Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Peter Münder liest Christian Schultz-Gerstein

Kritischer Analytiker des Dörrzeugs aus dem humanistischen Herbarium

Über Christian Schultz-Gersteins Reportagen, Porträts und Glossen im Band „Rasende Mitläufer, Kritische Opportunisten“ – von Peter Münder

Er hatte in Hamburg und Tübingen Germanistik und Theologie studiert, als er sich vorzustellen versuchte, wie es mit ihm weitergehen sollte: die absehbaren Stationen „Lehrer, Pension, Tod“ nach dem Staatsexamen erschienen dem 25jährigen  Christian Schultz-Gerstein (1945-1987) jedenfalls so unattraktiv, dass er sein Studium abbrach und 1970 als Freier Autor für die „Zeit“ zu schreiben begann. Sein erster Beitrag war eine Kurzrezension über eine Gottfried-Keller-Klassikerausgabe, danach kaprizierte er sich auf Autoren-Porträts, von denen die meisten eher blass und distanziert ausfielen: Robert Walser, Peter Handke, Gerhard Zwerenz und der Weltuntergangs-Apostel Oswald Spengler waren darin so moderat  behandelt, als sollte der vom Kritiker verabreichte Puderzucker die Belanglosigkeit oder verschwurbelte Erlösungs-Lyrik – wie etwa in Handkes Stück „Über die Dörfer“ –möglichst  unauffällig kaschieren. Immerhin konnte sich der Kritiker mit drastischem Sarkasmus aus diesem „Tante-Emma-Laden der Religiosität“ und dem „Reich andächtiger Verehrung fürs Kleine Latinum“ verabschieden. Aber warum sollten wir heute noch mit Handkes groteskem Szenario pathetischer Lächerlichkeit behelligt und durch die Dörfer gejagt werden? Wollen wir wirklich der Frage nachgehen, ob „Beton zu Urgestein gedacht werden kann?“    

Die von Willi Winkler nun in der SZ bejubelten „flammenden Verrisse“ Schultz-Gersteins  waren in dieser Frühphase jedenfalls noch kaum zu erahnen. Auch das Markenzeichen „Reißwolf“, das der Verleger Klaus Bittermann in seinem Nachwort bemüht, hatte sich Schultz-Gerstein erst später beim „Spiegel“ verdient. 

Dabei hatte sich in seine aggressiv-aversive Grundstimmung des Denkmalstürzers auch die Tendenz zur introspektiven kafkaesken Nabelschau eines bemitleidenswerten Opfers gemischt. Seine Thesen über den Stellenwert des  Warenzeichens „Zeit“, das ihm als Autor ja eigentlich alle Freiheiten bot, waren übrigens von Anfang an mit skeptischen und selbstkritischen Vorbehalten durchzogen: „Wie und worüber ich schreibe, wird bedeutungslos angesichts der Tatsache, daß das, was ich schreibe, in der „Zeit“ steht. Nicht auf den Inhalt kommt es an, sondern auf das Warenzeichen, das für den Inhalt dann schon garantiert.“ Das vom Medium projizierte Image und die damit verbundene Erwartungshaltung schien den Autor zu überfordern, denn er sah sich  als „Überperson“, umzingelt von strammstehenden Kohorten, die den Repräsentanten einer bewundernswerten  Institution verehren wollten, wie er damals behauptete: „Denn du, der du für die „Zeit“ schreibst, bist die Institution, vor der sie strammstehen und so kopflos werden, daß sie keinen eigenen Gedanken mehr zu fassen wagen.“

Auch seine Reportage über einen Freiburg-Besuch auf den Spuren Heideggers ist in ein güldenes, mildes Licht sanfter Schwarzwald-Ironie getränkt. Unüberhörbar dabei der Tenor: „Sind sie nicht putzig, diese treuen, einfältigen Bauern, die ihren großen Denker vor dem „nichtenden Nichts“ der Neuzeit abschirmen wollen, aber die Werke des Schwarzwald-Philosophen nie gelesen haben?!“

Dass der junge Autor eher gehemmt und mit angezogener Handbremse ans Werk ging und ein Vergleich mit experimentierfreudigen US-Stürmern und Drängern des „New Journalism“ wie Tom Wolfe, Hunter S. Thompson, Terry Southern, Joe McGinnis u.a. ziemlich abwegig wäre, lag wohl auch an den Komplexen und historischen Barrieren, die deutsche reaktionäre und faschistoide Vätergenerationen ihren Söhnen mit auf den Weg gaben, während die Message der US-Nachkriegsväter an ihren Nachwuchs in bewährter Pionier-Tradition meistens nur auf die Botschaft hinauslie : „Step on it, get going, the sky is the limit.“

Jedenfalls hatte sich Schultz-Gerstein schon in seinem selbstreferentiellen „Zeit“-Traktat mit der autoritären Vaterfigur (einem Oberlandesgerichtsrat) beschäftigt: Dieser „gedankenlose Reaktionär“ würde die Zeit-Artikel seines Sohnes zwar wie kommunistische Hetzkolumnen interpretieren, sie aber trotzdem ausschneiden und im Tresor aufbewahren. Beängstigend und einschüchternd lauerte außerdem Bernward Vesper mit seinem fragmentarischen Roman-Essay „Die Reise“ im Hintergrund. Dieses jahrelang geplante und immer wieder überarbeitete, schließlich 1977 veröffentlichte Projekt war Abrechnung und Nachlaß einer ganzen Generation geworden, „deutsche Bilderbuch-Tragödie mit abgrundtiefer Hoffnungslosigkeit“, wie Schultz-Gerstein befand.

Vespers Einweisung in die Psychiatrie und  dessen Selbstmord 1971 in Hamburg hatte ihn  jedenfalls schwer getroffen. Als Jean Amery 1976 den Band „Hand an sich legen“ veröffentlichte, dieses bewegende Plädoyer eines ehemaligen KZ-Häftlings  für den Freitod, führte Schultz-Gerstein ein ausführliches Interview mit ihm, das ein Umdenken auslöste, wie Klaus Bittermann in seinem Nachwort notiert: „War er bis dahin noch eingeschüchtert von der Elite mit ihrem herrisch-larmoyanten Gefasel vom mangelnden Geschichtsbewusstsein der Nachkriegsjugend, die nicht mitreden konnte, weil sie das alles nicht mitgemacht habe, stieg jetzt eine Wut in Schultz-Gerstein hoch, und die Wut, so schrieb er, war er sich und Amery schuldig. Noch im selben Jahr kam es zum Bruch mit seiner Familie und zu einer Anstellung beim „Spiegel“, wo er seiner Wut Ausdruck verlieh.“  

Die Schärfe und Provokationsbereitschaft im Umgang mit brisanten gesellschaftspolitischen Konstellationen, die nun in seinen Texten aufblühten, waren unübersehbare Indizien eines Befreiungsschlags, der diese von Umbruch, Aufbruch, Studentenrevolte, Frauen-Emanzipation, Waldsterben, Öko-Bewußtsein und AKW-Protesten geprägte brisante  Phase optimal einfing. Insofern stellen die 62 Texte der Kategorien Porträts, Essays, Reportagen und Glossen einen faszinierenden Rückblick auf turbulente Post-68er Jahre  auf  446 Seiten dar.         

Gegen  Furchtbare Kunstrichter, Unglaubwürdige Vorbilder, Rasende Mitläufer

Wichtigtuer, Symbolfiguren, die größten Wert auf Rang und Status legen und sich zum Abkanzeln liberaler Freigeister berufen fühlten sowie  Großdichter, die ihre Bodenhaftung verloren hatten, holte Schultz-Gerstein nach zögerlichem  Vorglühen während seiner weichen „Zeit“-Welle vom Sockel: Günter Grass demonstriere mit seiner „Rättin“, wie misslungen sein Versuch war, die „ruhmreiche literarische Vergangenheit“ in die Gegenwart zu retten; nicht eben appetitlich wirke auch die „wieder aufgewärmte kaschubische Kost aus Griebenschmalz und Schweinskopfsülze“; der Literaturpapst Reich-Ranicki geriere sich wie ein „furchtbarer Kunstrichter“, der Autoren am liebsten maßregelte und sich dazu berufen fühle, „Schriftsellern notfalls  auch Totenscheine auszustellen“. 

Der profilneurotische Literat Rainald Goetz, der sich während einer Lesung unbedingt die Stirn anritzen musste, wurde nun in Schultz-Gersteins Porträt nicht mehr milde belächelt, sondern als Streber-Punker“ und „Rasender  Mitläufer“ verhöhnt, der die routinierte Geschwätzigkeit des Klagenfurter Lesezirkus mit Passagen aus „Irre“ und ratschender Rasierklinge durchbrechen wollte.   

Bekannte Gesichter, abgedroschene Phrasen: Angesichts der Jubeltöne so hochkarätiger Kritiker wie Joachim Kaiser und Peter von Becker, die den Band „Der überraschte Voyeur“ von Botho Strauß 1982 mit den „Minima Moralia“ von Adorno verglichen und einen exquisiten „Ton der Reinheit“ in diesem vermeintlichen opus magnum registrierten, mokierte sich Christian Schultz-Gerstein über den „Mode-Autor Strauß“ mit dem selbstgeprägten  Fünfsterne-Qualitäts-Siegel „Evangelium der kritischen Opportunisten“. Was ja auch den von Adorno schon zuvor beklagten, mit hohen Drehzahlen Phrasen produzierenden „Jargon der Eigentlichkeit“ optimal erfasste und   abgesonderte heiße Strauß-Luft den „schweren  Stürmen im Wagnis der Sprache aussetzt“, wie Schultz-Gerstein diesen gequirlten Strauß-Quark ironisch bezeichnete.  

Wenn einige seiner Kritiken und Porträts zwischen Analyse, Aufklärung, Kritik und Kommentar gelegentlich in trübe Gewässer driften, dann mag das an seinem Hang zum „Sprung aus der kleinen Welt in große Gefühle“ liegen, die er in seinem Stück über Peter Schneider und dessen Figur Lenz ausmachte: Dort moniert er zwar, dass Schneider seinen Anti-Helden „in die Nähe zur Psycho-Schnulze manövrierte, der vor lauter Einsamkeit kaum zu atmen wagt“. Aber offenbar beeindruckt von Schneiders sensiblem Umgang mit seiner Außenseiter-Figur und der Suche dieses Genossen nach sich selbst würde er sich auf eine weitere Beschäftigung mit diesem Zeitgenossen Lenz einlassen: „Das offene Ende läßt hoffen, daß Schneider über die in seine Gefühls-und Denkvorgänge eingegrabenen Apo-Jahre und über die Zeit danach, in der er das Denken und Fühlen unter fertigen Sätzen begrub, eines Tages Genaueres schreiben wird.“ 

Beziehungs-Chaos im Dreier-Clinch, Zocker-Schulden, Zoff mit dem Chef und Abgang

In seiner „Spiegel“-Zeit hatte Schulz-Gerstein Rudolf Augstein beim Tennis kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. „Sie zogen nächtelang durch die Kneipen und betranken sich; solange sie gemeinsam die Nächte durchzechten, spielte das Verhältnis von Chef und Angestelltem keine Rolle“, meint Klaus Bittermann im Nachwort, das auch das tragische Ende der im März 1987 unter ungeklärten Umständen verstorbenen Edelfeder erhellen soll. Was den Reporter schließlich stark aus der Bahn geworfen  hatte, war offenbar die Dreierbeziehung, die eine Spiegel-Mitarbeiterin mit den beiden Männern eingegangen war: Trennungsprozesse folgten auf vorübergehende Versöhnungen, die meistens in alkoholischen Exzessen endeten – was Schulz-Gerstein kaum verkraftete. Er hatte sich auch als Zocker bewähren wollen, was mit 100 000 Mark Spielschulden endete und nach der Ablehnung seiner beantragten Versetzung nach Liverpool zur Entlassung beim Spiegel führte. Anschließend war er noch zwei Jahre beim „Stern“, für den er zuletzt über das Länderspiel Deutschland-Israel berichten wollte. Als seine Hamburger Nachbarn am 21. März 1987  die Polizei alarmierten, konnte weder ein Selbstmord noch eine äußere Einwirkung als Todesursache festgestellt werden. „Vermutlich hatte er sich zu Tode getrunken“, konstatiert Verleger Bittermann. 

Der beeindruckende Band fasziniert nicht nur als Zeit-Dokument mit eingebautem Nostalgie-Effekt. Die bunte Mischung von Porträts, Essays und Reportagen lässt uns auch eintauchen in brisante Debatten über  gesellschaftspolitische Entwicklungsprozesse  und arrivierte Kulturträger, die ein warmes Kuschelplätzchen im Main Stream zwar keineswegs verdient hatten, es jedoch wie selbstverständlich beanspruchten. 

Peter Münder

Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, Kritische Opportunisten. Porträts, Essays, Reportagen, Glossen. Vorwort von Wolfgang Pohrt, Nachwort von Klaus Bittermann. Critica Diabolis 300, Edition Tiamat Berlin 2021. 448 Seiten, 26 Euro. Verlagsinformationen hier.

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