Soldat kennt mehrere Häuser in der Siedlung, wo man billig aus der Ziegelei gestohlenen Wodka kaufen kann. Diesmal habe ich die Flasche besorgt.

Ich wische den Boden vor der geöffneten Tür der Kleiderkammer und versuche, keinen Lärm zu machen, damit man mich nicht bemerkt. Das Wichtigste in der Armee ist, unauffällig zu bleiben – dann kriegst du weniger Prügel und wirst weniger eingespannt. Noch besser ist es, sich überhaupt ganz zu verpissen, so wie Ryžij – der hat sich seit mehreren Tagen nicht in der Kaserne blicken lassen. Er lebt dort irgendwo in der Steppe, wie ein Hund. Ins Regiment kommt er nur Fressen holen. Ein paarmal habe ich ihn nachts an der Kantine gesehen.

Man bemerkt mich doch.

«Eh, Soldat», ruft mich Arzumanjan. «Komm doch mal her.»

Ich gehe hin.

«Was verreckt ihr alle, ihr Hunde, ha? Was bringt man euch in der Ausbildung bei, wenn ihr nur immer abkratzt? Was hat man dir beigebracht? Hast du schießen gelernt oder nicht?», fragt er mich.

Ich schweige.
«Warum schweigst du, Ochse?»
«Ja», sage ich.
«Ja. Und wie oft hast du geschossen?»
«Zweimal.»
«Zweimal. Scheiße … Kommst du als Panzerfahrer zu mir?

Los, morgen fliegst du mit mir nach Schali. Dort wird man Auflauf aus dir machen. Und aus mir auch. Na? Fliegen wir? Jelin, überlass ihn mir.»

Ich stehe verschwitzt vor ihnen, mit aufgekrempelten nassen Ärmeln und dem Wischlappen in der Hand, schniefe und schniefe. Ich habe keine Lust, mit dem versehrten Major nach Schali zu fliegen und dort als Auflauf zu enden. Ich will hierbleiben, ab und zu einen Anschiss kriegen und überleben.

Ich fürchte, Jelin könnte mich wirklich einfach abtreten. Und obwohl ich nicht sein Soldat bin, werden sie nicht lange fackeln. Er winkt nur ab und Schluss, schönen Gruß an die Familie.

Jelin mustert mich mit seinem verhängten Stierblick. Er kann nicht mehr klar denken. Gleich wird er zuschlagen.

Da macht der Panzerleutnant plötzlich schlapp. Irgendeine Feder ist in ihm gesprungen, er sackt auf seinem Stuhl zusammen.

«Hau ab», macht er eine wegwerfende Handbewegung. «Du passt sowieso in keinen Panzer, bist zu lang.»

Ich gehe, und bis Jelin darauf kommt, mich aufzuhalten, bin ich schon aus der Kaserne verschwunden.

Am Treppeneingang setze ich mich hin, rauche eine und gucke zur Startbahn. Mich in so eine Pilotenkabine stehlen und für immer verschwinden. Oder noch besser, zur Fliegereinheit wechseln. Die haben ein Leben! Bei denen in der Kaserne gibt’s nur Offiziere und zwei Dutzend Soldaten. Die Flieger prügeln sie nicht, sie werden die ganze Zeit gefüttert und haben nur eine Aufgabe – die Pritschen zurechtmachen und den Boden wischen.

Im Übrigen brauche auch ich mich nicht zu beklagen. Heute ist meine Glücksnacht. Ich bin nicht geschlagen worden und muss nicht nach Schali.

Joanna_Bourke_An intimate history of killing### und weiter hinten im Buch ####

An einem Sonntag verlasse ich Tante Ljusja. Ich fahre zurück in die Kaserne.

Jetzt ist August ’96, und in Grosny geht die Hölle los. Die Tschechos sind von allen Seiten in die Stadt eingedrungen und haben sie innerhalb weniger Stunden genommen. Heftige Kämpfe sind im Gang, unsere Leute sind in vereinzelte Widerstandsherde zersplittert, sie werden umzingelt und abgeschlachtet. Sie haben keinen Proviant, keine Patronen. Der Tod wütet nach Herzenslust über der glühend heißen Stadt, und niemand wagt es, ihm hineinzureden.

Im Regiment werden mehrere Beerdigungskommandos gebildet; in so ein Kommando wird auch unsere Kompanie gesteckt.

Leichen treffen ein wie am Fließband. Es sieht so aus, als würde ihr Strom nie abreißen. Die schönen silbrigen Pakete sind alle. Die Körper werden geliefert, wie sie gerade anfallen, haufenweise; zerrissen, verbrannt, aufgedunsen. Manche von ihnen sind zur Hälfte oder vollständig verbrannt. Letztere nennen wir unter uns «Räucherware». Die Zinksärge bezeichnen wir als «Konservendosen», die Leichenhallen als «Konservenfabriken». In unseren Worten ist keine Spur von Hohn oder Spott. Wir sagen das ohne ein Lächeln. Diese toten Soldaten bleiben immer unsere Gefährten, unsere Brüder. Wir nennen sie einfach so, das ist alles. Der Zynismus ist heilsam, er hält uns körperlich aufrecht und verhindert, dass wir endgültig durchdrehen – Wodka haben wir nicht.

Wir laden aus und laden aus. Wir haben keinerlei Empfindungen mehr für die Toten, weder Mitleid noch Bedauern. Wir sind völlig abgestumpft. Wir sind die verunstalteten Körper schon so gewohnt, dass wir uns nicht einmal vor dem Rauchen die Hände waschen, wenn wir mit dem Daumen den Tabak in der Prima kneten. Wir können sie auch nirgendwo waschen, wir haben kein Wasser, und es ist zu weit, jedes Mal zur Schöpfstelle zu laufen.

Lebende Menschen beachten wir nicht, sie fallen uns gar nicht auf. Alles Lebendige ist für uns flüchtig, alle, die jetzt über diese Startbahn gehen, alle, die im Zug an diese Startbahn kommen, und sogar die, die nur zur Armee einberufen werden – sie alle werden in diesem Hubschrauber enden, übereinandergeworfen. Das wissen wir. Sie haben gar keinen anderen Ausweg.

Sie mögen hungern, an Schlafmangel, unter den Läusen und dem Dreck leiden, sie mögen geprügelt, mit Schemeln auf den Kopf geschlagen und auf der Latrine vergewaltigt werden – das macht nichts, ihr Leiden hat keinerlei Bedeutung, denn sie sterben sowieso.

Sie können weinen, können Briefe schreiben und darum bitten, dass man sie von hier wegholt. Niemand wird sie von hier wegholen. Niemand wird sich um sie kümmern. Und ihre Probleme – alles Kleinigkeiten. Ein wundgeschlagener Kopf ist besser als dieser Hubschrauber, jetzt wissen wir das genau.

Auch wir sind Zeitweilige. Alles hier ist zeitweilig, auf diesem Höllenfeld. Und wir werden ebenfalls sterben.

Mit den Soldaten werden auch Zivile aus Grosny gebracht. In der Regel sind das Bauleute, vermutlich dieselben, die mit uns auf der Startbahn saßen, damals, vor vier Monaten. Jetzt sind sie tot – die Leute, die uns Spiritus und Speck angeboten haben, sie sind gestorben, und ich lade ihre Leichen aus dem Hubschrauber aus und lege sie nebeneinander an die Startbahn. Bald soll der Ural kommen und sie holen.

Ich muss an Marina denken – das stämmige Mädel, das uns an der Startbahn Spiritus zu trinken gab. Sie hatte Trentschik so gefallen …

Einmal finden wir im Hubschrauber auch eine junge Frau, eine Tschetschenin. Im Grunde ein Mädchen, von vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahren. Sie hat ein Loch im Kopf. Das Gesicht ist absolut ruhig, kein herabgefallener Unterkiefer, keine halbgeschlossenen toten Augen. Man könnte meinen, sie schlafe. Aber sie ist tot. Der Stein hat den Kopf seitlich getroffen und ein Loch von der Größe einer Faust geschlagen. Das Hirn ist kolbenförmig aus dem Kopf herausgedrückt worden.

Lange betrachte ich die runde, trockene Öffnung im Kopf. Wenn man von innen an den Schädel klopfen würde, gäbe es vielleicht ein Geräusch wie von Kunststoff, als würde man gegen die Hälfte eines zerbrochenen Globus klopfen.

In der Lukenöffnung steht Witka. Er sieht mich schweigend an, dann fragt er: «Was ist?»

«Nichts …»
Wir tragen sie hinaus und legen sie auf die Startbahn. «Scheißkrieg», sagt Witka. «Was hat dieses Mädchen schon getan, frage ich mich. Was hat sie schon getan …»

Wir reden nicht mehr mit Menschen. Manchmal glaube ich, ich hätte sogar die einfachsten Wörter vergessen. Unsere Welt, das sind jetzt nur die zerfetzten menschlichen Körper – selten wechseln wir ein paar Worte darüber, bei der Arbeit, mehr haben wir nicht zu besprechen.

Wir laden aus und laden aus und laden aus. Tag für Tag. Jetzt haben wir nur Leichen zur Gesellschaft. Tote Soldaten, tote Frauen, tote Kinder … Alle tot.

Arkadi Babtschenko: Die Farbe des Krieges. Deutsch von Olaf Kühl. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. Taschenbuchausgabe von 2008. – Veröffentlichung mit freundlicher Genehimigung des Verlages. Copyright © 2007 by Rowohlt.

Arkadi_Babtschenko_Ein Tag wie ein LebenSeine Werke, bei Rowohlt erschienen, hiermit nachdrücklich empfohlen:

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (2014)
Ein guter Ort zum Sterben (2009
Die Farbe des Krieges (2007)
Der Kreis des Krieges (2011, in Lettre International, Nr 93, nachgedruckt in Herlinde Koelbls Targets, 2014)

Herlinde Koelbl: Targets. Mit Beiträgen von Gerry Adams und Arkadi Babtschenko. 240 Seiten mit 220 Farbabbildungen. 24 x 30 cm. Begleitbuch zur Ausstellung im DHM Deutschen Historischen Museum. Prestel Verlag, München 2014. 49,95 Euro. Zu Herlinde Koelbls Website.

Siehe auch den CrimeMag-Text „Die Toten auf ihre Plätze! Zur Entkörperlichung des Krieges“ vom Mai 2014.

Mehr zu Arkadi Babtschenko und zu seinem Blog (in russischer Sprache)

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