Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Peter Münder zum neuen Veit Heinichen

Heikle Versuche, die Vergangenheit zu bewältigungen, in Triest 

Zu den verhassten „neurotischen Komplexitäten“ Triests, wo Veit Heinichen seit 25 Jahren lebt, zählte sein Kommissar Proteo Laurenti vor allem  Rache-Aktionen, die auf politische Konflikte während des 2. Weltkriegs  zurückführen. Sein neuer Krimi „Entfernte Verwandte“ kreist ebenfalls um Verbrechen, die vor etlichen Jahrzehnten begangen wurden. Auch hier lautet Heinichens Leitmotiv mal wieder – wie schon der Titel seines vierten Triest-Krimis verkündete: „Der Tod wirft lange Schatten“. ­– Von Peter Münder

Für überraschende Erzählperspektiven und Plots war der auf den Schauplatz Triest fokussierte Autor Veit Heinichen, 64, schon immer gut: Da beschreibt (in „Die Ruhe des Stärkeren“) ein mit Drogen vollgepumpter Kampfhund seine Welt illegaler, für Zocker extrem lukrative  Hundekämpfe aus seiner Sicht. Im „Tod auf der Warteliste“ wird eine Beauty-Klinik für mafiöse Transplantationsgeschäfte eingesetzt, bei denen etliche gutgläubige Opfer auf der Strecke bleiben, während sich im rasanten Thriller „Borderless“  die grenzenlosen Machenschaften organisierter Kriminalität zwischen Triest, Rom, München, Salzburg und Rijeka wie ein Krebsgeschwür ausbreiten und auch Waffenschmuggel für ambitionierte  Nahost-Putschisten erfassen. 

Vielleicht ist sein elfter Triest-Krimi „Borderless“ auch deswegen Heinichens packendster Thriller geworden, weil die rabiate Kung-Fu Kämpferin Xenia Zannier  den Job des mitunter allzu betulichen Proteo Laurenti übernommen hat und ihre Ermittlungen gegen eine korrupte Senatorin ohne Rücksicht auf Verluste durchzieht. Die fulminante Action wird jedenfalls nicht von langatmigen Exkursen mit Zitaten aus historischen Archivunterlagen unterbrochen, auf die Heinichen sonst so großen Wert legte, weil er sich meistens ein oder zwei Jahre nur auf Recherchen konzentriert und „möglichst viel über Triest und seine historischen Hintergründe wissen will“, wie er  mir vor einigen Jahren bei einem Treffen in Triest  erklärte: „Schließlich will ich auch etwas vom Schreiben haben – der Krimi ist ja ein großartiges, optimales Medium für die Darstellung gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse.“

Armbrustkiller und Drohnen-Beobachtung 

Als Kommissar Laurenti zum Partisanen-Denkmal im Dorf Prosecco jagt, um den Tod eines hageren Alten aufzuklären, spürt er sofort, dass dieser Fall verdammt ungewöhnlich ist: Der im langen Ledermantel am Boden liegende Mann wurde kurz zuvor mit einer Armbrust erschossen, über dem Tatort kreist eine surrende Drohne, das Denkmal ist mit Hakenkreuzen beschmiert: „Hatte der Täter irgendwas mit dem Hakenkreuz zu tun? Hörte die Vergangenheit wirklich nie zu wüten auf?“, überlegt Laurenti. Und damit beginnt auch schon diese „ Suche nach der verlorenen Zeit“ bzw. nach Dokumenten, Briefen, Erinnerungen und Archiv-Unterlagen, die Indizien für die Aufklärung längst vergangener Konflikte liefern könnte. Vor rund 75 Jahren, so lernen wir aus den überlieferten Hinweisen der „entfernten Verwandten“, waren in Triest nicht nur Nazis, Bolschewiken, Engländer und Amerikaner in Kämpfe verwickelt, es gab auch gegen die deutschen Besatzer operierende Partisanen und gegen Tito agierende  Widerstandskämpfer. „Die Geschichte vergeht hier nicht“, erklärt Laurenti, „hier ging jeder auf jeden los, die Vergangenheit bricht immer wieder auf.“ 

Beim Büchsenmacher, einem Fachmann für seltene Schusswaffen, wird der Commissario nicht nur über die enorme Durchschlagkraft und die Möglichkeit zum blitzartigen Nachladen einer Armbrust aufgeklärt, sondern er erfährt nebenher auch noch Details über die italienische Doppelschrotflinte von Angelini & Bernardon Trieste, mit der sich Hemingway am 2. Juli 1961 das Leben nahm. 

Dann gibt es weitere Opfer an einem anderen Mahnmal, womit sich auch die Spekulationen über andere mögliche Täter-Gruppierungen verdichten: Kommen vielleicht auch linksextreme Organisationen als Tätergruppierungen in Frage oder etwa die Slowenische Heimwehr? Um sich Klarheit über all die Mutmaßungen und Widersprüche in diesen Vergangenheitsbewältigungsversuchen zu verschaffen, kontaktiert der Kommissar schließlich den Direktor vom Institut für die Geschichte des Widerstands. Die Ermittlungen gegen einige Verdächtige laufen zwar weiter, aber vorübergehend wird der Leser mit allzu ausführlichen Rückblicken, Briefzitaten und Tagebuchaufzeichnungen konfrontiert, die eher verwirren als für Klarheit zu sorgen. Natürlich hat Laurenti Recht mit seinem Hinweis, nur die Aufklärung vergangener Verbrechen könne neue Verbrechen verhindern. Doch das Abtauchen in die Untiefen verstaubter Archive wirkt wie ein ermüdender, überfordender Overkill. 

Abgesehen davon wirkt Heinichens Detail-Huberei hinsichtlich historischer Triest-Petitessen und  Schmuggler-Aktivitäten im Grenzgebiet keineswegs wie eine gelungene Trüffelsuche: Der Hinweis auf geschickte Täuschungsmanöver der Venezier im Jahre 828, als sie die Reliquie ihres Patrons San Marco unter Schweinefleisch versteckt an Muslimen vorbei aus Alexandria schmuggelten, ist wohl eher nur für Fußnoten-Fetischisten von besonderer Relevanz. Wenn Heinichen dann noch das Segment „Küchen-Krimi“ bedienen will und erklärt, dass der Begriff Pasta/Paccheri auf die antike griechische Besiedlung Süditaliens zurückgeht und „Volle Hand“ bedeutet – während sein Serienheld Laurenti in einer großen Pfanne Sardellenfilets bei niedriger Hitze auflöst, Pepperoncini kleinhackt und Semmelbrösel röstet, dann blende ich nicht nur dieses Rezept für ein „preiswertes und schmackhaftes Notgericht“ aus, sondern tendiere auch dazu, diesen Roman als „Not-Krimi“ zu klassifizieren. 

Vielleicht hatte ja der im Roman erwähnte Schweizer  Analytiker und Soziologe Paul Parin Recht, als er Triest nicht als Mythos verklärte, sondern  klarstellte: „Triest ist eine italienische Stadt auf slowenischem Boden mit österreichischer Geschichte. Ihre Kultur ist nicht italienisch und auch nicht slowenisch oder deutsch, sie ist provinziell und kosmopolitisch zugleich.“

Peter Münder

Veit Heinichen: Entfernte Verwandte. Commissario Laurenti ahnt Böses. Piper Verlag, München 2021. 320 Seiten, Hardcover, 20 Euro.     

Peter Münder begleitet Veit Heinichen schon eine ganze Weile. Hier einige seiner Texte:
Zum Beispiel über „Die Ruhe des Stärkeren“ (2009)
Keine Frage des Geschmacks“ (2011)
Im eigenen Schatten“ (2013)
Borderless“ (2020)

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