Mehr Bomben, mehr Truppen, mehr Dollar-Milliarden, mehr Lügen – aber wer ist der Feind?

Krieg gegen den Terror oder „Nation Building“? Der „Washington Post“-Journalist Craig Whitlock präsentiert in „The Afghanistan Papers“ eine vernichtende Bilanz des 20jährigen desaströsen US-Einsatzes in Afghanistan. – Von Peter Münder.
„After the war, the Soviet general staff analyzed the reason for the deafeat , the deaths of nearly 15 000 soldiers and the wounding of another 50 000 .They focused on the nature of guerilla tactics that had been used against them. That report might have been written about Tito’s Partisans or Ho Chi Minh´s Viet Minh. …When the last Russian troops crossed the Amu Darya river into Soviet territory in February 1989 at least one million Afghans had died.“ (William R. Polk: Violent Politics. A History of Insurgency, Terrorism & Guerilla War From the American Revolution to Iraq. Harper Perennial, New York 2008)
Nach den Terror-Attacken der al-Qaida vom 11. September 2001 dauerte es nur drei Tage, bis der US-Kongress militärische Vergeltungsschläge der Bush-Regierung gegen al-Qaida und sämtliche Unterstützer-Netzwerke genehmigte. Schon am 7.Oktober 2001 begannen die ersten Bombardements in Afghanistan – was die meisten Amerikaner mit ähnlicher Begeisterung begrüßten wie ehedem die Angriffe auf Japan nach dem Überfall auf Pearl Harbor. Nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan stellen wir nun 20 Jahre nach dem ersten US-Einsatz in Afghanistan schockiert und konsterniert fest, dass diese Intervention am Hindukusch länger andauerte als alle früheren Kriege in der amerikanischen Geschichte. Aus einem gezielten Vergeltungsschlag gegen eine Terroristengruppe war ein zwanzigjähriger Krieg geworden, in dessen Verlauf fast 800.000 US- Militärs in Afghanistan eingesetzt wurden, 2.300 starben und 21.000 verwundet wurden. Nach Schätzungen der US-Regierung hatte man in diesem Zeitraum rund eine Billion US Dollar für das Afghanistan-Fiasko ausgegeben. Dass aber schon während der zehnjährigen russischen Afghanistan- Intervention von 1979-1989 über eine Million Afghanen ums Leben kamen, scheint in all diesen Rückblicken keine Rolle mehr zu spielen.

Der „Washington Post“-Journalist Craig Whitlock, 53, hatte während der US-Einsätze in Afghanistan oft vor Ort recherchiert und sich damals schon gefragt: Was alles war da eigentlich aus dem Ruder gelaufen? Gab es irgendwelche Konzepte? Wollte man demokratische Strukturen aufbauen, hatte man überhaupt eine Exit-Strategie? Und wie war es möglich, trotz aller Defizite und deprimierenden Erfahrungen mit afghanischer Korruption, Analphabetismus, xenophobischer Aversion der Einheimischen sowie der extremen Inkompetenz im eigenen amerikanischen Militär- und Bürokraten-Apparat stur am Aberglauben eines erfolgversprechenden US- Konzepts festzuhalten, das es gar nicht gab? Offenbar hatte auch keiner der amerikanischen Generäle die „Pentagon Papers“ gelesen – denn fast alle im Vietnam-Krieg begangenen Fehler wurden in Afghanistan ignoriert. Was wohl auch, wie Whitlock betont, an den zeitweise gleichzeitig ausgefochtenen Einsätzen gegen Terroristen im Irak und in Afghanistan lag.
Nation Building, Geld als wichtisgte Munition im Krieg und „Islam for Dummies“
Über drei Jahre lang lag Craig Whittlock mit dem Pentagon, diversen US-Geheimdiensten und anderen Behörden im juristischen Clinch, um über den Freedom of Information Act Einsicht in Geheimpapiere und die „Lessons Learned“-Interviews mit Pentagon- und White House-Beamten sowie Militärs zu gewinnen, in denen statt der öffentlich abgesonderten optimistischen Prognosen zum Verlauf des militärischen Einsatzes in Afghanistan die niederschmetternden Einschätzungen von US-Militärs festgehalten sind, die am Hindukusch im Einsatz waren. Statt eines „vielversprechenden Fortschritts“ in vielen Sektoren waren – ähnlich wie damals im Vietnam-Krieg – meistens Rückschläge und katastrophale Meldungen über Korruption, zivile Opfer, die Unfähigkeit afghanischer Einsatzkräfte und grobe Fehleinschätzungen hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft afghanischer Einsatzkräfte konstatiert worden. Aber wie damals General Westmoreland die Einsätze in Vietnam als erfolgversprechend pries und vernichtende US-Niederlagen einfach ausblendete, so verdrängten und bestritten amerikanische Militärs und Politiker ebenfalls alle gravierenden Rückschläge am Hindukusch.
Whitlocks Analysen erinnern an vielen Stellen stark an Ibsens Theaterstücke, in denen das Motiv der Lebenslüge thematisiert wird: Die harsche Realität wird mit immer neuen Konstrukten und Notlügen beschönigt. Der Krieg gegen Terror und Drogen, Korruption, Analphabetismus und Nepotismus versagt auf allen Ebenen und in allen praktizierten Varianten – doch die offiziellen Verlautbarungen verkünden unverdrossen, demnächst wäre der endgültige Sieg erreicht und ein baldiger Truppenabzug möglich. Whitlock filtert die vielen neuralgischen Schwachpunkte und Widersprüche der US-Strategie aus dem Wust der „Lessons Learned“-Interviews mit damals beteiligten Militärs genau heraus: Nachdem die offizielle Doktrin lautete, in Afghanistan soll kein Nation Building betrieben werden sondern Terroristen zur Strecke gebracht werden, soll plötzlich mitten in einem von Taliban beherrschten Gebiet ein gigantischer Staudamm zur Elektrifizierung von Kandahar gebaut werden, um die „Herzen der Afghanen zu erobern, die an ein Leben ohne elektrischen Strom gewöhnt waren“. Whitcroft zitiert dazu einen USAID-Mitarbeiter: „Warum glauben wir, dass die Menschen aufhören würden, die Taliban zu unterstützen, weil wir sie mit Elektrizität versorgten, obwohl sie gar nicht wussten, was sie damit anfangen sollten?“
Der Glaube an Geld als Waffe
Als General Petraeus bei einer Anhörung im Repräsentantenhaus sich dezidiert zu diesem Aufbau staatlicher Strukturen in Afghanistan bekennt, ist die Verblüffung auf allen Seiten groß – schießlich hatten die Präsidenten Bush und Obama immer bestritten, Nation Building zu betreiben. Und nach ihnen hatte Präsident Trump das Afghanistan-Abenteuer eher als eine Art Football-Spiel verstanden, bei dem er unbedingt siegen wollte. Auch am Hindukusch ging es dem Egomanen aus dem Weissen Haus nur um sein „Winner“-Image, seinen Erfolg. Der war ihm natürlich genauso wenig gegönnt wie seinen Vorgängern.
Dass man mit der Verschwendung von Dollar-Milliarden eine Strategie zur Aufstandsbekämpfung und für einen Strukturwandel in umkämpften Gebieten Erfolg haben könnte, ist sicher eine typisch amerikanische Marotte. General Petraeus war jedenfalls ein überzeugter Anhänger dieser „Money as a Weapon“-Strategie. Sie setzte auf private Investoren, auf Großprojekte und musste möglichst schnell und meistens unkontrolliert umgesetzt werden, weil der militärisch-politische Druck immer stärker auf umgehende Erfolgserlebnisse fixiert war. Das Ergebnis war ein dadurch angeheizter Prozess zügelloser Korruption: Bauprojekte wurden mit Millionen gefördert, für die es keine Pläne gab, Drogenbarone wurden für das Vernichten von Mohnfeldern bezahlt, die jedoch weiter florierten usw. Der größte Fehler der US-Strategie war laut Whitlock jedoch eine Hybris des US-Staatsapparats, die nach klassischer Imperialismus-Ideologie vorging und Institutionen, Verwaltungs-Strukturen, Verhaltensweisen sowie kulturelle Traditionen aus der herkömmlichen Aggressor-Perspektive beurteilte und die eigenen Muster dem angegriffenen Land aufdrängen wollte. Kein Wunder, dass der australische Enthüllungsreporter und Spionage-Experte Phillip Knightley schon zur Zeit der geplanten amerikanischen Irak-Invasion davon sprach, dass „Präsident Bush nichts weiter will, als zu beweisen dass Amerika auch in Zukunft der Top Dog der Welt bleibt“.
„Who are the bad guys?“
Ein entscheidender Faktor für das Afghanistan-Desaster war auch der Culture Clash, der durch fehlende Sprachkenntnisse und eine Art „Islam for Dummies“-Dumpfbacken-Ignoranz verursacht wurde, die sich in Termini wie „Scheich“ ausdrückte, die sogar in offiziellen Schreiben verwendet wurden. Diese Bezeichnung wird in Afghanistan jedenfalls nicht verwendet. In seinen kurzen, pointierten „Schneeflocken“-Merkzetteln, die Verteidigungsminister Rumsfeld auf die Tische der Kollegen schweben ließ, hatte er auch einmal notiert: „Who are the bad guys?“ Und die andere, oft gestellte Frage von Generälen und Politikern war ja auch: Worin unterscheiden sich eigentlich Taliban und al-Qaida? Die allgemeine Ignoranz wird jedenfalls nur noch vom Vertrauen auf brutale Kampfkraft und die Überlegenheit tödlicher Technik übertroffen. Wie aber die Kampfeinsätze mit Nation-Buildung-Projekten koordiniert werden können und warum nach der erfolgreichen Liquidierung des Terroristen bin Laden kein Truppenabzug erfolgt, kann weder ein Präsident, noch der Verteidigungsminister erklären.
Whitcroft gelingt es, die Demontage eines monströsen, mit Billionen gefütterten Militär-und Verwaltungs- Apparats sowie einer ideologisch total ins Abseits gedrifteten Supermacht von den beteiligten Strategen und Entscheidungsträgern mit ihren eigenen Aussagen zu betreiben. Aber die preisgekrönte Washington Post-Spürnase hatte eben auch, wie Daniel Ellsberg während des Vietnam-Krieges, das enorme Erkenntnissinteresse und die Entschlossenheit eines Zehnkämpfers, um die „wahre Geschichte“ hinter all den offiziellen Lügen festzuhalten. Was für ein wichtiger Eye-Opener!
Peter Münder
Craig Whitlock: Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg (The Afghanistan Papers. A Secret History of the War, 2021). Mit einem aktuellen Nachwort zum Rückzugaus Afghanistan. Aus dem Amerikanischen von Ines Bergfort, Christiane Frohmann, Stephan Gebauer, und Ralf Vogel. Econ Verlag, München/ Berlin 2021. 400 Seiten, 24,99 Euro.