
Theater-Zauberer und Grenzgänger zwischen Wirklichkeit und Traum
In ihrem grandiosen Bildband über den Theater-Regisseur Max Reinhardt (1873-1943) präsentiert Sibylle Zehle einen genialen Visionär, Entdecker junger Talente und umtriebigen Bühnen-Unternehmer. Sie geht rätselhaften Facetten in seiner Biographie nach und lässt uns eintauchen in ein mondän-turbulentes „Leben als Festspiel“, das in Reinhardts letzten Exil-Jahren in Hollywood zum hoffnungslosen privaten Trauerspiel kulminierte. – Von Peter Münder.
Das Wiener Burgtheater war für den 1873 in Baden bei Wien geborenen Max Reinhardt eine Art Universität: Er war dort in eine faszinierende Welt eingetaucht, die ihn begeisterte und von deren Schauspielern er selbst als junger Mime viel gelernt hatte. „Ich bin auf der vierten Galerie geboren. Dort erblickte ich zum ersten Mal das Licht der Bühne“, so kommentierte er später seinen Werdegang. Er war der älteste von drei Brüdern und vier Schwestern, verließ die Realschule als 15Jähriger, um eine Banklehre zu machen, die er bald abbrach, um in Wien und Salzburg Schauspielschulen zu besuchen. Als 19Jähriger wurde er vom Naturalisten und Gerhart Hauptmann-Bewunderer Otto Brahm entdeckt und nach Berlin ans Deutsche Theater geholt.
Sibylle Zehle geht diversen biographischen Fährten nach, um zu klären, wie der aus einer verarmten jüdischen Familie stammende Max Reinhardt es schaffte, sich mit seiner kümmerlichen Schulbildung und als Sohn eines verkrachten Kaufmanns im Künstler-Milieu durchzusetzen und in der High Society Anerkennung zu verschaffen. Nach ihrem Besuch im Burgtheater – auf der vierten Galerie mit Blick in das tief unten liegende Parkett – ist sie überzeugt davon, dass Reinhardt damals in der kaiserlichen Metropole Wien das Theater als visionäre Gegenwelt sah und „Alles, was er vom Schicksal erwartet, durch das Theater erfährt und durch die Literatur begreift“.
Zweifellos war Reinhardt aber auch „ein magischer Zuhörer“, wie Carl Zuckmayer ihn bezeichnete. Er war immer an neuen Ideen und Projekten stark interessiert und konnte in seinen Inszenierungen jedem Schauspieler den Eindruck vermitteln, ein wichtiger, ernst zu nehmender Player zu sein.
Aber sein Hang zum großen Spektakel verleitete ihn auch dazu, sich zu verzetteln mit der Übernahme weiterer Theater und der Planung von gigantischen „Kunst-Kathedralen“, die man heute als „Leuchtturmprojekt“ bezeichnen würde. So waren etwa beim 1911 in London aufgeführten „The Miracle“ 1800 Mitwirkende damit beschäftigt, möglichst suggestive, intensive Szenen zu evozieren, ohne die Zuschauer mit irgendwelchen kritischen Einsichten zu behelligen: Alles war in Bewegung – es gab Tanz, Musik, Lichteffekte, einige Dutzend Pferde und hechelnde Jagdhunde, 150 Nonnen auf der Bühne. „Zwischen Einfalt und Monstrosität“ siedelte Alfred Polgar in einer Kritik diese „lauwarme Waschung der Psyche“ an, die Produktionskosten von 1,5 Millionen Reichsmark verschlungen hatte. Die wurden dann von liquiden Mäzenen übernommen, die sich gern im Licht dieses theatralischen Sonnenkönigs wärmten. Der große Zauberer suchte im Theater immer „Freude und Schönheit statt des altvertrauten Elends“, was dazu führte, dass er in der Blütezeit expressionistischer Dramatiker mit den eher düsteren, gesellschaftskritischen Stücken von Georg Kaiser, Ernst Toller, Walter Hasenclever oder Arnolt Bronnen wenig anfangen konnte und nur selten inszenierte. Diese Protest-Stücke wurden aber ohnehin meistens vom sozialistischen Pazifisten Erwin Piscator an der Berliner Volksbühne inszeniert, wo ein extrem engagiertes Publikum oft für furiose Reaktionen, heftigste Skandale und ein enormes Medien-Echo sorgte.
Theater-Tycoon, Gastspiel-Maestro, Rotations-Experte
Vier Jahre hat die Journalistin Zehle für diesen 300 Seiten starken Band recherchiert, der im letzten Jahr zum 100jährigen Jubiläum der Salzburger Festspiele erschien und jetzt in der 2. Auflage vorliegt. Sie ist auf den Spuren des Meisters durch Europa und die USA gereist, hat viele Archive und Briefe gesichtet und Dutzende Interviews geführt. So kann sie etwa genau belegen, dass der 19jährige Schauspieler Max während seines ersten Engagements in Salzburg in 175 Tagen 52 Rollen spielte und seine erste Rolle in „Kabale und Liebe“ der alte Miller war. Keine Frage: Reinhardt war nicht nur eine robuste Natur, der hart arbeiten konnte, er besaß auch ein immenses Erkenntnisinteresse. Er diskutierte mit seinen Theater-Freunden über neue Stücke und las unermüdlich die Klassiker – auch die altbewährten Griechen wie Aischylos oder Sophokles, die er in einem Amphitheater aufführen ließ. „Die Klassiker neu spielen“ war seine Maxime, die er ja meistens auch erfolgreich umsetzen konnte.
Allerdings hatte Reinhardt schon früh seinen Focus auf die Vision eines „erhöhten Lebens“ gelegt, was phasenweise auch „leichte Kost“ wie den „Rosenkavalier“ bedeutete und politisches Programmtheater ausblendete.

„Es muss doch mehr als alles geben“, war ein dominierendes Leitmotiv für Max Reinhardt: Denn ähnlich wie ein Konzern-Boss im kapitalistischen Verdrängungskampf die Übernahme eines anderen Unternehmens plant, realisierte der Theater-Boss Reinhard häufig die Übernahmen anderer Theater und praktizierte eine Art Rotations-Prinzip für Stücke und Schauspieler – kaum war eine erfolgreiche Premiere über die Bühne gegangen, wurden die Schauspieler schon an einer anderen, zum Reinhardt-Imperium gehörenden Bühne eingesetzt. So verzettelte sich der Zauberer gelegentlich und die Qualität der Aufführungen litt darunter – was von der Kritik auch dementsprechend vehement bemängelt wurde.
Sein mit heißer Feder schreibender Intimfeind Alfred Kerr geißelte diese egomanischen Umtriebe jedenfalls deutlich. Schon 1905 hatte Reinhardt das Deutsche Theater übernommen, ein Jahr später auch sein Lieblingsprojekt eines dem großen Haus angegliederten kleinen Kammertheaters verwirklicht, das er mit Ibsens „Gespenster“ eröffnete. Nur: Der auf Glamour und High Society-Applaus versessene Reinhardt bestand auf „Frackzwang“! In einem Berlin, in dem man sich auch schon zur Kaiserzeit gerne rüpelhaft-ungezwungen gab! Dieser elitäre Touch wurde im Lauf der Jahre zu Reinhardts Markenzeichen, was die Biographin Zehle sehr hübsch mit Photos von Krokotaschen und anderen edlen Reise-Utensilien des Meisters dokumentiert. Ganz abgesehen von Reinhardts spektakulärem Schloss Leopoldskron, das auf mehreren Seiten abgebildet ist.
Der Professor-Titel, verliehen vom Großherzog von Coburg-Sachsen, bedeutete Max Reinhardt sehr viel: Er legte großen Wert auf diese Anrede – auch in den eifrig verschickten Telegrammen – und war später während seiner Exilzeit in den USA immer wieder schwer geschockt, wenn die lässigen Amis ihm ihre Pranke auf seine Schulter hauten und ihm zuriefen: „Hi Max, how are you?“

© Stiftung Stadtmuseum Berlin / Sammlung Max Reinhardt/Leonhard M. Fiedler
Was war das überhaupt für ein Abstieg bis zu seinem Tod am 31. Oktober 1943 in New York! 1936 war er noch von einem Vorschlagskomitee, zu dem auch Albert Einstein gehörte, für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, 1937 hatte er in seiner letzten europäischen Inszenierung in Wien Franz Werfels „In einer Nacht“ inszeniert – und ein Jahr später hatten die Nazis dafür gesorgt, dass sein Schloss Leopoldskron enteignet wurde. Und die meisten seiner amerikanischen Projekt – Gründungen von Theaterschulen, USA-Gastspiele mit eigenem Ensemble, Workshops etc. – konnte Reinhardt gar nicht oder nur ansatzweise verwirklichen. Ob er sein an Greta Garbo in Hollywood gerichtetes Angebot, den Hamlet zu spielen, tatsächlich ernst gemeint hatte, ist schwer zu beurteilen. Für Prominente hatte er ja immer ein offenes Ohr gehabt. Doch selbst die posthum von Freunden eingefädelte Versteigerung seiner legendären 150 Regiebücher, Tagebücher und Briefe endete als Posse: Für eine Million Dollar hatte ausgerechnet Marilyn Monroe den Zuschlag erhalten – doch die Sendung des Auktionshauses lagerte monatelang unabgeholt in einer Garage und die Monroe hatte dieses kostbare kulturelle Erbe auch nie bezahlt. Der Vorhang vor diesem aufregenden Leben als Festspiel war dann doch unter deprimierenden Umständen allzu plötzlich gezogen worden.
Was für ein faszinierender Band, welch ein brisanter Mix aus Kulturgeschichte, Theater-Rückblick und Society-Klatsch!! Küss die Hand, Gnädigste!!
Sibylle Zehle: Max Reinhardt – Das Leben als Festspiel. Brandstätter Verlag Wien 2020. 303 Seiten, viele Abbildungen, 50 Euro.