Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

non fiction: kurz

Alf Mayer (AM) über:

Philipp Gassert: 11. September 2001
Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September
Mittelweg 36: Metamorphosen der Kritischen Theorie
Mittelweg 36: Gewalt, Krieg, Recht. Siegfried-Landshut-Preis 2020: Isabel V. Hull
Georg Seeßlen, Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0
Sacha Szabo (Hg.): Bubble Gum Studies
Kai Witzlack-Makarevich, Coretta Storz, Nadja Wulff: Von Alfons Zitterbacke bis Zonen-Gaby – Die DDR in Elf 99 Kapiteln

Zeitenwende

(AM) Die Welt war live dabei, als die Türme des World Trade Center einstürzten. Die Anschläge vom 11. September 2001 veränderten nicht nur die USA, sondern viele Gesellschaften weltweit, denn auf die Terroranschläge folgte Krieg. Es folgten der Sturz der (gerade eben wieder erstarkten und letztlich siegreichen) afghanischen Taliban, die Suche nach Osama Bin Laden und der Einmarsch in den Irak sowie das „Engagement“ vieler westlicher Staaten in Afghanistan, das gerade mit einem Fiasko endet. Die Geschichte des 11. September 2011 ist noch lange nicht zu Ende. In der bewährten Reclam-Reihe „100 Seiten“ zieht der Amerikanist und Professor für Zeitgeschichte Philipp Gassert eine Zwischenbilanz, arbeitet die Ursachen, Reaktionen und Folgen des 11. September auf. Gassert ist Mitautor von „Amerikas Kriege“ (2014). Knapper als in seiner Darstellung lässt sich diese Zeitenwende kaum darstellen um umreissen.

Philipp Gassert: 11. September 2001. Reihe 100 Seiten. Philiipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2021. 100 Seiten, 12 Abb. und Infografiken, 10 Euro.

Emotionale Wucht

(AM) Nine-eleven ist die Kurzformel für ein Datum, das ebenso wichtig ist wie der Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, es war der Tag, an dem Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York gesteuert haben. Seitdem haben wir eine andere Welt. 9/11 wirkt nach. 2018 war das erste Jahr, in dem nach dem 11. September 2001 geborene Rekruten zu Einsätzen in den Irak und nach Afghanistan geschickt wurden. Der Journalist Garrett M. Graff hat Jahre damit verbracht, über die geo- und sicherheitspolitischen Konsequenzen dieses Datums zu schreiben, zuletzt „Raven Rock. The Story of the U.S. Government’s Secret Plan to Save Itself — While the Rest of Us Die“ über die Regierungsvorsorge für den Jüngsten Tag (CrimeMag-Kritik hier). Für Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September hat er drei Jahre recherchiert, zwei Jahre mit der Oral-History-Spezialistin Jenny Pachucki zusammengearbeitet. Das Buch beruht auf mehr als 500 Zeitzeugenberichten, destilliert aus über 5000: einfache Menschen, Mütter und Väter und Kinder, Feuerwehrleute, Polizisten, Politiker, Ärzte, Lehrer, Hausfrauen, Mütter, Stewardessen, Journalisten, CIA- und FBI-Agenten, Soldaten und Pfarrer. Das Buch will dokumentieren, wie dieser Tage erlebt wurde – in den eingestürzten Türmen, in New York und Umgebung, im Pentagon, im Kapitol, im Weißen Haus, in Bunkern und Flugsicherungszenten, in Schulen und Büros, im Cockpit von Kampfflugzeugen und in den Flugzeugen, die an diesem Tag zum Absturz gebracht wurden. 

Die Lektüre ist heftig, die emotionale Energie gewaltig. Die Erzählweise ist demokratisch. Das ist klein und groß und vor allem anschaulich, ein Leseerlebnis, das unter die Haut geht. Sich einbrennt. (Auch das US-Hörbuch übrigens ist Gänsehaut.) Oral History mag ein wenig aus der Mode sein, veraltet ist sie nicht, sondern höchst effektiv. Zuletzt hat uns das die Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mit Büchern wie „Die letzten Zeugen – Kinder im Zweiten Weltkrieg“, „Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft“, „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ bewiesen. Nun also Kempowskis „Echolot“ aus New York, als Raum für Verzweiflung und Schmerz, Trauer und Schrecken und puren Terror. Unweigerlich summiert sich eine große Litanei des großen „Was Wenn?“ Was, wenn Mohammed Atta nicht aufgefordert worden wäre, sich beim Boarding zu beeilen? Was, wenn jemand seinen Flug nicht bekommen oder für eine andere Stunde gebucht hätte? Was, wenn jemand nicht noch schnell sein Hemd gewechselt hätte? Was wäre aus Familien geworden, aus Karrieren, aus so vielen Leben? Stoff für Dutzende Romane steckt in diesem Buch. Der Originaltitel bezieht sich darauf, dass die Air Force One mit Präsident Bush an Bord an diesem Tag das einzige Flugzeug am Himmel war; die Maschine kreiste für Stunden über den USA. So schien es für die Sicherheit von Präsident Bush am besten. 2020 als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen, gibt es jetzt eine sogar preisgünstigere Sonderausgabe mit festem Einband.

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September (The Only Plane in the Sky: An Oral History of 9/11, 2019). Suhrkamp Taschenbuch Sonderausgabe, Berlin 2021. Fester Einband, 543 Seiten, 15 Euro.

Gehört zur Alltagskultur

(AM) Als Massenprodukt gehört das Kaugummi genauso elementar zur Massenkultur wie Coca-Cola oder Rock’n’Roll oder „Star Wars“. So hartnäckig aber sich das Kaugummi in unserer Alltagskultur festgesetzt hat, so weich scheint es bei näherer Betrachtung, stellt Herausgeber Sacha Szabo in seiner Einleitung zu Bubble Gum Studies fest. Das fange schon damit an, dass nicht genau feststeht, ob das Maskulinum oder das Neutrum richtig ist oder dass er als Nahrungsmittel zwar dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt, aber nicht essbar ist. Einerseits haftet ihm Süße an, aber auch Ekel, wenn man ihn von der Schuhsohle kratzen muss oder wenn man daran denkt, dass er mit menschlichem Speichel durchdrungen ist. Die Naturwissenschaften haben deutlich weniger Bedenken, sich an diesem Thema die Finger schmutzig zu machen als die Kulturwissenschaften. An ihm scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch die Kulturen. Es gibt kaum ein halbes Dutzend Bücher zu diesem Stoff. Ungeklärt ist auch, ob Kaugummi wirklich die kognitive Leistungsfähigkeit steigert.
Fest steht, dass bereits die Mayas das latexartige Chicle kauten und vor zehntausend Jahren Birkenpech in Skandinavien. Die ersten Verkaufsautomaten ließ sich der Geschäftsmann Thomas Adams 1871 patentieren, schon in der Fünfzigern gab es noch in den kleinsten Dörfern Kaugummiautomaten, in die das Taschengeld gesteckt wurde. Der Band Bubble Gum Studies untersucht den Kaugummi als Kulturträger, geht auf mittelalterliche Spuren, sinniert über Kaugummi-Blasen ebenso wie über das Papier, in dem er eingewickelt wurde und wird, verfolgt seine Spuren in Kunst, Werbung, Konsum und Alltag, bietet Marken- und Kulturgeschichte, blättert selbst Sammelbilder auf. Die sich durch den ganzen Band ziehenden üppigen Illustrationen haben manchmal Verblüffungscharakter. Insgesamt ein wunderbares Beispiel für Fröhliche Wissenschaft. 

Sacha Szabo (Hg.): Bubble Gum Studies. Der Kaugummi als Kulturträger. Archäologie des Vergnügens, Band 2. Büchner-Verlag, Marburg 2020. 504 Seiten, 28 Euro.

Den Kapitalismus retten 

(AM) Wir Kleinbürger, schreiben Georg Seeßlen und Markus Metz in ihrer ätzend akkuraten Studie Wir Kleinbürger 4.0 sind ja weder Partei noch „Bewegung“, weder „Szene“ oder „Gemeinschaft“ oder „Kultur“ oder „Milieu“. Wir stecken nur in dem Sumpf, aus dem das alles steigt. Es gibt Dinge, meinen die Autoren, die man nur versteht, wenn man „aus dem Kleinbürgertum kommt“, und es gibt Dinge, die man einfach nicht verstehen kann, wenn man nicht aus dem Kleinbürgertum kommt.
Jetzt Ende August 2021 nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl erschienen, lotet das Buch die Varianten der bevorstehenden politischen Kleinbürgerhochzeit aus, ist aber gleichzeitig weit mehr als, nämlich – wie bei den Seismographen Metz & Seeßlen bereits verbrieftes Güte-Programm – eine fulminante Kultur- und Mentalitäts- und Politikgeschichte, die über jeden Wahltag hinaus Gültigkeit und Schärfe bewahrt. Kleinbürger begreifen die beiden Autoren als untote Wanderer zwischen Kapital und Arbeit. Wie es scheint, steckt der Kapitalismus wieder einmal in einer fundamentalen Krise, aber es wird nach ihrer Einschätzung (wieder) folgendermaßen kommen: „Das Kleinbürgertum rettet den Kapitalismus, weil es sich vom Kapitalismus die Rettung des kleinbürgerlichen Subjekts erhofft.“

Das jüngste Rumoren des Kleinbürgertums, die Spannung zwischen dem Viertel, das den Weg der Faschisierung eingeschlagen hat, und dem anderen Viertel, das die Grünen zur Regierungspartei machten will, ist den Autoren Anlass, nach der politischen, ökonomischen und kulturellen Funktion von uns Kleinbürgern zu fragen. Ihre Tiefenbohrung geht durch Urbanisierung und Industrialisierung bis ins Zeitalter von Digitalisierung, Globalisierung und Privatisierung, mit dem Kleinbürger 4.1 bereits am Horizont. Ein mit Skalpell und scharfer Feder geschriebenes politisches Buch.

Georg Seeßlen, Markus Metz: Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft. Critica Diabolis 299. Edition Tiamat, Berlin 2021. 282 Seiten, 20 Euro. – Die Texte von Georg Seeßlen bei uns hier.

Unbefangen und sinnlich 

(AM) „Neue Musik müsse chaotisch sein, meinte er. So, so, dachte ich. Konnte ihn ja nicht leiden, besonders seit er mir eines Tages seine Lieder vorgesungen hatte und dazu Klavier gespielt, in Frankfurt, in seiner von Häkeldecken verzierten Wohnung. Es hatte sich angehört wie eine intelligente Fälschung…“ So Hans Werner Henze in seinen autobiographischen Mitteilungen über Adorno. Das Zitat steht der Juni/ Juli-Ausgabe von Mittelweg 36 voran, der von uns geschätzten Zweimonats-Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und illustriert, wie unbefangen und sinnlich diese Zeitschrift sich ihren Gegenständen nähert. Metamorphosen der Kritischen Theorie lautet das Thema der Sommerausgabe, es gibt einen Ausflug zum „Knotenpunkt Offenbach“, einen Text über „Philologie als Barrikadenkampf“, die Kritische Theorie in der Literatur als „Fabelwesen“ sowie eine Umfrage zu ihrer Aktualität und die ausführlich beantwortete Frage, ob Alexander Kluge der Hofregisseur der Frankfurter Schule sei.

Heft 4 des Jahrgangs 2021 stellt zum ersten Mal die vielfach ausgezeichnete und häufig zitierte US-amerikanische Historikerin Isabel V. Hull erstmals einem größeren Publikum vor. Ihr ist das ganze Heft gewidmet, ein großes Gespräch inklusive. Die Ausgabe versammelt Beiträge über Gewalt, Krieg, Recht zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, über dessen Geschichte in deutschen Historikerkreisen heftig gestritten wird. Hull, so sagt sie, versuche, ihre Irritationen durch Forschung zu bearbeiten. Dabei erfahre man „Entmutigendes über Menschen und ihren Charakter, aber auch Erhebendes und Erstaunliches. Und man behält dabei im Auge, was bestimmte Entwicklungen und Ereignisse ermöglicht oder verhindert hat.“

Mittelweg 36: Metamorphosen der Kritischen Theorie. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 30. Jahrgang, Heft 3, Juni/ Juli 2021. 112 Seiten, 12 Euro.
Mittelweg 36: Gewalt, Krieg, Recht. Siegfried-Landshut-Preis 2020: Isabel V. Hull. 30. Jahrgang, Heft 4, August/ September 2021. 136 Seiten, 12 Euro.

Rückblick mit Schmunzelelementen

(AM) „Die Sächsische“ war etwas pikiert. Zu respektlos und zufällig war dem Rezensenten, was in Von Alfons Zitterbacke bis Zonen-Gaby: Die DDR in Elf 99 Kapiteln als Ausflug in den DDR-Alltag angerichtet ist. Nämlich, zum Beispiel, Zitat: „Mit Alfons Zitterbacke am Fenster stehen, den Roten Elvis hören, das schönste Gesicht des Sozialismus bewundern und nach dem Sandmännchen mit Grüner Wiese oder Blauem Würger anstoßen.“ 

Die Herausgeber Kai Witzlack-Makarevich, Coretta Storz, Nadja Wulff haben 33 Autorinnen und Autoren versammelt, die auf je zwei Buchseiten und insgesamt 230 Seiten ihre Erinnerungen an „Arbeiterschließfächer“,  „Delikat-Läden“, „Jugendweihe“, „Kaufhalle“, „Bitteres aus Bitterfeld“, „Blockflöten“, „Westbesuch“ oder den „Winnetou des Ostens“ aktivieren. So entsteht ein buntes Mosaik – ein etwas anderer Rückblick auf die DDR-Geschichte. Die Geschichte von „Zonen-Gaby“ inklusive, die in Wirklichkeit aus dem Westen kam, eine Arzthelferin aus Worms war und als ausreise-willige DDR-Frau vom Satiremagazin „Titanic“ erfunden wurde (Cover-Modelhonorar von 300 Westmark inklusive). Auch darüber konnte „Die Sächsische“ 2021 nicht lachen.

Kai Witzlack-Makarevich, Coretta Storz, Nadja Wulff: Von Alfons Zitterbacke bis Zonen-Gaby – Die DDR in Elf 99 Kapiteln. Edition Noack & Block, Berlin 2021. Hardcover, viele Abb., 240 Seiten, 18 Euro.

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