
Horror- und Glückmomente von unterwegs
In Kuba will er „Fischen wie Hemingway“, in Kolumbien zieht er mit bewaffneten FARC-Guerilleros durch den Dschungel, auf dem Jakobsweg erlebt er anrührende Episoden, den Transsibirien-Trip erträgt er als hochprozentiges Kammerspiel: In seinem Reportage-Band „Glück ist kein Ort“ präsentiert Juan Moreno, der den SPIEGEL-Hochstapler Relotius 2019 in „Tausend Zeilen Lüge“ entlarvte, ebenso spannende wie berührende Impressionen mit analytischem Tiefgang. – Von Peter Münder
„Wie hoch ist der weltweite Idiotenanteil ?“, fragt sich Juan Moreno, 49, während seiner Weltreise auf einem Zwischenstopp in Vietnam. Er hat gerade den Kanadier Greg getroffen, über den er sich echauffiert, weil dieser kleinkarierte Erbsenzähler sich permanent über banale Alltagsprobleme aufregt: Der Kaffee sei zu teuer, das Essen furchtbar, offenbar wolle man ihn vergiften – Vietnam sei jedenfalls das furchtbarste Land, in dem er je gewesen sei, tobt Greg. Und bisher hätte er auch keinen einzigen freundlichen Vietnamesen kennengelernt. Dabei hatte er sich doch so gewissenhaft mit einem Reiseführer und dem Aufnähen der kanadischen Fahne auf seinem Rucksack vorbereitet, um nicht für einen Amerikaner gehalten zu werden!!
Auch bei Österreichern hatte Moreno die auf den Rucksack aufgenähten Austria-Fahnen entdeckt, die meistens zu stundenlangen Diskussionen mit Amerikanern führten, denen erklärt werden musste, wo Österreich auf der Landkarte zu lokalisieren ist. Morenos Schätzung des weltweiten Idiotenanteils beläuft sich jedenfalls auf drei Prozent. Auf diese Zahl war er gekommen, nachdem er zusammen mit Greg ein eher nichtssagende Schweinefleisch-Menü mit Reis verzehrt hatte, zu dem sie von der Hotelbesitzerin eingeladen waren – „einfach so“, konstatiert Moreno: „So wie es Tausenden Deutschen, Kanadiern, Spaniern jeden Tag passiert, dass einem die Frau des Hotelbesitzers das Abendessen spendiert. Grässlich, diese Vietnamesen.“
Mit seiner kritisch-ironischen Pointe steuert Moreno lässig die Frage an, inwieweit Traveller heutzutage überhaupt noch an einer Horiziont-Erweiterung interessiert sind oder ob sie vielleicht nur ihren hermeneutischen Tunnelblick bestätigt sehen wollen. Seine locker-ironische Erzählperspektive demonstriert jedenfalls eindrucksvoll, dass es sich auszahlt, wenn der Reporter ohne „Regieanweisungen“ einer Chefredaktion beschreiben kann, was ihn interessiert und was andere Menschen umtreibt.
Trüffelschwein, Aussteiger, rasender Reporter, Tourist?
Sollen die hier im neuen Band präsentierten „Geschichten von unterwegs“ (so der Untertitel) also eher harmlose, aufmunternde Impressionen evozieren, die sozusagen auf der Durchreise eingefangen wurden? Oder ist Moreno vor allem auf der Suche nach dem ultimativen Glück? Zwei dieser Geschichten sind neu – nämlich „Fischen wie Hemingway“ und „Haus am See“, alle anderen sind zwischen 2005 und 2021 in verschiedenen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht worden. Das breite Spektrum reicht vom stimmungsvollen Blick aufs kubanische Fischer-Idyll bis zu Morenos furiosem FARC-Abenteuertrip durch den kolumbianischen Dschungel, der die Wiederauferstehung der militanten Guerilla und ihrer gnadenlosen Brutalität demonstriert. Zur geplanten Machtübernahme in Bogota gehört die Schutzgelderpressung von Unternehmen ebenso wie die Steigerung der Kokain-Produktion. Die Ermordung von suspekten Kritikern gehört zur Tagesordnung. Es war absehbar, dass Moreno mit seinem sensationellen Spiegel-Bericht (von 2019) von der FARC instrumentalisiert werden würde, um rivalisierende Gruppierungen einzuschüchtern; dennoch sorgte dieser eindrucksvolle Scoop für großes mediales Aufsehen. Denn immer stand die Frage im Raum: Warum konnte sich Moreno unter diesen Rebellen frei bewegen und sogar noch für „Spiegel Online“ Videos liefern?
Kein W-Lan, kein Pilger: Jakobsweg für die Partnersuche
Wohin soll das führen? Das fragte sich Moreno, nachdem Tausende von deutschen Sinnsuchern nach Hape Kerkelings veröffentlichtem „Erleuchtungs-Epos“ (O-Ton Moreno) beschlossen, sich ebenfalls auf den Weg zu machen und zumindest einige Etappen des 769 Kilometer langen Jakobswegs zu absolvieren. Von den 350.000 Pilgern im Jahr 2019 gehörten deutsche Wanderer zur stärksten „Ich bin dann mal weg“-Fraktion. Da 1978 ja nur dreizehn Pilger auf dem Jakobsweg unterwegs waren, befürchteten Skeptiker und Kleriker mit Blick auf diesen enormen Anstieg der Besucherzahlen eine extreme Kommerzialisierung. Vielleicht müssten sich die Pilger bald zwischen Biergärten und Frittenbuden den richtigen Weg zur Erleuchtung suchen? Auch Moreno tauchte ein in diese emotional stark aufgeladene, anrührende Pilger-Atmosphäre und beschreibt im Text „Ich bin dann mal hier“ nicht nur „Wander-Asketen auf ihrem Bescheidenheitswettkampf“ sondern auch eine lockere Szene, in der sich Geschiedene, Kranke und Enttäuschte auf Partnersuche befinden, um einen Neuanfang zu wagen. Daher scheint ihm der Jakobsweg der perfekte Ort für Neu-Orientierungen im Beziehungsgeflecht zu sein: „Skandalös, dass dies nicht bekannter ist“, kommentierte er diese überraschende Entwicklung. Pedanten, Perfektionisten und Sparfüchse können jedenfalls aufatmen: Moreno stellte eigentlich überall fest, dass sich selbst in der Hochsaison immer noch genügend Schlafplätze finden und Speisen in Pensionen oder Hotels keineswegs überteuert sind. Eigentlich klären sich diese vermeintlichen Probleme vor Ort alle von selbst. Ja, es gibt inzwischen Jakobsweg-T-Shirts und Cola-Automaten am Wegesrand sowie diversen Camino-Nepp. Viele Pilger wollen ihre offizielle Teilnehmer-Urkunde außerdem schon für einen lächerlichen Hundertkilometer-Spaziergang ergattern; sie treibt natürlich auch die Frage der Internet-Anbindung um: „Jeder weiß: Kein WLAN- keine Pilger“, hat Moreno herausgefunden und beobachtet, wie viel Zeit der Durchschnittspilger mit dem Absondern von E-Mails und der Kontrolle der Social Media-Meldungen verbringt. Immerhin hat das letzte Tabu noch Bestand: Im Kloster gibt es kein WLAN. Keine Frage: Diese Reportage gehört wegen der lockeren Tiefenbohrung in diesem Erleuchtungs-Umfeld und dem souveränen Konterkarieren von Klischees und Vorurteilen zu den besten in diesem Band.
Die Exkurse über Langstrecken-Tourismus und Erörterungen darüber, welche Tipps er an Reisende weitergeben sollte, halte ich dagegen für überflüssig – das kann sich ja jeder Touri selbst zusammenpfriemeln. Über die Beschreibung klischeehafter Allerwelts-Situationen am thailändischen Badestrand kommt Moreno leider nicht hinaus; statt irgendwelcher Glücksmomente kommt beim Abwimmeln von Tätowierern, die dem Reporter unbedingt die Haut aufritzen wollen, nur starker Frust auf – kein Wunder. Was hat er dort erwartet? Umso eindrucksvoller ist dagegen „Die große Höhlenshow“, in der die thailändische Rettungsaktion zur Befreiung von Schulkindern aus einem überfluteten Höhlensystem als inszenierte Show entlarvt wird, bei der viele Fehler gemacht wurden und staatliche Instanzen vor allem auf ihr eigenes Image bedacht waren.
Hochprozentige Glücksgefühle wie weiland bei Hem
„Fischen wie Hemingway“- diese erste Geschichte von unterwegs gehört ja auch zu dieser Sammlung der glücklichsten Reporter-Momente. Morenos Versuch, auf den Spuren Hemingways mit einem einheimischen Fischer auf hoher See zu angeln und irgendwie das Flair aus „Der alte Mann und das Meer“ zu inhalieren, gelingt nur insofern, als er die bürokratischen Hürden und die Geldgier des kubanischen Systems entlarvt – die Behörden verlangen nämlich von gutbetuchten ausländischen Angel-Touristen einen Tagestarif von fünfhundert Dollar, den Moreno herunterhandelt. Aber ist das nun der große Zauber, den der deutsche Gast auf Hemingways Spuren auskostet, wenn er in der Schlussszene zufrieden seufzt: „Wir schauen aufs Meer und fühlen uns frei. Ich für meinen Teil bin ziemlich betrunken.“
Fazit: Ein gelungener Reportage-Mix von Extrem- Abenteuern und Alltags-Impressionen von unterwegs. Fest steht aber auch, dass Morenos faszinierendste Berichte unter Extrembedingungen zustande kommen – das sind dann echte Eye Opener, die einem neue Perspektiven eröffnen, Klischees und Vorurteile pulverisieren und auch die Leser zu Glücksgefühlen verhelfen – was will man mehr ?!
Juan Moreno: Glück ist kein Ort. Geschichten von unterwegs. Rowohlt Berlin, Berlin 2021, 304 Seiten, Hardcover, 22 Euro.