Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Peter Münder: Hegel heute

Zwischen verklärender Denkmalpflege und kritischer Dialektik

Peter Münder zu neuen Hegel-Biographien zum 250. Geburtstag des schwäbischen Philosophen

Die Biographen Klaus Vieweg, Sebastian Ostritsch und Jürgen Kaube bewegen sich auf den Spuren des Weltgeistes und nehmen Witterung zu Hegels Begriff des Absoluten auf. Vieweg windet dem frankophilen Freiheitsdenker einen prächtigen Lorbeerkranz, Ostritsch versucht, ohne allzu komplexe Theorie-Exkurse einen Zugang zum Hegelschen Gesamtsystem inklusive der Philosophie der Logik und der Rechtsphilosophie zu liefern, Jürgen Kaube erfasst mit Betrachtungen über technisch-politisch-wissenschaftliche Umwälzungen zur Hegel-Zeit am eindrucksvollsten den Hegel-Kosmos und demonstriert mit Episoden aus dem Alltag des theologischen Think-Tank-Trios Hegel, Hölderlin, Schelling die prägenden Verhältnisse dieser „Gruppe 1788“ im „Lernkerker“. Er wühlt sich wie der Weltgeist-Maulwurf auch durch entlegene Dimensionen und erläutert die Komplexität des Hegelschen Systems mit kritischen Kommentaren. – Von Peter Münder.

„Almost all Hegel´s doctrines are false.“  (Bertrand Russell: History of Western Philosophy, London 1961, S. 701) 

„Wirklichkeit, das ist bei Hegel, laut seiner ausführlichen Erörterung in der „Logik des Wesens“, ein ganz Anderes als das gleichnamige Wald-Feld und  Wiesenwort der Empiristen. Er unterscheidet bereits außerhalb und unterhalb dieser Bestimmung Sein, Dasein, Existenz vom Wirklichen.“ (Ernst Bloch: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Suhrkamp Frankfurt 1972, S. 253)  

Wir wollen hier nicht lamentieren über Hegels  schwierige Terminologie, worüber der Hegel-Spezialist Ernst Bloch in „Subjekt.-Objekt“ schon 1972 einen Kommentar über die „unumgängliche Lust des tätigen Lernens“ absonderte und daran erinnerte: „Wer auf See will, muß die Schifferknoten verstehen.“ Stattdessen gehen wir der Frage nach, wie es mit „Hegel Heute“ aussieht. Denn wer jetzt anlässlich der Geburtstagfeiern (er wäre jetzt am 27. August 250 Jahre alt geworden) für den schwäbischen Nuschler, der von seinen Hörern in Jena, Heidelberg und Berlin damals ja schon kaum verstanden wurde, über dessen Plädoyer für einen „starken Staat“ („Grundlinien der Philosophie des Rechts“, 1821) oder über die „Philosophie der Geschichte“ und „Das Ende der Kunst“ diskutiert, versucht  wohl auch, über Hegels Traktate aktuelle Bezüge zur  gesellschaftspolitischen Situation unserer Tage und zu den turbulenten Umwälzungen angesichts unüberschaubarer Globalisierungsprozesse  zu erkennen: Ist der „Cum-Ex“- oder der „Wirecard“-Skandal vielleicht nur  deswegen möglich geworden, weil die staatlich-bürokratischen Strukturen so fragil und unzureichend sind? Konnte sich etwa eine von Hegel (in der „Rechtsphilosophie“) als  „Luxus-Pöbel“ bezeichnete Gruppierung, die wir heute Hedgefonds-Manager, Börsen-Zocker oder  Raffgier-Plutokraten nennen würden, einfach dort dreist bedienen, wo inkompetente  Bürokraten keine illegalen Schlupflöcher erkennen konnten? Wenn die Juristen jetzt in den Startlöchern sitzen, um einen Prozess gegen Wirecard-Manager vorzubereiten, dann werfen sie diesem sich außerhalb gesellschaftlicher Normen agierenden „Luxus-Pöbel“ so etwas wie „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung vor“. Hegel sprach von „Verdorbenheit“, wenn er über das asoziale Verhalten dieses reichen Pöbels  (Spieler, Banker etc.) urteilte: Denn dieser verstand sich als absolut übergeordnet und hypostasierte sich und seinen Reichtum als absolutes Recht. 

Vom Sturm auf die Bastille hatte Hegel in der Tübinger Theologen-WG gehört, in der er zusammen mit dem  fünf Jahre jüngeren Überflieger Schelling und dem „erotischen  Enthusiasten“ Hölderlin (so nennt ihn der FAZ-Herausgeber Kaube) Theologie studierte – und alle Drei waren begeistert: Denn hatte der Idealismus damit nicht demonstriert, dass sich ein welthistorisches Ereignis als Ergebnis von Ideen und als Beweis ihrer Macht durchsetzen kann? Für Hegel war der 14. Juli fortan als „herrlicher Sonnenaufgang“ lebenslang ein Anlass zum Jubeln, der mit Champagner zelebriert wurde. Für Goethe hatte mit der Französischen Revolution „eine neue Epoche der Weltgeschichte begonnen“, für Hegel hatten „alle denkenden Wesen diese Epoche mitgefeiert“. Kritischer und skeptischer beurteilte er diesen Sonnenaufgang jedoch, als nur wenige Jahre später die französische Guillotine zur letzten Instanz geworden war und statt Freiheit und Toleranz sich der Terror durchgesetzt hatte.      

Bekannte Ereignisse, gemischte Befunde

Über  die Aktualität Hegels wurde auch schon vor 50 Jahren anlässlich seines 200. Geburtstags ausführlich auf dem Hegel-Kongreß in Stuttgart  diskutiert. Im Reader “Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels“, herausgegeben von Oskar Negt, konnte man Beiträge über „Hegels China“,  „Spekulative und negative Dialektik“, „Hegel im vorrevolutionären Russland“, „Hegel und der Positivismus“ u.a. nachlesen. Mit eher  unergiebigem Gesamteindruck: Joachim Schickel kam zum Ergebnis, dass Hegels China-Kapitel in der Philosophie der Geschichte „fast völlig aus Irrtümern und Mißverständnissen zusammengesetzt“ war und monierte so plumpe, aberwitzige Einsichten wie etwa die über „das große Hindernis der chinesischen Schriftsprache für die Ausbildung der Wissenschaften“ – das hatten Leibniz und Wilhelm von Humboldt völlig konträr gesehen und Piktogramme gerade als eine Art Turbolader für die Intensivierung von  Konzentration und Sinnesschärfe verstanden. Hegels Verwechslungen von Yin und Yang und seine  verbreiteten Binsenweisheiten über angebliche  völlig unpraktisch veranlagte, nur zum sinnlosen Hantieren taugende  Chinesen etc. waren Schickel jedenfalls so blamabel und peinlich, dass er  nicht näher darauf eingehen wollte.

 Wir haben im Kontext oberflächlicher Hegelscher Absonderungen pseudowissenschaftlicher Erkenntnisse auch sein Jenaer Habilitations-Verfahren von 1801 über die Berechnung von Planetenbewegungen im Hinterkopf, die Jürgen Kaube beschreibt: Hegels selbst ausgetüftelte  Berechnungen sollten eine Position im Weltall bezeichnen, an der auf keinen Fall ein neuer Planet entdeckt werden könnte – aber genau das war in diesen Tagen damals gerade passiert und von einem italienischen Astronomen registriert worden. Doch bis nach Jena war die Kunde noch nicht gelangt und das Prüfungs-Gremium beurteilte den kauzigen Schwaben sowieso eher wohlwollend, also wurde sein Magister-Titel als Dissertation gewertet und Hegel konnte in Jena sogar als Privat-Dozent Vorlesungen halten. 

Auf seiner „Differenz-Schrift“ von 1801, um die es bei diesem Anerkennungs-Verfahren auch ging, hatte Hegel sich auf dem Titelblatt übrigens als „Der Weltweisheit Doktor“ bezeichnet. Im Ernst jetzt? Hatte er den Weltgeist auf irgendeiner  Umlaufbahn entdeckt? Oder sollte das etwa ein Anflug von Ironie gewesen sein? Hier offenbart sich Hegels Schwachstelle, die schon Bertrand Russell sondiert hatte: Hegel  entwickelte sein Universal-System, mit dem er alle wichtigen Aspekte der Astronomie, Physik, Mechanik, Philosophie usw. im analytischen Focus  erfassen wollte ­– aber dabei entgingen ihm auch etliche Phänomene. Und wozu, meint Russell, muss man erst nach dem Absoluten streben, um die einfache Frage „Who is John?“ beantworten zu können? Das wäre nicht nur unmöglich, sondern würde die Suche nach Erkenntnis auch konterkarieren.  

Jürgen Kaube bietet eine plausible Erklärung an: „Hegel befasst sich seit seiner Jugend mit – allem. Seine fortwährenden Hiebe gegen bloß empirisches Wissen und „Kenntnisse“ wären missverstanden, würde man ihnen die Ansicht entnehmen, die Philosophie könne das für ihre Gedanken nötige Wissen vollständig selbst hervorbringen.“ Die ausführlichen  biographischen Exkurse sind als Erklärungsmuster für Hegels  „Universal-System“ also „absolut“ berechtigt. 

Jena als Hot Spot und Start-Up Location 

Als Hegel Anfang 1801 mit seinen vom verstorbenen Vater geerbten 3000  Gulden nach Jena kam, war die Universitäts-Stadt als geistige Hauptstadt Deutschlands offenbar so quirlig und ideal für intellektuelle, Nerds aller Fakultäten und Gründer von Literatur-Magazinen, dass Vergleiche mit  dem heutigen Silicon Valley oder Berkeley keineswegs abwegig  sind. Neben Goethe gaben sich dort Fichte, die Schlegel-Brüder, Schiller, Tieck und Schelling  die Ehre. Man traf sich in Kneipen, Weintränken und bei  Salon-Diskussionen. Dazu im O-Ton Jürgen Kaube, der den Start-Up-Eifer von Schelling und Hegel im Blick hat, die ein elitäres philosophisches Intellektuellen-Magazin gründen wollen:  

„Schelling und Hegel gründen das ‚Kritische Journal’, in dem sie sich einen Namen durch flammende Rezensionen machen wollen, die als Grillgut viele andere Philosophien in der Nachfolge Kants und Fichtes behandeln… Voran stellen Hegel und Schelling dem Journal ein Programm, das im Grunde sagt, man möge besser die Straße freimachen für sie, denn es komme jetzt das Absolute. Mit Philosophen, die nicht ebenfalls Anspruch auf seine Erkenntnis und die Selbsterkenntnis der Vernunft machten, hieß es, beschäftigten sie sich gar nicht. Kritik habe darum nur für diejenigen einen Sinn, „in welchen die Idee der einen und selben Philosophie vorhanden ist“. Außerdem wird angekündigt, die Philosophie sei ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht, noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig.“ 

Ja, Straße frei für das Absolute! Waren diese Nerds , wie Kaube das auch andeutet, nicht zu Höherem berufen? Hatte man ihnen nicht auch angedeutet, die Menschen wären, wenn sie ausreichend gebildet wären, selber Götter? Oder hatte die „Gruppe 1788“  da nach allzu intensiver Plato-Lektüre noch vor dem Frühstück da irgendwas falsch verstanden?  

Als „Philosoph der Freiheit“ charakterisiert Klaus Vieweg den „Großmeister der neuzeitlichen Philosophie“ in seiner Hegel-Biographie. Wenn wir als Leser diesen schwäbischen Großmeister auf seinen Stationen von Stuttgart über Tübingen, Jena, Nürnberg und Heidelberg nach Berlin  begleiten, dann gerate dies laut Vieweg  zu einer „Odyssee im Denkraum“.  Wobei der Biograph uns sozusagen als Lotse zwischen „Weltenlauf und Lebenslauf“ zu den faszinierendsten Stationen des schwäbischen Aristoteles steuert. Neben dem hagiographisch gefärbten Denkmalpfleger-Ton gibt uns Vieweg aber auch etliche  Warn-Hinweise auf den Weg: Auf  keinen Fall sollen wir den Skeptikern auf den Leim gehen, die in Hegels konservativ-staatstragenden, obrigkeitsfixierten Passagen der Rechtsphilosophie den verkappten Reaktionär entdecken – denn dahinter steckten die üblichen Tarnmanöver des listigen Dialektikers, der sich damals ja schließlich gegenüber den Zensur-Instanzen sehr bedeckt halten musste. Andererseits war beachtlich, dass Hegel sich auch sehr engagiert für verfolgte Studenten einsetzte, als nach dem Attentat auf Kotzebue die Reaktion Oberwasser bekam und Studenten eingekerkert wurden – Hegel protestierte bei den Behörden, besuchte die Studenten im Kerker und machte ihnen Mut – auf Lateinisch, damit die Wächter die kritischen Geister nicht verstehen konnten. 

Wenn Trump-Anhänger Hegel für ihren Verfolgungswahn und ihre Vision vom „Deep State“ instrumentalisieren

Sorry, aber diese Peinlichkeit muss sein, wenn es um die aktuelle Hegel-Interpretationen geht: Nun wollen amerikanische Ultra-Reaktionäre aus dem Trump-Lager mit zusammengestoppelten Hegel-Passagen ihren Verfolgungswahn, bzw. ihre konfusen Thesen vom geheimen „Deep State“-Konstrukt legitimieren. Man kann dies natürlich als aberwitzigen  Dumpfbacken-Unsinn abtun, auch schon deswegen, weil der Egomane im Weißen Haus diesen Hegel höchstwahrscheinlich für eine Comic-Figur, ein neues MG-Modell oder für eine Bagel-Sorte hält. Aber bei Diskussionen mit  kalifornischen „Claremont“-Think Tank-Mitgliedern oder bei Vorträgen an Unis zum Konflikt zwischen einem administrativen und dem im verborgenen, von Technokraten und Geheimdienstlern beherrschten  teuflischen „Deep State“, wird meistens auf Hegel verwiesen: Hat Hegel nicht in Paragraph 257/58 seiner Rechtsphilosophie schon auf diese Entwicklung hingewiesen? Ist sein Konstrukt eines „starken“ Staats nicht das Modell eines Technokraten-Apparats, der sich von den Bürgern bereits Lichtjahre entfernt hat? Es sind Vordenker wie John Marini (vgl. sein Buch „Unmasking the Administrative State“, Claremont 2019), die sich dabei auf Hegel berufen. Und sie preisen die beiden Crooks Donald Trump sowie dessen Ex-Berater Steven Bannon als eine Art „Tatort-Reiniger“, die den Sumpf in Washington endlich wieder trocken legen können. Ernsthaft argumentieren kann man mit diesen  fanatischen „externen Beratern“ wohl nicht, denn diese wie Sekten-Mitglieder auf einen Guru Fixierten befinden sich auf einem Kreuzzug, den sie unbeirrt weitere vier Jahre durchstehen wollen. 

 Ich glaube (und hoffe), diese Typen haben sich verrechnet: Inzwischen gibt es schließlich das von kritischen Republikanern gegründete kritische „Lincoln Project“, das Trump gerne zum Latrinengraben nach Nord-Korea schicken würde und die Fackel der Aufklärung hoffentlich doch noch in den düstersten US- Ecken leuchten lässt, wohin sich die Eule der Minerva noch nie zu fliegen traute! Möge der Hegelsche Weltgeist die von Trump-Terroristen anvisierte „Apocalypse Now“-Dystopie noch verhindern!   

Peter Münder – seine Texte bei uns hier.

Literatur:

Klaus Vieweg: Hegel – Der Philosoph der Freiheit. CH Beck. München 2019. 824 S.

Sebastian Ostritsch: Hegel – Der Welt-Philosoph. Propyläen/Ullstein, Berlin 2020. 315 S.

Jürgen Kaube: Hegels Welt. Rowohlt, Berlin 2020, 589 S.

Eberhard Rathgeb: Zwei Hälften des Lebens. Hegel und Hölderlin. Eine Freundschaft. Blessing Verlag, München 2019. 464 S.

Frank Ruda: Hegels Pöbel – Eine Untersuchung der „Grundlagen der Philosophie des Rechts“. Konstanz University Press, Berlin 2011, 276 S.

Oskar Negt (Hg.): Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels. Edition Suhrkamp, Frankfurt  1971. 296 S.

Ernst Bloch: Subjekt–Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt 1972. 525 S.

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