Geschrieben am 1. April 2020 von für Crimemag, CrimeMag April 2020

Peter Münder: Morbider Rostlauben-Charme

„Rost in Peace“ nannte der Photograph Heribert Niehues seinen ersten Bildband, in dem er die ästhetisch faszinierende Symbiose von Lost Places und derangierten Autos in Bildern von betörender Intensität festhielt. In diesem  zweiten Bildband „Poesie der Vergänglichkeit“ zelebriert Niehues  diese Dekadenz eingebettet in Kulissen  verlassener Tankstellen, Diner, Motels und Farmhäuser, wobei der Bezug zu schrottigen  Autos einen spezifisch morbiden Charme entwickelt.  Von Peter Münder   

Für europäische Besucher amerikanischer  Ghost Towns ist es ebenso faszinierend wie irritierend, beim Betrachten all der verlassenen Goldgräber-Siedlungen und der zurückgelassenen Habe der Goldsucher auch noch Zeuge eines schmerzhaften Prozesses zu sein: Man blickt etwa auf einen primitiven Ofen, auf dem noch verschimmelte Töpfe stehen und bildet sich ein, die Bewohner hätten eben grade ihre Holzhütte verlassen – ohne vorher ordentlich aufzuräumen oder draußen eine gepflegte Wiese zu hinterlassen, wie man das etwa in Schwaben oder im Sauerland erwarten würde.

Ähnlich ist der Effekt, den die beeindruckenden Photos des Maschinenbautechnikers,  Autors und Photographen Heribert Niehaus evozieren. Die meist überwucherten Lost Places beherbergen vom Rost zerfressene US-Straßenkreuzer, die  immer noch imposant wirken und den Auto-Fan ins Grübeln über Objektbeziehungen und die  mentale Stärke der „Immer weiter westwärts!“-Pioniere bringen, die sich nicht an profanen Alltagsklimbim klammerten, sondern alles liegen ließen. Aber wie konnten die Midwest-Farmer oder die Betreiber der verlassenen Diner und Tankstellen einen einst so grandiosen 1950er Hudson Pacemaker einfach so stehen und verrotten lassen? Was veranlasste den Farmer in Colorado, seine Holzhütte und die Garagen nur halb leergeräumt fluchtartig zu verlassen und seinen wunderschönen, rostroten 1956er Studebaker Hawk im wildwuchernden Gestrüpp stehen zu lassen? Auch der Betreiber eines früher noch schmucken Diners in New Mexico hatte das komplette Mobiliar samt Küchenutensilien und Bestellzettel einfach so hinter sich gelassen und war dann mal weg. Ansichten völlig desolater Räume mit zerbrochenen Möbeln, im Holzboden eingesunkenem Klavier und vergammeltem Sperrmüll wirken wie ein von Vandalen arrangiertes Horror-Szenario. An verlassenen Tankstellen stehen auch noch langsam zerbröselnde Autos herum. War  etwa das eherne Gesetz außer Kraft gesetzt, das Tom Wolfe in seiner brillanten, epochalen Custom-Car-Reportage „The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline-Baby“ 1963 so umschrieben hatte: „Cars are freedom, style, sex, power, motion, color- everything is right there“. Was blieb dann also, wenn diese Universal-Symbole extremer Lebensqualität verloren gingen oder absichtlich einem Verrottungsprozeß überlassen wurden? Ja, „Sorry we are closed“- die Schilder an Motels, Tankstellen und Diners sah man in den 50er und 60er Jahren immer öfter. Aber was war da los? 

Niehues verweist in seinem sehr informativen Text auf die ökonomisch- gesellschaftspolitischen Eckdaten, die mitverantwortlich waren für diesen Prozess der Verwahrlosung bestimmer ländlicher, an Nebenstraßen gelegenen Regionen, die nach dem Bau von Super-Highways  „überflüssig“ geworden waren für einen auf Monster-Trucks und Turbo-Tourismus zugeschnittenen Massenverkehr. Das hehre, immer und überall propagaierte Mobilitäts-Postulat hatte ja schon zur Zeit der Pioniere oberste Priorität. Niehues verweist zurecht auf Thomas Jeffersons „kolossale Fehleinschätzung“ hin, dass es noch“ tausend Jahre bis zur totalen Besiedlung des amerikanischen Kontinents“ dauern würde. Aber kaum etwas ging in Amerika ja so schnell voran die Erschließung des Kontinents durch die transkontinentale Eisenbahnstrecke (Mai 1869) und durch den schnellen Bau von Highways, die nach Henry Fords  Fließbandproduktion eine enorme Motorisierungswelle auslösten: Der Lincoln Highway von New York City nach San Francisco mit einer Länge von 5454 Kilometern war 1913 fertiggestellt, zehn Millionen Autos waren bereits Anfang der 1920er Jahre in den USA zugelassen, vom Ford-T-Modell wurden 1922 fast 1,2 Millionen Exemplare verkauft- das Mobilitäts-Thema war also in den USA eigentlich schon seit der Verabschiedung der Verfassung eine Art Appendix mit dem Tenor: Jeder Amerikaner hat das Recht auf unbeschränkte Mobilität.  

Sich dann vom American-Dream-Symbol zu trennen, das Haus oder das Motel, die Tankstelle oder den Diner aufzugeben und den Umzug in neue Gefilde zu wagen – dazu gehörte viel Mut, der wohl aus großer Verzweiflung resultierte. Wie etwa im Sommer 2012  in den Cornbelt-Staaten:  Tausende wurden damals  vertrieben, als die monatelange Hitzewelle  Mais und Getreide verdorren ließ und das  Vieh notgeschlachtet werden musste.   

Eingebettet in diesen  „Survival of the Fittest“-Kontext bringt Niehues das Kunststück fertig, ästhetisch ansprechende und aufregende Impressionen zu präsentieren, deren melancholisch wirkende Dekadenz so intensiv wirkt wie auf einem präraphelitischen Szenario von Rossetti. Wenn etwa ein völlig  lädierter, zerbeulter 1965er VW-T1Bulli am rechten Vorderrad von einem Baumstamm mit der Kraft eines Wagenhebers zerdrückt und angehoben wird, kommt die gebeutelte  Natur trotz aller morbider Zerfall-Faszination wieder zu ihrem Recht-als wollte sie signalisieren: Ohne Nachhaltigkeitsprinzipien geht es nicht! Die Weite der Prärie, das knallige Kaktus-Grün oder das alles überwuchernde Gras- und Wald-Gestrüpp kommt hier auf den Photos sozusagen als mahnender Kontrapunkt souverän zur Geltung. Die bizarren, gen Himmel strebenden Cadillac- Heckflossen, die erhaben ins Rost-Stadium mutierenden Studebaker-Deluxe-Champion Coupes von 1950 oder der im verschneiten Utah vor einem abgewrackten Motel frierende bombastische 77er Lincoln Continental wirken vor diesem Hintergrund wie Installationen, die in sich ruhen und bei Hegels Doppelsatz- Verdikt Trost finden: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (oder vielleicht verrostet??)

 Die zu einer verwelkten Tankstelle passende Horror-story im Stil eines üblen Pulp-Krimis, die Niehues als Hintergrund-Detail liefert,  wollen wir lieber nicht detailliert beschreiben (Tankstellenbesitzer wird nachts in die Arizona-Wüste gelockt, ausgeraubt und erschlagen); umso rührender ist die Geschichte von der Tante-Emma-Tankstelle, die vom Ehepaar Harvey und Dixie in Alabama 1945 eröffnet  und bis 2012 betrieben wurde, als sie im stolzen Alter von hundert Jahren starb.

Keine Frage: Dieser Mix von eskapistischer Grandezza, dekadenter Auto- und Diner-Faszination und informativen Exkursen (sogar mit Angaben über die Tanksäulen-Hersteller!) ist einfach unwiderstehlich.

Zu Heribert Niehue`s Hintergrund bleibt noch anzumerken, dass er vor ca. 45 Jahren mit analogen Spiegelreflex-Kameras seine Begeisterung für Photographie auslebte, sich eine Dunkelkammer zulegte und dann auf die digitale Photowelt umstellte. Er ist Altauto- und Amerika-Fan und wurde mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet.

  • Heribert Niehues: Poesie der Vergänglichkeit – Lost Places in den USA. Delius-Klasing-Verlag Bielefeld 2020, 178 S. Großformat 27×29 cm

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