Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

Neue Lesarten – „Seitenwechsel“ als mystery novel

Ein Blick auf Nella Larsens Roman und Rebecca Halls Verfilmung

Schon unter den ersten Bildern von Rebecca Halls Film „Passing“ (2021) liegt eine Anspannung. Man hört zunächst nur Geräusche, die an eine Stadt denken lassen – einen Zug, Schritte auf dem Asphalt – sie sind aber dumpf, als würden sie von jemanden wahrgenommen werden, der überfordert mit der Situation ist, der ganz in seinem Kopf steckt. Dann kommen Bilder dazu, sie sind unscharf, man sieht nur Füße vorbeigehender Passanten, hört Satzfragmente wie she’s tried everything oder what about the looks she’s getting oder that’s not right for a girl. Erst dann wird das Bild langsam klarer, die Kamera folgt zwei Frauen in einen Spielzeugladen. Eine weitere Frau ist hinter ihnen, hebt eine Schwarze Puppe auf, die heruntergefallen ist, sorgsam darauf bedacht, dass man ihr Gesicht unter dem Hut nicht sieht. Tatsächlich tut Irene Redfield (Tessa Thompson) gerade etwas, was „not right“ ist für eine Schwarze Frau im New York der 1920er Jahre: Sie betritt einen Spielzeugladen, der für Weiße ist, weil sie ein bestimmtes Heft für ihren Sohn sucht. Ihre Haut ist hell genug, dass sie als Weiße „durchgehen“ kann, wohl aber fühlt sie sich nicht. Anschließend nimmt sie ein Taxi und trinkt in einem Café in einem Hotel einen Tee – das alles ist möglich, weil die Menschen um sie herum annehmen, sie sei weiß.

(c) Netflix 2021

Die Bilder und der Ton transportieren Irenes Anspannung, ihre Kontrolle, die Selbstbeherrschung, ruhig zu bleiben und zu atmen. Als eine andere Frau sie in dem Café mustert und schließlich anspricht, will sie sofort gehen. Aber diese Frau will sie nicht „enttarnen“, vielmehr handelt es sich bei ihr um Clare Bellow (Ruth Negga) eine Kindheitsfreundin, die sie wiedererkennt. Zwei Schwarze Frauen, die als weiß durchgehen. Irene für Annehmlichkeiten, während sie mit ihrem Schwarzen Mann in Harlem lebt. Clare indes ist mit einem Weißen verheiratet, der nicht weiß, dass sie Schwarz ist und ein Rassist ist. Dennoch ist es im Folgenden nicht Clares Angst, dass ihr Ehemann entdeckt, was sie verheimlicht hat, die für das kontinuierliche Gefühl von Spannung – von suspense – in Rebecca Halls Adaption von Nella Larsens Roman verantwortlich ist. Es ist Irenes Anspannung, die nicht enden wird, weil Clare offensichtlich an ihren Unsicherheiten rührt und sie sich zu Clare hingezogen fühlt.

Von Anfang an ahnt man in Rebecca Halls Film, dass etwas passieren wird, etwas passieren muss. Inhaltlich hält sie sich eng an die Handlung des Romans, der insbesondere als Buch über das titelgebende Passing gelesen, das Durchgehen als Weiße – und in diesem Fall auf die Frage, wie Schwarze, die von dem Passing wissen, sich dazu verhalten.

Irene (Tessa Thompson) (c) Netflix 2021

Jedoch gibt es in Nella Larsens Roman noch einen Subtext, der in der Adaption von Rebecca Hall in fast jedem Bild zu sehen ist: die Anziehung zwischen Irene und Clare. Die gängige Deutung sind es so: Clare führt ein Leben, das ihr als Schwarze Frau in den USA nicht möglich wäre – Irene indes ist stolz darauf, zur Schwarzen Mittelklasse in Harlem zu gehören und will unbedingt respektabel sein. Beide Frauen erinnern einander, was möglich gewesen wäre, und sind eifersüchtig aufeinander. Jedoch geht die Anziehung zwischen ihnen darüber hinaus: es ist ein Begehren, das in der Adaption deutlicher sinnlicher inszeniert ist als im Roman. Bei Larsen ist klar, dass Irene fasziniert ist von Clares Risikobereitschaft und Rücksichtlosigkeit und zugleich erkennt, dass Clares Sehnsucht, wieder ein Teil von Irenes Leben zu werden, ihre Welt bedroht. Auch glaubt Irene, dass Clare ein Auge auf ihren Ehemann geworfen hat. In Irenes und Brians Ehe gibt es Probleme: Brian will die USA und den Rassismus hinter sich lassen und nach Südamerika gehen, Irene aber in den USA bleiben. Längst schlafen sie im Roman getrennt, längst scheinen Respektabilität und Teilhabe am Kapitalismus alles zu sein, was Irene begehrt. Mit Clare wäre ein anderes Leben für Brian möglich. Aber eben nicht nur für Brian.

Brian (André Holland) & Irene (Tessa Thompson) (c) Emily V. Aragones/Netflix 2021

Im Film ist die Verbindung zwischen Brian und Irene enger, sie teilen ein Bett, es gibt Annäherungen zwischen ihnen, wenngleich sie ähnliche Probleme haben. Dazu kommen die Blicke zwischen Irene und Clare – meisterhaft gespielt von Tessa Thompson und Ruth Negga –, die Kamera, die immer wieder auf Irene verharrt, Leere und Sehnsucht einfängt, Irenes Anspannung. Deshalb ist hier weitaus weniger klar, ob Irene eifersüchtig auf Clare ist – oder auf Brian. Nur eines ist eindeutig: Es ist Begehren, das zum Tod Clares am Ende führt. Irene begehrt Clare. Brian begehrt ein neues Leben im Süden und möglicherweise ebenfalls Clare. Clare will zurück in ein Leben als Schwarze Frau und begehrt Irene und möglicherweise Brian. Eines dieser Begehren ist tödlich – vielleicht auch alle zusammen. Deshalb bleibt offen: Hat Irene Clare aus dem Fenster gestoßen? Ist Clare aus dem Fenster gefallen? Oder hat sie sich fallen lassen, weil sie wusste, dass ihr Mann die Wahrheit herausgefunden hat?

Es ist dieses Geheimnis um Clares Tod, das am Ende eines Romans steht, der mehr Geheimnisse aufwirft als er letztlich löst. Doch von Anfang an nutzt er den Impetus der Aufarbeitung eines Vorfalls: zunächst das Wiedersehen von Irene und Clare, dann Clares Verdacht, Irene könnte an ihrem Ehemann interessiert sein, später das zufällige Zusammentreffen von Clare und Irenes Ehemann, das sie verschweigt, und am Ende dann Irenes Tod. Dieses Kreisen um Vorfälle, gerade anfangs als Rückblick im Rückblick erzählt, ist eine Erzählkonvention der mystery story – ohne dass hier klar wird, ob ein Verbrechen stattgefunden hat. Die Spannung entsteht im Roman durch den inhärenten Widerspruch zwischen dem, was eine Figur gerne tun würde, und dem, was sie letztlich tut, weil sie sich selbst überzeugt hat, dass sie das tun sollte. Die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle setzen Kontrapunkte zu dem Gesagten.

Die Lesart von Nella Larsens „Seitenwechsel“ als mystery story ist nicht vorherrschend, tatsächlich aber zeigt sich dadurch, dass schon der Roman viele wichtige Motive nachfolgender Spannungsromane enthält, die rund dreißig Jahre nach Larsen u.a. ein Erfolgsrezept von Patricia Highsmith werden: das verbotene, nicht eingestandene Begehren – bei Highsmith zumeist zwischen zwei Männern, hier aber zwischen zwei Schwarzen Frauen; das Gefühl von Eleganz, Frustration und der Vorahnung, das in dieser Welt etwas Schreckliches passieren wird. Larsens Sprache und die verwendeten Bilder evozieren Spannung, suspense und Horror. Irene wird im Verlauf des Romans immer angespannter, ihr graut vor den Konsequenzen, Clare warnt sie sogar, dass von ihr Gefahr ausgeht. Irene erkennt ‚dunkle Wahrheiten‘ und wünscht sich, das Clare für immer verschwindet, ja, dass sie stirbt. Am Ende auf der Party als Irene am Fenster steht, rennt Clare durch das Zimmer „aggressiv in ihrer Panik, und legte eine Hand auf Clares Arm. Ein Gedanke beherrschte sie. Sie konnte nicht dulden, dass Clare Kendry von Bellew fallengelassen wurde. Konnte nicht dulden, dass sie frei war.“ Alleine das „fallengelassen“ ist perfide – denn nur wenige Absätze später wird Irene aus einem Fenster im sechsten Stock fallen(gelassen). Genauso wie Irene einige Seiten vorher eine Zigarette aus eben diesem Fenster warf und zusah „wie der winzige Funken langsam auf den weißen Boden fällt“ verschwindet Irene aus diesem Fenster „lebendig, leuchtend, wie eine Flamme aus Rot und Gold“.

Clare (Ruth Negga) – (c) Netflix 2021

Clare glaubt im Roman, sie kann nicht dulden, dass Irene frei ist, weil sie dann ihren Ehemann verliert. Aber ist das der einzige Grund? Und warum sorgt sich Clare, dass Irene noch lebt, dass Fragen kommen, warum sie auf sie zugeeilt ist und ihre Hand auf ihren Arm gelegt hat? „Ihr wurde übel bei der Vorstellung, dass der herrliche Körper verstümmelt war, und auch übel vor Angst.“ Diese ganze Schlussszene ist durchzogen von Ambivalenz. Im Film scheint es eindeutiger: Irene wirkt gegenüber Clare beschützender, sie fasst zwar ihren Arm an, aber da ist diese Zuneigung zu erkennen. Im Roman indes, der enger an Irenes Perspektive gebunden ist, sind ihre Gefühle vielfach ambivalenter. Was wäre für Irene einfacher, sich im Jahre 1929 einzugestehen: Dass sie eine alte Freundin aus Eifersucht aus dem Fenster gestoßen hat? Oder dass sie sie begehrt?

Unabhängig von der Frage nach Irenes Schuld und den Umständen von Irenes Tod, unabhängig von anderen Lesarten von „Seitenwechsel“ zeigt sich, dass Larsen hier mit suspense und anderen Elementen u.a. der Gothic Literatur gearbeitet hat, die eine wichtige Quelle der Kriminalliteratur und zwar insbesondere der psychologischen Spannungsliteratur ist. So wie die psychologischen Spannungsromane der 1950er und 1960er Jahre viel über das Leben insbesondere von Frauen in patriarchalen Gesellschaften erzählen, indem sie Genremotive verwenden, erzählt Larsen hier von zwei Frauen in den 1920er Jahren in Harlem. Werke von Schwarzen Autor*innen werden oft aus der Literaturgeschichte getilgt, das ist in der Kriminalliteratur nicht anders – wie auch der Fall Chester Himes – zeigt. Und für die weitgehend ungeschriebene Geschichte psychologischer Spannungsliteratur gilt, dass „Seitenwechsel“ dazu gehört.

Nella Larsen: Seitenwechsel. (Passing, 1929). Übersetzt von Adelheid Dormagen. Mit einem Nachwort von Fridtjof Küchemann. Dörlemann 2020. 224 Seiten. 20 Euro.

Rebecca Halls Verfilmung aus dem Jahr 2021 lässt sich bei Netflix streamen.

Tags : , , , , , ,