Saurier-Geschichten
Markus Pohlmeyer über die Dinosaurier-Bücher „All Yesterdays“ und „Ausgestorben, um zu leben“.
Bernhard Kegel gibt in seinem Buch Ausgestorben, um zu leben einen gut informierten Einblick in die Entdeckungsgeschichte der Dinosaurier, welche zugleich auch eine Mentalitäts- und Kulturgeschichte darstellt.[1] Leitendes Motiv ist, mit Evidenz und Analogien ein realistischeres Bild von Dinosauriern zu zeichnen, beispielsweise was ihre Krankheiten oder ihr Paarungsverhalten betrifft. Vieles hat vermutenden Charakter, wird aber plausibel und kritisch vorgetragen, denn: „Das Bild, das die Wissenschaftler von den Vorzeitechsen zeichnen, hat sich stark verändert. 85 Prozent aller heute bekannten Dinosaurierarten erhielten ihre Namen nach 1990, sind also relativ junge Entdeckungen.“[2] Dementsprechend würdigt das Buch auch die Dinosaurier-Renaissance und die Bedeutung gefiederter Dinosaurier: „Vermutlich war die Erde nie zuvor von so vielen Dinosaurierarten bevölkert wie in den letzten Hunderttausenden von Jahren. Wir nennen sie »Vögel«.“[3] Die Größe der Sauropoden, ihre Atmung und Verdauung, ihr Weideverhalten und ihre Funktion als kleine Ökosysteme werden ausführlich diskutiert. Ein kurzes Beispiel illustriert, welche Probleme das American Museum of Natural History mit der Aufstellung von Patagotitan mayorum hatte: „Er bzw. die aufgestellte leichte, aber originalgetreue Fiberglas-Kopie von ihm misst über 37 m und ist damit ein Stück zu lang für den großen Raum.“[4] Ansprechend und spannend liest sich das Kapitel über Tristan Otto, einem Tyrannosaurus rex im Berliner Museum für Naturkunde. „Die vier am besten erhaltenen und vollständigsten [Skelette von T-Rex; Anm. MP], Tristan, Sue, Trix und […] Stan […] stammen aus der für ihren Fossilienreichtum berühmten Hell-Creek-Formation im Nordwesten der Vereinigten Staaten.“[5]

Das 12 m lange Skelett von Tristan Otto im Berliner Museum für Naturkunde – ohne Skelettstützen und störende Säulen des Ausstellungsraums. Bild: Von Smokeonthewater – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Wiki-Commons
In dem phantasievollen Buch All Yesterdays. Unique and Speculative Views of Dinosaurs and Other Prehistoric Animals wird Stan gemütlich schlafend dargestellt – nach einer fetten Mahlzeit (?). Die Autoren räumen mit ein paar liebgewonnenen Traditionen/Sehgewohnheiten auf: „If popular depictions are to be believed, Tyrannosaurus spent most of its life charging at hapless victims while roaring at the top of its lungs. This image, immortalized by movie and comic book depictions, is false on both fronts. To begin with, predators almost never roar or scream while attacking. Stealth is vital in nature. […] Secondly […:] Like most warm-blooded modern predators, the fearsome T. rex may have spent most of its time asleep.”[6] Und Schritt für Schritt destruiert das wunderbare All Yesterdays mit großer Evidenz in kurzen, pointierten Texten und anhand gewöhnungsbedürftiger Bilder bestimmte Vorstellungen von Dinosauriern – mit einem kritischen, humorvollen Bewusstsein für den spekulativen und vielleicht nie beweisbaren Charakter dieses Vorhabens – und konstruiert dafür aber neue, sehenswerte Möglichkeiten.
„ELASMOSAURUS in a neck-swinging contest“[7] (langhalsige Meeresechsen im Schauschwimmen?); „CAMARASAURUS playing in mud“[8] (Gegen Parasiten? Weil es Spaß macht?); „PROTOCERATOPS climbing trees because they can“[9] (Unfasslich!); “THERIZINOSAURUS a mountain of feathers”[10] (ein Gigant mit monstermäßiggroßen Krallen, von oben bis unten ganz mit Federn bedeckt); oder mein Favorit: “LEAELLYNASAURA in an fluffy guise”[11] („[…W]e reconstructed Leaellynasaura as a rotund furball that scurried peacefully about in a polar forests of Australia’s past. We imagined its long tail as a thin, signaling ‘flagpole’ that helped it identify and keep close to members of its pack.”[12] Warum nicht auch Dinosaurier farbig und bunt, sich tarnend oder einfach nur cool drauf? Kontrastiert werden diese Hypothesen mit dem Gedankenexperiment, wie (zukünftige) Paläontologen heutige Tiere wohl rekonstruieren würden: anhand dieser oft absurden, fast gespenstischen Bilder, weil wir die Tiere ja kennen, kämen wir kaum auf die Idee, dass seien Katzen, Schwäne oder Wale.
Epilog
I
In diversen (deutschen) Geschäften mit Spielzeugabteilungen finden sich spannende, nicht unwissenschaftliche, oft auch voneinander abweichende Dinosauriermodelle verschiedener Größen und Preisklassen (die auch den kleinen Dino-Park in meinem Regal ständig erweitern.) Interessant sind die unterschiedlichen Rekonstruktionen beispielweise eines Spinosaurus im Laufe der Jahre: von plump bis immer eleganter und aquatischer.[13] Es lohnt sich, so ein kleines Paläo-Museum über die Jahre aufzubauen!
II
In einer meiner ehemaligen Lateinklassen (Mittelstufe) besorgte ich eines schönen Tages für eine Doppelstunde aus der Biologie eine Kiste voller Dino-Modelle, hängte Zallingers Opus maximum[14] in Reproduktion an die Tafel und teilte Listen mit lateinischen und griechischen Wortbildungselemente für Dinosaurier aus … Und brauchte nur noch da zu sein. Der Saal tobte. Später ein besorgter Vater in der Sprechstunde zu mir: „Unser Sohn redet seit zwei Wochen am Essenstisch nur noch von Sauriern. Wir machen uns Sorgen.“ Darauf ich: „Hm?“ (Sie glauben gar nicht, wie glücklich in diesem Moment der Didaktiker in mir war!)
III
„Erwacht sind sie aus Kreide, Jura,
sumpfig-feuchtem Urzeitland.
Es übt Spagat ganz in natura
Fabrosaurus – elegant!
Sie tanzen klassisch Kapriolen
Vom Strand bis London-Innenstadt.
Sie balancieren über Molen.
Im Rumbatakt vibriert das Watt.
Die Richterskala läßt schön grüßen
Beim Aufprall nach gewagtem Satz.
Schwanensee – mit zarten Füßen
Auf angestammten Trampelplatz.“[15]
Markus Pohlmeyer lehrt an der Universität Flensburg. Seine Texte bei CrimeMag hier.
Ausstellung „Tristan – Berlin zeigt Zähne“ im Berliner Museum für Naturkunde. Das Begleitbuch zur Ausstellung hier.
Zum Thema siehe auch: Markus Pohlmeyer: Paläoart: Wie Künstler durch die Zeit sie sahen, CrimeMag Dezember 2017.
Anmerkungen:
[1]B. Kegel: Ausgestorben, um zu bleiben. Dinosaurier und ihre Nachfahren, Köln 2018.
[2]Kegel (s. Anm. 1), 11. Das Buch hätte es in seiner Einleitung nicht nötig gehabt, fragend zu bemerken, es gäbe „[…] kein einziges einigermaßen aktuelles Buch in deutscher Sprache, das sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richtet […].“ (Kegel (s. Anm. 1), 11.) Dem widerspricht zum Teil die knappe Literaturliste, welche auch etwas ausführlicher hätte ausfallen können, statt auf die Homepage des Autors zu verweisen. Im Fließtext finden sich nämlich richtige gute Verweise! Siehe auch D. Norman: Dinosaurier, übers. v. S. Held, Stuttgart 2011. Oder den unglaublichen Bildband Z. Lescaze: Paläo-Art. Darstellungen der Urgeschichte, übers. v. D. Eliass, Köln 2017 (TASCHEN). Oder A. Dworsky: Dinosaurier! Die Kulturgeschichte, München 2011.
[4]Kegel (s. Anm. 1), 110. Vgl. dazu auch Kegel (s. Anm. 1), 125: „Auf die Frage, wie der Gigantismus der Sauropoden derart erfolgreich sein konnte, scheint es also nicht nur eine Antwort zu geben. Ein internationales Forscherteam um den Bonner Paläoontologen Martin Sander hat eine ganze Reihe von Faktoren identifiziert, die zu diesem Erfolg beigetragen haben, und spricht deshalb von einer »evolutionären Kaskade«. Bestimmte Eigenschaften und Merkmale der Sauropoden, alte wie neue, haben sich gegenseitig stimuliert und ermöglicht. Die Vogellunge mit den Luftsäcken war eines davon, eine relativ hohe Stoffwechselrate ein zweites.“
[6]J. Conway – C. M. Kosemen – D. Naish: All Yesterdays. Unique and Speculative Views of Dinosaurs and Other Prehistoric Animals, Irregular books (2012?), 36. Im Verfahren nicht unähnlich: M. P. Witton: Recreating an Age of Reptiles, The Crowood Press Ltd. 2017.
[7]All Yesterdays (s. Anm. 6), 20.
[8]All Yesterdays (s. Anm. 6), 34.
[9]All Yesterdays (s. Anm. 6), 40.
[10]All Yesterdays (s. Anm. 6), 54.
[11]All Yesterdays (s. Anm. 6), 62.
[12]All Yesterdays (s. Anm. 6), 62
[13]Vgl. dazu J. Kuether: The Amazing World of Dinosaurs. An Illustrated Journey Through the Mesozoic Era, Adventure Publications, 2016, 96.
[14]Vgl. dazu: Z. Lescaze: Paläo-Art. Darstellungen der Urgeschichte, übers. v. D. Eliass, Verlag Taschen, Köln 2017, 137: „Das Bild Das Zeitalter der Reptilien von Rudolph F. Zallinger spürt die Entwicklung prähistorischen Lebens vom Devon bis zur Kreidezeit nach und bildet nahezu 300 Millionen Jahre ab. Das Gemälde wurde 1947 vervollständigt und ist eines der größten und bekanntesten Paläo-Kunstwerke, die je entstanden sind; ein gigantisches Meisterwerk, für welches über 33 Meter Gips verarbeitet wurden.“ Selbstverständlich habe ich meine Schülerinnen und Schüler auch über neuere Rekonstruktionsmodelle informiert.
[15]R. Bradbury: Saurier-Geschichten. Ein romantisches Lesevergnügen, übers. v. A. Kamphuis – F. Köpsell, Bergisch Gladbach 1993, 130 f.