Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Peter Münder: David Peace „Tokio, neue Stadt“

Wahn, Wirklichkeit, Wiederholungszwang

Der 1967 in Yorkshire geborene David Peace macht keine Kompromisse: Sein Intimfeind ist der gefällige Mainstream, der dem Leser nur noch bekannte Erzählmuster mit berechenbaren Figuren serviert. Wie seine grandiosen Fußball-Dramen/ Biographien über die englischen Trainer Bill Shankley („Red or Dead“) und Brian Clough („The Damned United“) sowie das Bergarbeiter-Epos „GB 84“ demonstrierten, konzentriert er sich auf manische Charaktere, düstere Yorkshire-Ripper-Szenarien („The Red Riding Quartet“) und Verhaltensmuster, die Therapeuten wegen ihrer Zwanghaftigkeit begeistern dürften.  Auch als Zahnarzt wäre David  Peace extrem erfolgreich: Denn er bohrt und bohrt und bohrt weiter, bis er sich den für Leser und Autor gleichermaßen schmerzhaften Grauzonen zwischen Wahn und Wirklichkeit angenähert hat, die seine Protagonisten mit ihrem pathologischen Wiederholungszwang einfangen wollen. Mit „Tokio, Neue Stadt“ („Tokyo Redux“) hat er nun nach „Tokyo Year Zero“ (2007 und „Occupied City“ (2009) seine Tokio-Trilogie abgeschlossen.  – Von Peter Münder

Wenn Donald Reichenbach, US-Diplomat in Tokio, während der letzten Tage des sterbenden Kaisers im Winter 1988/89 sich die „Gretchenfage“ stellt, dann tut er dies tränenüberströmt und total verzweifelt. Da wir hier im dritten Teil von „Tokio Neue Stadt“ sind und der Spezialist für Extremsituationen David Peace heißt, geht es hier natürlich nicht um eine hehre bildungsbürgerliche Faust-Exegese. Was den kranken, alkoholabhängigen und beziehungsunfähigen Donald Reichenbach so verzweifeln lässt, ist die Frage, was aus seiner geliebten Katze Gretchen werden soll, wenn er demnächst gestorben ist – schließlich will sich niemand aus seinem Freundeskreis als „Catsitter“ betätigen. Von Situationskomik kann hier keine Rede sein, denn Reichenbach agiert in geheimer Mission, fühlt sich permanent beobachtet und verfolgt, außerdem wird er von den vorgesetzten US-Polizei-Instanzen schikaniert und  kann seine Phasen mit totalen Ausrastern nicht mehr richtig in den Griff bekommen. Die undurchsichtigen amerikanisch-japanischen  Intrigen und Machtkämpfe, die er nicht durchschauen kann, verstärken  obendrein seine Ohnmachtsgefühle. Und ähnlich wie in den beiden ersten Bänden der Trilogie dominiert hier das Leitmotiv „Nichts ist, wie es scheint“. 

Da jagt Inspektor Minami 1946 den Serienmörder Kodaira Yoshiu im zerbombten Tokio, wird aber bald in die Machenschaften eines Gangster-Syndikats und  in die Intrigen seiner Vorgesetzten verstrickt. Was Minami mit der eigenen düsteren Vergangenheit konfrontiert und den Flickenteppich finsterer Erinnerungsfetzen noch fadenscheiniger werden lässt. Und die  Giftmord–Serie in der Teikoku-Bank, bei der 16 Angestellte im Januar 1948  von einem angeblichen Arzt umgebracht wurden, reiht sich als Real Crime ein in die Reihe der größten japanischen Verbrecherjagden; außerdem lieferte sie die Vorlage für Kurosawas Film „Rashomon“. Peace beschreibt die Abläufe aus der Sicht von zwölf Personen, wobei die Übergänge von tatsächlichen Ereignissen zu imaginierten Vorgängen brüchig sind. Für den Sprachkünstler Peace sind schon die ersten Sätze ebenso typisch wie irritierend, weil Alliterationen mit redundanten, schwer zu deutenden Hinweisen vermischt sind – Was soll das denn heißen: „In the occupied city, you are a writer and you are running – you are running from the scene of the crime.. from the bank and from the bodies…““

David Peace © Dominik Gigler

Aber natürlich lesen wir weiter, weil dieser starke Sog vom Erzähler sofort aufgebaut ist und uns mit einer unwiderstehlichen Power in den Strudel dieser mysteriösen Ereignisse zieht.   

Der Mann, der die Eisenbahn liebte

Den enormen Stellenwert, den das Kennedy-Attentat für die Amerikaner hatte, sprachen die meisten Japaner auch dem immer noch unaufgeklärten Tod des Eisenbahn-Präsidenten Shimoyama zu, der im Juli 1949 an die 100.000 Eisenbahn-Angestellte entlassen wollte und nach intensiven, landesweiten  Hasskampagnen der Gewerkschaften mit Mord-Drohungen überzogen wurde. Bis heute ist unklar, ob Sadanori Shimoyama tatsächlich umgebracht wurde oder Selbstmord beging. David Peace hat ja über zehn Jahre an „Tokio Neue Stadt“ geschrieben und hunderte von Berichten, Analysen, Mangas, CIA-Unterlagen  und Büchern zu diesem ominösen Fall gelesen. Zur Zeit der amerikanischen Besetzung, als mehrere US-Behörden (CIC, GHQ, SCAP) neben den japanischen Polizei-Organen in dem Fall ermittelten, gab es auch Hinweise, dass sowjetische Organisationen ein Attentat auf  den legendären Eisenbahn-Präsidenten organisiert haben könnten. Jedenfalls war es diese nebulöse Gemengelage, die David Peace zu „Tokyo Redux“ inspirierte. 

Zwischen den drei Abschnitten „Der Knochenberg“, „Die Tränenbrücke“ und „das Tor des Fleisches“ liegen fast vierzig Jahre, doch Peace hat die Episoden von 1949, 1964 und 1988 so geschickt miteinander verknüpft, dass das trostlose  Panorama eines traumatisierten Systems entsteht. Die Weichen, die während der Nachkriegszeit in Japan unter MacArthur für die totale Amerikanisierung  gestellt wurden, waren im Kalten Krieg  kaum noch für andere Optionen korrigierbar.  

Wer hier gegen wen kämpft oder intrigiert, wird von Peace nicht mit ausführlichen Vorgeschichten und biographischen Exkursen  pedantisch-buchhalterisch aufgedröselt, sondern unterschwellig suggeriert – der  „implizite Leser“ ist hier gefordert. Er muß sich mitunter auch selbst ein Bild darüber machen, weshalb der amerikanische Ermittler Harry Sweeney seine nächtlichen Alpträume durchleiden muß, blutige Fäuste hat oder plötzlich ausrastet, weil ein japanischer Liftboy ihn nicht so unterwürfig bedient, wie die traditionelle  Herr- und Knecht-Rolle es vorschreibt.  

Wenn Harry mit der Bahn an die Peripherie Tokios fährt, um Zeugen zu vernehmen und Spuren oder zerstückelte Leichenteile von Shimoyama am vermeintlichen Tatort zu inspizieren, dann beschreibt der seit über 15 Jahren in Tokio lebende Peace das Eisenbahnnetz und die meisten Haltestellen nebst Übergängen und Unterführungen so genau, dass es wohl nicht lange dauern wird, bis man  „Tokyo-Redux“-Rundfahrten per Bahn und mit diesem Buch absolvieren kann. (Mein Tip für die Nippon Travel Agency: Dark Tokyo-Redux-Tourism with David Peace! )

Trauma und Koma, Irrungen und Wirrungen, die liegen hier, wie üblich bei David Peace, eng beieinander. Er hat selbst berichtet, woran das liegt: Erstens würde er eine monothematische  Fixierung in seinen Romanen keineswegs bestreiten: Das Düstere, Sinistre, sein Hang zum „Derangement“ sei damit erklärbar, dass Individuen und Gesellschaften erst in Extremsituationen und Phasen von bitteren Niederlagen die wahre eigene Identität  erkennen könnten. So erklärt Peace auch sein Faible für den Autor Akutagawa Ryunusoke (1892-1927), der sich mit 35 Jahren das Leben nahm, weil er sich selbst gegenüber seiner Umwelt als lästig und überflüssig empfand. Aber der rätselhafte Akutagawa hatte ja 1927 noch die Satire „Kappa“ veröffentlicht, in der Flußgeister Menschen und Tiere in ihr Reich zerren wollen, um die Umwertung aller Werte auszuprobieren. Der düster-melancholische Grundton im Werk Akutagawas war für Peace offenbar ein Muster, das sich auch im größeren Raster der japanischen Gesellschaft widerspiegelte ­– jedenfalls war es für ihn ein Grund, Werk und Biographie dieses Dichters für die 2018 veröffentlichte  Fallstudie „Patient X“ zu verarbeiten. Was dann aber auch dazu führte, dass Peace in Diskussionen mit japanischen Lesern und Kollegen meistens als Experte für psycho-historische  Aspekte eingeschätzt wurde.

Den Hang zum Esoterisch-Obskuren könnte man in „Tokio Neue Stadt „auch in einer Seance-Szene erkennen, in der Privatdetektiv Murota Hideki versucht, mit Klopfzeichen in einer Esoteriker-Gruppe irgendwie in Kontakt zum verschwundenen oder verstorbenen Autor Kuroda Roman zu treten, den er für einen Verlag und die Rückzahlung des hohen Vorschusses ausfindig machen soll. Dieser zweite Abschnitt mit der Hideki-Episode  ist eigentlich am spannendsten, weil er aus einer typischen, eher banalen  Chandler-oder Hammett-Szene (Private Eye im verlotterten Büro bekommt üppigen Auftrag, obskure abgetauchte Figur zu finden) auf faszinierende Abwege gerät. Und dabei glänzt Peace auch mit  seiner überzeugenden Technik,  Zwangshandlungen seiner Figuren als Instrumentalisierung zur Bewältigung ihrer Realitätsprobleme einzusetzen.  

Donald Reichenbach, der sich für die Lösung all seiner  medizinischen Probleme Hilfe von seinem Arzt Doctor Morgan versprach, bekommt zwar alle möglichen Pillen, aber der Arzt gibt ihm auch eine simple, wohl entscheidende Erkenntnis mit auf den Weg: „Eigentlich fehlt dir gar nichts, jedenfalls nichts Ernstes –alles spielt sich nur in deinem Kopf ab, mein Lieber“. 

Ja sicher, es braucht aber einen genialen Autor wie David Peace, der uns hilft, die Melancholie, depressive Grundhaltung und Verzweiflung der meisten dieser Figuren nachempfinden  zu können. Als Buch des Jahres steht dieser Titel jedenfalls jetzt schon ganz oben auf meiner Liste. 

Peter Münder

David Peace: Tokio Neue Stadt. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind Verlag München 2021. Hardcover, 426 Seiten, 24 Euro.

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