Bitte nicht in Platons Höhle fotografieren!
Schon mit der Erfindung der ersten Kameras begannen die kritischen Diskussionen und Spekulationen über Fotografie: Würden diese neuartigen Fotos der klassischen Malerei den Rang ablaufen und die bildende Kunst vielleicht obsolet werden lassen? Würden die in Großserien billig produzierten Kameras – „wie eine Räuberwaffe angepriesen, automatisiert und stets einsatzbereit“, polemisierte Susan Sontag 1977 in ihrem Essay „On Photography“ – uns zumüllen mit einer Bilderwelt, die kaum noch abgespeichert werden kann? Dienen Familienfotos, Reisefotos, Jubiläumsbilder nur der Bestätigung eines melodramatischen Nostalgie-Effekts? Können Kriegs-Fotos abschreckend oder aufklärend wirken? – Über den Fotografie-Führer von David Bate, der einen Überblick über künstlerische Entwicklungen, Ausstellungen und Gruppierungen, renommierte Fotografen und Forschungsprojekte mit fotografisch belegten soziologischen Studien (vgl. Dorothea Lange: „An American Exodus“) präsentiert, berichtet uns Peter Münder.
Als „World Press Photo of the Year“ wurde in diesen Tagen Amber Brackens Bild von Holzkreuzen ausgezeichnet, die mit roten Kleidern drapiert sind. Für die New York Times hatte die Kanadierin dieses Foto angefertigt, das an indigene Kinder erinnern soll, deren Leichen in der Kamploops Indian Residential School im letzten Jahr in 215 Gräbern gefunden wurden. Sie waren Ende des 19. Jahrhunderts von ihren Eltern gewaltsam getrennt worden und Opfer einer „christlichen“ Umerziehungs-Doktrin gewesen. Dieses Bild, erklärte die Jury-Vorsitzende Rena Effendi, habe sich sofort in ihr Gedächtnis eingebrannt: „Ich konnte die Stille auf diesem Foto fast hören, es ist ein stiller Moment globaler Abrechnung für die Geschichte der Kolonialisierung.“ Dieser Preis für ein aus Holzkreuzen bestehendes „Bühnenbild“ – so nennt es die ehemalige World Press-Jurorin Barbara Strauss – das durch ein geheimnisvolles Licht dramatisch aufgeladen wird und allein durch seine Hintergrundinformationen über den Tod von rund 4100 misshandelten, gequälten Schülern in British Columbia große Betroffenheit und Wirkung erzielt, bricht mit einer langen World-Press-Tradition. Denn es bewertet nun die Geschichte zum Bild höher als das Bild selbst.
Aber können wir genau einordnen, warum uns ein Foto fasziniert, beeindruckt oder verstört? Und welche Aspekte dabei entscheidend sind?
Als sich der französische Kulturkritiker Roland Barthes (1915-1980) intensiver mit Fotografie und der Aussagekraft von Bildern beschäftigte, war er zuerst stark verunsichert, weil er orientierungslos nach Eckdaten und Kriterien zur Einordnung von Fotografen, Traditionen und Künstlergruppen suchte. Erst nach dem Betrachten und Vergleichen vieler Bilder- darunter auch verstörende Kriegsbilder aus Nicaragua – kam er zu der Einsicht, dass ein starkes, beeindruckendes Foto für ihn die Anziehungskraft eines „Abenteuers“ ausüben müsste. Und wenn ein Foto eine besonders anziehend war, fühlte sich Barthes „beseelt“.
Im Kontext der Diskussion über den kulturellen Stellenwert von Fotografie, Fotos und über die politische Sprengkraft von Bildern hatte Susan Sontag in ihrem Essay „On Photography“ von 1977 bereits weit ausgeholt und Platons Höhlengleichnis („Politeia“/ Der Staat, 7. Buch) bemüht, das ja auf eine Umerziehung zum „richtigen Sehen“ hinausläuft. Ihre Attacke gegen das „falsche Sehen“ richtete sich gegen die antiquierte, aus der Sicht von gefesselten Höhlenbewohnern eingenommenen rigiden Perspektiven auf Schattenbilder, die wir modernen Liberalen schleunigst über Bord werfen sollten. Doch in all diesen philosophisch-ästhetischen, rhetorisch redundanten Untiefen gibt es eine Stelle, die betroffen macht und die Ernsthaftigkeit und Intensität ihrer Überlegungen offenbart und illustriert, worauf ihr intellektueller Furor basiert – nämlich auf KZ-Schreckensbildern: „Die erste Begegnung mit der fotografischen Bestandsaufnahme unvorstellbaren Schreckens ist eine Art Offenbarung, wie sie für unsere Zeit prototypisch ist: eine negative Epiphanie. Für mich waren dies die Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau, die ich im Juli 1945 zufällig in einer Buchhandlung in Santa Monica entdeckte. Nichts, was ich jemals gesehen habe – ob auf Fotos oder in der Realität –, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. Und seither schien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah (ich war damals zwölf Jahre alt) und die Zeit danach – obwohl noch mehrere Jahre verstreichen mußten, bis ich voll und ganz begriff, was diese Bilder darstellten. …Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens…“
Bezeichnend für Susan Sontags fotografisches „Erweckungserlebnis“ ist ihr dadurch entwickelter, im gesellschaftspolitischen Kontext argumentierender, aufklärender Standpunkt, den sie vor allem während des Vietnamkriegs entwickelte und der sie auch motivierte, während des Krieges nach Hanoi zu fliegen, um ihre Sympathie für Nord-Vietnam zu demonstrieren. „Durch Fotos kann eine moralische Position zwar nicht geschaffen, wohl aber verstärkt… und gefördert werden“, konstatierte sie. Denn im Gegensatz zur TV- Bilderflut mit aneinandergereihten Bildern verwandle sich ein einzelnes Standfoto in einen bevorzugten Augenblick, weil man es immer wieder betrachten kann, ohne dass es an Intensität einbüßen würde. Das 1972 von Nick Ut geschossene Bild des nackten Mädchens, das nach einem US-Napalm-Angriff aus seinem Dorf flüchtet, hätte die amerikanische Öffentlichkeit jedenfalls stärker beeinflusst und in ihrer Aversion gegen diesen Krieg bestärkt, so argumentierte sie, „als hundert Stunden im Fernsehen ausgestrahlte Barbareien“.
In heutigen Instant Picture-Instagram-Zeiten stellt sich vielleicht auch die Frage, ob ein „einzelnes Standfoto“ tatsächlich noch diese besondere Aura vermitteln kann. Noch radikaler, nämlich als eine Art „Hallo-Wach“-Aufputschmittel, um endlich die brutale Realität zu erkennen, versteht der englische Kriegsfotograf Don McCullin, Jahrgang 1935, seine Bilder. Er gewann den World Press Photo Premier Award 1965 für seine verstörenden Kriegsbilder aus Zypern. McCullin war vier Jahre in Vietnam im Einsatz und hat Bilder von obszöner, mörderischer Grausamkeit in Biafra, Kambodscha, Uganda, Niger, Libanon geschossen, die bei den Redakteuren der „Sunday Times“ oder beim „Observer“ meist Reaktionen auslösten wie „So etwas Grauenhaftes habe ich noch nie gesehen, das wird die Titel-Story!“ McCullin erklärte dem Magazin Granta (Band 14, 1984/ Autobiography): „Meine Bilder sollen die Realität abbilden – möglichst ungeschminkt, brutal und realistisch. Ich machte Fotos mit gebrochenen Rippen und in direkten Schußlinien von Scharfschützen und kam erst nach langer Zeit darauf, was meine eigentliche Mission war – nämlich die Herzen und die Weltsicht selbstgefälliger Biedermänner mit meinen Bildern zu erschüttern.“
Von 1839 bis heute: David Bate informiert über Foto-Pioniere, Piktorialismus, Postmoderne und Ausstellungen
Der englische Fotograf und Professor für Fotografie an der Londoner Westminster University David Bate ist Mitherausgeber des Magazins „Photographies“ und hat etliche Bücher zur Geschichte der Fotografie veröffentlicht. Er schlägt einen großen Bogen von 1839 (Daguerre/Paris) bis 2019 (Sameer Tawde/Indien), wobei er auch wichtige Ausstellungen wie die im Londoner Crystal Palace von 1851 präsentierte „Great Exhibition“ (mit 3D-Bildern, Daguerrotypie und 700 Fotografien) sowie Ausstellungen der Surrealisten in London 1936 und Paris 1938 berücksichtigt und im Kontext der Dokumentarfotografie und Sozialprogramme während der Great Depression Dorothea Lange und ihr von der Farm Security Administration unterstütztes Projekt „An American Exodus“ beschreibt, das die triste Lage der Wanderarbeiter dokumentierte. Wichtige Entwicklungs-Etappen werden mit exemplarischen Bildern festgehalten: Etwa August Sanders Typologie, die mit 60 Fotos unterschiedliche Berufsgruppen vorstellte, um damit einen „typischen“ Eindruck zu vermitteln. Diane Arbus (1923-1971) wird als Spezialistin für Exzentriker und Außenseiter gewürdigt, und natürlich auch Cartier-Bresson (1908-2004), der Kenner des „Decisive Moment“. Mit Edward Steichen (1879-1973) und seiner stimmungsvollem nächtlichen Impression „The Pond“ von 1904 lernen wir einen unermüdlichen Industrie-Werbe-und Kriegsfotografen kennen, der bahnbrechende Ausstellungen wie „The Family of Man“ 1955 kuratierte. Japanische Fotografinnen wie die experimentierfreudige Miyako Ishiuchi (Jahrgang 1947) beeindrucken mit düster-trostlosen Szenen, die US-Militärbasen in der japanischen Provinz zeigen. Mit dem Porträt des avantgardistischen Kanadiers Jeff Wall wird der Führer abgerundet.
David Bate präsentiert also einen ziemlich umfassenden Überblick über Entwicklung und Geschichte der Fotografie mit beeindruckenden Bildern. Doch seine Klassifikations-Kriterien kann ich nur teilweise nachvollziehen: Im Kapitel Piktorialismus wird Alfred Stieglitz mit dem Dampflok-Bild „The Hand of Man“ vorgestellt, Robert Demachy als einer der ersten französischen Autofahrer und „Speed Freaks“ mit seinem Bild „Speed“ von 1904 – beide sollen den Übergang der Fotografie zur bildenden Kunst illustrieren; aber das könnten sicher auch einige Dutzend andere, aus völlig unterschiedlichen Epochen. Nur: Erhellt dieses Etikett irgendwelche weiteren Erkenntnisse? Die Schubladen für „Postmoderne“ (Ausstellung „Pictures“, Cindy Sherman, Barbara Kruger, Andreas Serrano und Laurie Simmons) sowie „Konzeptkunst“ wirken auch ziemlich ambivalent und überfrachtet.
Die Kategorie „Kriegsfotografie“ gibt es für David Bate nicht, auch keinen Hinweis auf die berühmtesten Kriegsfotografen Robert Capa und Don McCullen oder auf das aufsehenerregende Foto von Eddie Addams, das den General Ngoc Loan zeigt, der einen gefangenen Vietkong am 1. Februar 1968 in Saigon erschießt – es heizte den kritischen Diskurs in den USA extrem an und verstärkte die Forderungen nach einem Ende des Vietnam-Krieges. Und wo ist ein Eintrag zu Walker Evans geblieben, dem fotografischen „Entdecker Amerikas“? Vormerken für die nächste Auflage!!!
Immerhin: Die 110 Illustrationen dieses Führers sind überzeugend, die Hinweise auf weiterführende Literatur nützlich, Index und Glossar ebenso.
Peter Münder
David Bate: Fotografie. Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Koch und Kathrin Lichtenberg. Midas Verlag, Zürich 2021. 175 Seiten, 14,90 Euro.
Zum Thema Fotografie vgl. auch:
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp 2009, 138 S.
Don McCullin: Unreasonable Behaviour. An Autobiography. Vintage London 1992, 287 S.
Peter Münder: Don McCullin – The Impossible Peace: Zur Berliner Ausstellung. CulturMag 20. Febr. 2010
Susan Sontag: Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. Hanser Verlag 2002, 200 S.
Bernd Stiegler/Felix Thürlemann: Meisterwerke der Fotografie. Reclam Stuttgart 2011, 335 S. (mit 150 Abbildungen)