Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022

nonfiction, kurz – November 2022

Sachbücher, kurz besprochen

Von Alf Mayer (AM) – sowie eine Filmempfehlung von Sybille Ruge (SR)

Martin Hübner und Jürgen Ast: Das rote Imperium

Tillmann Bedikowski: Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich
Iso Camartin: „Mein Herz öffnet sich deiner Stimme“: Eine Zeitreise gesungener Empfindungen in 50 Arien
Tim Cornwell (ed): A Private Spy, The Letters of John le Carré
Fake your Goethe. Die wahre Geschichte der Literatur
Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen
Rolf Lindner: In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt
Michael Möseneder: Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof. Unglaubliche Wiener Gerichtsprozesse

Siehe auch in dieser Ausgabe: Raus in die Natur – fünf Naturbücher

Filmempfehlung: Was Russland heute ist

(SR) Vorneweg, dies ist keine Filmkritik, sondern eine Empfehlung. Das Paradies auf Erden sollte es werden, und es wurde für viele die Hölle. Das rote Imperium von Martin Hübner und Jürgen Ast erzählt die Geschichte der Sowjetunion in drei Teilen, zu sehen in der Arte Mediathek.

Ein Film, der ohne das Wort Putin auskommt und Gewaltherrschaft erklärt. Eine Welt, die der westliche Mensch kaum lesen, kaum verstehen kann. Der Homo sovieticus, erklärt in Archivbildern und Interviews.

Der Film zeigt paradoxe, absurde und äußerst schmerzhafte Widersprüche im System des größten Landes der Erde. Dort, wo alles grösser ist, auch die Widersprüche. Ein Imperium, angetreten, um Hunger zu beseitigen, das Millionen Hungertote zurückließ. Ein Land, das den ersten Menschen ins All schickte und das erste Atomkraftwerk baute, aber nicht fähig war, eine Wirtschaft aufzubauen, die der Bevölkerung ein Mindestmaß an Lebensqualität bot. Ein Land, das sich gegen die eigene Bevölkerung wendete und die dem ohne jede Chance ausgeliefert war: dem Hunger, der Armut, dem Gulag, der Propaganda und Parteibürokratie. 

Über dem Homo sovieticus flatterte und spannte sich die rote Fahne. Hammer und Sichel für alle, für die Folgsamen und für die Unfolgsamen, für die Streber und die Querulanten.

Hammer und Sichel als Zufallsgenerator, der unter Stalin niedermäht ohne Muster. Erklärbar nur in einem Netz von Verstrickungen, tausende Details, die zusammengenommen ein System ergeben, das sich gegen monokausale Erklärungen sträubt. Die Filmemacher erzählen die Geschichte der Sowjetunion von der Gründung 1922 bis 1991. Sie gliedern das Schicksal eines Landes und seiner Bewohner in Paraden, Pläne, Paranoia, Stalinorgeln, Sputnik Schock, Superbombe, Kasernen, Kader, Kollaps.

Wer heute mitdiskutieren will, was Russland heute ist und in der Zukunft sein will, und warum, der sollte zum besseren Verständnis diesen Film aushalten. Hier bei arte.

Wunderbar höherer Blödsinn

(AM) Bei der Zeitschrift „Pardon“ bezeichnete der intern gebrauchte Ausdruck „verWimSen“ die Transformation realer Personen, Ereignisse und Meinungen auf die Ebene höheren Blödsinns, der dann wiederum zum Beispiel in der Beilage „Welt im Spiegel“ (1964 – 1976) den alltäglichen Wahnsinn offenbarte.

„Nonsens“ ist nach Wikipedia „eine Form des deutschen Humors“. Dessen Theorie- & Praxisraum war die von Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und F.K. Waechter begründete „Neue Frankfurter Schule“. Sie muss auf Andreas Verstappen, alias VerstAnd, seit Jahrzehnten Hauscartoonist der in Münster erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“, richtig Eindruck gemacht haben. Zumindest ist er ein Geistesverwandter.

Mit Fake your Goethe legt der studierte Germanist jetzt eine zum Weglachen komische und gegen allen Strich gebürstete alternative Wahre Geschichte der Literatur vor, unterfüttert von Collagen und Karikaturen, Postkarten, Aquarellen und Zeichnungen. Wolfram von Eschenbach als Vordenker moderner Autoren wie Franz Kafka, Grimmelshausen und sein Ratsherrentopf der Kritiker, die Gebrüder Grimm als Erfinder des Copy & Paste-Verfahrens, König Artus und seine Hofschreiber als Wegbereiter des modernen Romans? Erst die Erfindung des Bücherregals durch Jean Claude Billy, 1450, und dann der Buchdruck, um die Regale zu füllen? Ein Max, der glaubt, nicht mehr ganz Frisch zu sein? Leo Trotzki im Speiselokal „Brökske“ zu Krefeld? Der Schäfer- der Müller- und dann auch der Besenbinder- und Korbflechterroman? Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Realität ist schmal, von den Sumerern bis ins Jahr 2080 und mit einem Schwerpunkt bei Annette von Droste-Hülshoff.

Hiermit auch ein Hinweis auf die mit jeder Nummer erneut substantiell überzeugende Literatur-Zeitschrift „Am Erker“, 1977 von Joachim Feldmann und Michael Kofort gegründet. Heft Nr. 83 erschien jetzt im Oktober und ist dem Thema „Feuer“ gewidmet. Das Einzelheft kosten 10 Euro, ein Probierpaket von drei Nummer ebenfalls. Das Vierer-Abo ist für 43 Euro inklusive Porto zu haben.

Fake your Goethe. Die wahre Geschichte der Literatur: Erzählt vom VerstAnd selbst. Verlag Am Erker, Münster 2022. 116 Seiten, durchgängig illustriert, 16,80 Euro.

Kein toter Briefkasten

(AM) „I hate the telephone. I can’t type. Like the tailor in my new novel, I ply my trade by hand. I live on a Cornish cliff and hate cities. Three days and nights in a city are about my maximum. I don’t see many people. I write and walk and swim and drink.“ So stellte sich John le Carré 1996 in „Talking to My American Publishers“ selber dar. Seit 1969 lebte er auf einem Kliff in Cornwall, pflegte seine Korrespondenz, schrieb seine Romane, baute drei nebeneinander liegende, baufällige kleine Cottages und eine Scheune zum Refugium um, fügte im Lauf der Jahre Bibliothek, Schreibstudio und einen wilden Garten hinzu. Im Dezember 2020 starb er nach einem Sturz, 89 Jahre alt, an einer Lungenentzündung. Der Welt hinterließ er 25 Romane. Spionageromane. Thriller. Manche davon konnten es mit seinem Vorbild Charles Dickens aufnehmen, definierten das Genre neu, bleiben Ecksteine.

Nun liegt, herausgegeben von seinem dritten Sohn Tim Cornwell, mit A Private Spy, The Letters of John le Carré eine Auswahl seiner gesammelte Korrespondenz zwischen 1945-2020 vor. 663 Seiten Briefe (und einige Emails). Tim Cornwell, der zwei Monate nach Fertigstellung seiner Arbeit starb, umreißt in seinem Vorwort, was an Briefwechsel über die Jahre verloren ging oder vernichtet wurde oder nach seines Vaters Willen nie das Licht der Welt erblicken sollte. Zwei Mal verheiratet, die zweite Ehe währte mehr als 50 Jahre bis zu seinem Tod, war er ein liebender und geliebter, aber auch ein fürchterlich untreuer Ehemann.  (Siehe dazu nächsten Monat hier in dieser Rubrik Suleika Dawsons mit „The Secret Heart“.) 

Das Öffentlich-Machen von Privatem war le Carré, wie ihn auch sein Sohn Tim durchgehend nennt, verhasst. Dm Biographen Adam Sisman trug er das bis ins Grab nach. Tim revidiert angesichts seiner Editionsarbeit jedoch dieses Familienurteil, sieht Sisman in vielen Punkten und Abwägungen richtigliegend, leistet Abbitte. Allzu viel Skandalöses oder Intimes sollte man sich von der Briefauswahl aber nicht erwarten, auch versagte sich der Herausgeber, daraus eine Celebrity-Show zu machen. Sein persönliches Interesse lag mehr auf den 1950er und 1960er Jahren, dem „making of le Carré“. 

Le Carré war sich schon früh bewusst, dass seine Korrespondenz irgendwann öffentlich werden würde, diesen Blick über die Schulter spürt man immer wieder. Schon 1961, noch an der Botschaft in Bonn beschäftigt, schrieb er an Miranda Margretson: „I have decided to cultivate that intense, worried look and to start writing brilliant, untidy letters for future biographers. This is one.“ Mit dabei: eine Karikatur, die ihn als ebensolchen Briefeschreiber zeigt. Er war auch ein guter Zeichner, der Band enthält davon einige Zugaben – insgesamt 65 Fotos und Zeichnungen. Interessant ist der Briefaustausch mit Alec Guiness, aber auch der mit August Hanning, 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes oder dem Autor Stephen Fry. Ein Namens-, Titel- und Stichwortverzeichnis ist ebenso nützlich wie die ausführliche Chronologie. Die le-Carré-Familie scheint zu wissen, wie ihr Vater der Nachwelt überliefert werden soll. Und natürlich ist dies noch keine Besprechung, nur ein erster Hinweis auf eine wichtige Neuerscheinung.

Tim Cornwell (ed): A Private Spy, The Letters of John le Carré. Viking, London 2022. 714 Seiten, GBP 30, auch als Trade Paperback und als US-edition.

Die Energie der Weimarer Zeit

(AM) 2019 begeisterte Harald Jähner mit „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955“, schrieb damit einen internationalen Bestseller. Seine mustergültig vorgetragene Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit bewies, dass nicht nur die Angelsachen „Sachbuch können“ (meine Besprechung hier). Jetzt wendet sich der ehemalige Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“ erneut einer wichtigen deutschen Phase des 20. Jahrhunderts zu, nämlich der Weimarer Republik.

Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen erzählt auf 558 Seiten von Gefühlen und Stimmungen „als Aggregate politischer Haltungen und Konfliktlagen, von schwankenden Phänomenen wie Unbehagen, Zuversicht, Angst, Überdruss, Selbstvertrauen, Konsumlust, Tanzlust, Erfahrungshunger, Stolz und Hass“. Jähner führt dazu in Tanz- und Sportpaläste, Großraumbüros, Fotostudios, Bierzelte zu Wahlzeiten, ins Verkehrsgewühl und an den Straßenrand bei Aufmärschen, geht aufs Land und zum Bauhaus, in die Provinz und die Metropole (natürlich Berlin). Er weiß um die Umwälzungskraft des Jazz und dass man den Charleston alleine tanzen konnte. Sein Buch, so schreibt er selbst in seinem Vorwort, zeigt die Zeit zwischen den beiden deutschen Weltkriegen „wie ein Wackelbild, überraschen heutig und dann doch wieder auf bizarre Weise fremd“.

Entstanden ist eine pralle, sinnliche Alltags-, Mentalitäts-, Kultur- und Politikgeschichte der Zwanziger Jahre in einem. Körperpolitik und Publizistik gehören dazu, der Verkehr als Staatsbürgerkunst, die neuen Geschlechterzweifel und die verschwindende Arbeit, die sinkende Stimmung und eine einsame Elite. Das Buch beginnt mit dem nackten Boxer Erich Brandl vor der Studiokamera von Frieda Riess auf dem Kürfürstendamm 1925. Am Ende steht: der Reichskanzler Hitler. Und damals wie heute hatte jeder Einzelne die Wahl. – Der Band ist kundig illustriert, es gibt ein Personenregister, und der Epilog schreibt die Biografien der wichtigsten Personen im Buch in Nazi- und Nachkriegszeit weiter. 

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt Berlin, Berlin 2022. 558 Seiten, viele Abbildungen, 28 Euro.

Da geht das Herz auf

(AM) „Selbst unter Opernfreunden hat sich noch nicht herumgesprochen“, eröffnet Iso Camartin sein Kapitel über die Arie „Se pietade avete, oh numi“ („Wenn ihr euch erbarmt, oh ihr Götter“) auf Seite 61, „dass Joseph Haydn ein hochbedeutender Opernkomponist war.“ Aus den immerhin gut ein Dutzend heiteren und ernsten Haydn-Opern sucht er sich „Armida“ aus, die zu den gelungeneren der über 30 Varianten gehört, in denen die gleichnamige Zauberin die Ritter des ersten Kreuzzuges von ihrer Bestimmung, Jerusalem zu erobern, abhält und sie in Liebesabenteuer verwickelt. Auch Händel, Gluck, Rossini oder Dvořák haben sich an dem Epos „Das befreite Jerusalem“ Torquato Tasso von 1574 versucht. Eine zwischen Liebe und Zorn so zerrissene Armida, wie Cecilia Bartoli sie im Juni 2000 im Musikvereinssaal in Wien konzertant sang, „wird man auf der Welt nicht wiederfinden“, meint Camertin. 

Ein Opernführer also in Kurzform, und was für einer. Das Papier ist angenehm matt gestrichen, der Satzspiegel gediegen, das Format leicht übergroß. Der Anhang ordnet die ausgewählten 50 Arien chronologisch, auch ein Namensregister fehlt nicht. Der jedem Kapitel beigegebene QR-Code führt zum besprochenen Mitschnitt oder zur jeweiligen Aufnahme. „Mein Herz öffnet sich deiner Stimme“: Eine Zeitreise gesungener Empfindungen in 50 Arien ist ein must have für Liebhaberinnen und Liebhaber der großen Sangeskunst. Der Schweizer Philologe und Essayist, Literaturkritiker und große Opernkenner Camartin, der „Die Kunst des Lobens“, so (s)ein Buchtitel von 2014, vollendet beherrscht, hat für seinen Streifzug Arien aus Opern, Oratorien und Kantaten aus dem 17. bis 20. Jahrhundert ausgewählt. Sie sind ihm Schlüsselmomente musikalischer Erfahrungen und Empfindungen, voller Gefühle und Leidenschaften, wie sie die Musik unmittelbarer als jede andere Kunst bereithält. Zitat: „Liebe ist das Grundelement heldenhafter Aufopferung ebenso wie jenes tief empfundener Zuneigung, Liebe gibt es aus zukunftsorientierter Abenteuerlust wie aus entsagender Einsicht, kurzum: Liebe ist das wichtigste Beweismittel, dass das Dasein lebenswert ist.“

Der Buchtitel ist die Übersetzung der Arie „Mon coeur s’ouvre à ta vois“ aus Camille Saint-Saëns‘ Oper „Samson and Delilah“. Für den Autor am schönsten singt diese Verführungsarie die Mezzosopranistin Jessye Norman. Ich, der ich eigentlich die Wahnsinnsarie der „Lucia di Lammermoor“ am meisten unter allen mag, gesungen von der Callas, wahlweise der Bartoli, wurde in diesem wunderbaren Buch auf viele andere Bühnen geführt – und ganz sicher höre ich mir Monserrat Caballès „Piangete voi?“/ „Weint ihr? Was verursacht diese Tränen“ in Donizettis „Anna Bolena“ als allernächstes an. Große Empfehlung. Großer Spaß.

Iso Camartin: „Mein Herz öffnet sich deiner Stimme“: Eine Zeitreise gesungener Empfindungen in 50 Arien. rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich 2021. 254 Seiten, 31,50 Euro. Die Liste der besprochenen Arien hier.

Weihnachtsdeko, Haustiere, Büropflanzen

(AM) Vor Gericht und auf hoher See … diese römische Juristenweisheit erweitert Michael Möseneder in seinem Sammelband Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof um den Gerichtsreporter. Es sind wahrhaft Unglaubliche Wiener Gerichtsprozesse, gut 50 an der Zahl, die er erstaunlich komprimiert und ruhig ausbreitet und uns die Mühseligen und Beladenen, die Bescheuerten und Harmlosen, die Opfer des Systems und seine kleinen Profiteure von ganz nah zu zeigt. Aufsehen erregende Großprozesse meidet er, sein Augenmerk und seine Kunst sind die kleinen Prozesse, die Schlaglichter auf eine Lebensrealität richten oder, so sein Vorwort, „zeigen, zu welch absonderlichen Dingen der Homo sapiens in der sozialen Interaktion fähig ist“. 

Gerichtsreportagen sind ja durchaus ein eigenes Subgenre der Sachbuchliteratur und hat seine Lichter, Größen und Stars. Michael Möseneder kann sich hier mit diesem handschmeichlerischen Band in aller Form einreihen. Seinem Metier macht er alle Ehre. Es geht um Büropflanzen und ihre Bedürfnisse, um Fast Food als Mittel zur Nothilfe, um Chefinnen, die Mitarbeiter inkognito dazu bringen, ein Kind zu missbrauchen, um Meerschweinchen als Kollateralschaden streitender Nachbarn, um das Gefahrenpotential schlecht erzogener Haustiere, um Alkohol als keine Lösung, um Parklücken vor einem Nobelrestaurant und folgenschweren Verkehr, um falsche Freunde und um Weihnachtsdeko. Ums pralle Leben also.

Michael Möseneder: Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof. Unglaubliche Wiener Gerichtsprozesse. Haymon, Innsbruck-Wien 2021. 224 Seiten, Hardcover,  19,99 Euro.

Die Stadt unter der Stadt

(AM) „Denn woraus besteht eine Stadt? Aus allem, was in ihr gesagt, geträumt, zerstört, geschehen ist. Aus dem Gebauten, dem Verschwundenen, dem Geträumten, das nie verwirklicht wurde. Aus dem Lebenden und dem Toten… Eine Stadt, das sind alle Worte, die dort je gesprochen wurden, ein unaufhörliches, nie endendes Murmeln, Flüstern, Singen und Schreien, das durch die Jahrhunderte hier ertönte und wieder verwehte … auch das, was sich nie mehr rekonstruieren lässt, ist ein Teil davon… Es lebt fort in Archiven, Gedichten, in Straßennamen und Sprichwörtern, in Wortschatz und Tonfall der Sprache… Die Stadt ist ein Buch, der Spaziergänger sein Leser. Er kann auf je der beliebigen Seite beginnen, vor- und zurückgehen in Raum und Zeit.“ (Cees Nooteboom „Die Form des Zeichens, die Form der Stadt“. In: „Die Dame mit dem Einhorn. Europäische Reisen“, Frankfurt 2000)

Der frequent traveller Nooteboom fehlt merkwürdigerweise im immerhin 20seitigen Literaturverzeichnis der konvergierenden Essaysammlung In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt. Der Stadtforscher Rolf Lindner beschäftigt sich schon lange mit der Menschenkunde der Städte, deren mentaler Topographie und Kultur- und Poetikgeschichte. Sein Text „The Imaginary of the City“ erschien 1999, „Der Habitus der Stadt. Ein kulturgeographischer Versuch“ 2003, „Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung“ und „Die Stadt als kultureller Raum“ 2004, ebenso die „Vorüberlegungen zu einer Anthropologie der Stadt“; „Anmerkungen zur Stadt als Geschmackslandschaft“ 2010. Dies sind frühe Arbeiten, keine Buchkapitel, um einem Missverständnis vorzubeugen.

All das Imaginäre, all die Schichten von Bildern, Mythen, literarischen wie bildnerischen (und filmischen) Aneignungen und die aus ihnen erwachsenen Diskurse bilden Lindner die Tiefenstruktur der mit der – mit einer – Stadt verbundenen Vorstellungsbilder. Für Linder ist das Berlin, „sein“ Berlin, dem er bereits 2017 das Buch „Berlin, absolute Stadt“ widmete. Er weiß: Nur wenn die Bewohner sich und ihre Stadt in den von ihr gemachten und gewachsenen Bildern wiederfinden, können diese „images“ wirksam sein. Wenn Legenden, Redensarten, Musikstile, Ansichten und Menschen- und Raumbilder den Eindruck des Authentischen vermitteln, erst wenn eine Stadt im wörtlichen wie im übertragenen Sinn „besungen“ wird, hat sie den Status einer Metropole erlangt – und dann lässt sich sagen: „Sehn se, det is Berlin!“

Rolf Lindner  In einer Welt von Fremden. Eine Anthropologie der Stadt. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 290 Seiten, Hardcover, 28 Euro.

Alles doch ziemlich normal hier

(AM) Was war das für ein Leben in Deutschland, während der Nazi-Zeit? Wie normal war es, wie sehr unserem heutigen ähnlich? Das fragt sich der Hamburger Historiker Tillmann Bedikowski, mit dem wir bereits zu Friedrich dem Großen gereist sind, zu Martin Luther, in den Sommer 1914, zur Jahreswende 1870/71 und für ein ganzes Jahr ins Mittelalter (meine Besprechung siehe hier).  Das „Dritte Reich“, so Bedikowski, war kein permanenter Ausnahmezustand mit Reichsparteitag und hysterisch brüllendem Führer, es bestand für die Menschen in diesem Land aus einem ganz alltäglichen Leben. Eines aber ohne Demokratie, eines in einer Diktatur, so „normal“ man das damals auch fand.

Der stets anschaulich und lesbar schreibende Autor hat sich für Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur die Zeit zwischen Dezember 1938 und November 1939 ausgesucht. In zeitlicher Hinsicht ist das die Mitte der NS-Herrschaft. 1939 dauerte sie bereits sechs Jahre – es waren die der Stabilisierung der Diktatur –, sie sollte noch weitere sechs Jahre anhalten und „schließlich ganz im Zeichen des Niedergangs, des entfesselten Massenmordes und der totalen Niederlage stehen“. Das Buch beschreibt, den Alltags-Sockel, auf dem all dies möglich war. Die zwölf Monate und Kapitel, die es durchmisst, sind je mit einem Thema verknüpft. „Friede auf Erden“ beschreibt das Weihnachtsfest 1938. Im Januar 1939 schon folgt „Angst und Schrecken“, kündigt Adolf Hitler doch im Reichstag die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an. Andere Kapitel widmen sich dem Arbeitsalltag, Pflicht zum Gesundsein, dem Glauben, den Müttern, der Verachtung der Intellektuellen, der Volksgesundheit, der Schule, dem Urlaub oder der Haltung zum Krieg.

Das vorherrschende Lebensgefühl der Deutschen damals war keineswegs die Angst vor persönlicher Verfolgung oder die Ablehnung einer Diktatur. Die meisten Deutschen waren mit der herrschenden Politik durchaus zufrieden und trugen ihren Teil bei zum Funktionieren des Systems. Die Normalität des NS-Zeit ist das wahrhaft erschreckende daran, die Haltung von Angorakaninchen (Seite 277 ff.) inklusive. Dass mein Lieblingsonkel sie noch in den Sechzigern züchtete sehe ich nun in anderem Licht. – Derer gibt es in diesem Buch sehr viele.

Tillmann Bedikowski: Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39. C. Bertelsmann, München 2022. 560 Seiten, 26 Euro.

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