Düstere Labyrinthe
– Am 19. November 2012 starb in St. Peterburg Boris Strugatzki, der zusammen mit seinem Bruder Arkadi nachhaltig dafür sorgte, dass sich Schubladen und Labels wie Science Fiction, Phantastik und andere Genre-Sortierungen allmählich auflösten und irrelevant wurden und deren stiller Einfluss auf alle genannten Textarten gar nicht zu überschätzen ist. Ein Nachruf von Ulrich Baron.
Es ist Tarkowskis Schuld, dass ich bei den Büchern von Arkadi und Boris Strugatzki immer wieder an Coopers „Lederstrumpf“ denken musste. Dessen Darsteller, der Schauspieler Hellmut Lange, moderierte von 1971 bis 1981 auf angenehm unprätentiöse Weise das ARD-Quiz „Kennen Sie Kino“, in dem es auch Vorschauen auf neue Filme gab.
Eines Abends fuhren da drei Männer in einem hochbeinigen Geländewagen durch verfallene, halb überflutete Fabrikhallen und über schlammige Wege. Sie folgten einem Güterzug, passierten ein Sicherheitstor und drangen im Flutlicht und Kugelhagel der Wachmannschaften in etwas ein, bei dem es sich nur um die „Zone“ aus Arkadi und Boris Strugatzkis Erzählung „Picknick am Wegesrand“ handeln konnte. Das war sofort klar, obwohl ich die Anmoderation verpasst hatte. Und obwohl der Geländewagen und zwei der Männer in der Geschichte ebenso wenig vorkommen wie die Diesellok und die Geleise.
Es fällt mir schwer, genau zu sagen, woran ich damals erkannt habe, dass jener kleine Ausschnitt aus Andrei Tarkowskis „Stalker“ (1979) die so kongeniale wie freie Umsetzung der Buchvorlage war. War es die Atmosphäre des Verfalls, die an andere Strugatzki-Romane wie „Die hässlichen Schwäne“ erinnerte? Sie mag dazu beigetragen haben, doch vor allem war es die Art und Weise, wie jener Geländewagen dem Zug über die Geleise folgte. Er hatte nicht die richtige Spurbreite, um auf den Schienen zu fahren. So fuhr er schräg, teils über die Schienen rutschend, teils über die Bahnschwellen ratternd.
Schräg, aber zielstrebig fuhr der Wagen in die Zone hinein, und mir schien an jenem Abend, dass man nur so dorthin gelangen könne.
Post-Tschernobyl
Jahre vergingen. Im Frühjahr 1986 explodierte im ukrainischen Tschernobyl ein Kernkraftwerk. Hatte man nicht dessen Kühltürme schon im „Stalker“ gesehen? Ein halbes Jahr später starb Tarkowski in Paris an Lungenkrebs, und er war nicht der einzige aus dem Team jenes Films, der früh gehen musste. Der Ostblock zerbrach. Die Mauer fiel. Ein halbes Jahr, bevor im Oktober 1991 auch Arkadi Strugatzki starb, sprach ich mit dem russischen Kernkraftingenieur Grigori Medwedew. Der hatte ein Buch über die Katastrophe von Tschernobyl geschrieben. In „Verbrannte Seelen“ beschrieb Medwedew, wie er mit einem Kollegen in einem „Niwa“ versuchte, zum vierten Block vorzudringen. Vorbei an verlassenen Feuerwehrfahrzeugen. Vorbei an radioaktivem Auswurf. Plötzlich eine Sperre durch Stahlbetonblöcke:
„Keine Durchfahrt. Und die Röntgen liefen wie die Zeit. Links vom Asphalt war der Schienenstrang.
,Nun Wolodja, zeig mal, wozu du fähig bist. Fahr auf die Schienen und nach 50 Metern auf die Straße, die zum Verwaltungsgebäude 1 führt. Vorwärts!’“
Fahr auf die Schienen … Tarkowskis Film hatte Medwedew nicht gesehen. „Picknick am Wegesrand“ hatte er nicht gelesen. Doch mit ihrer 1972 erschienenen Erzählung hatten die Brüder einem der bildmächtigsten Regisseure des 20. Jahrhundert eine Vorlage geliefert, dessen filmischer Umsetzung dann auch die Wirklichkeit folgen musste.
Über die Schienen, schräg, aber zielstrebig, führt der Weg in die Zone. Der einzige Weg. Das hat etwas Groteskes, und das Groteske hat im Werk der Strugatzkis das technisch-naturwissenschaftliche Element, hat dort die Science in ihrer Fiction zunehmend verdrängt. Ihre Beschreibungen von Weltraumreisen, Begegnungen mit fremden Lebensformen und Zivilisationen wie in „Mittag, 22. Jahrhundert“ zählen zu den Sternstunden des Genres, blieben in ihrer literarischen Qualität aber hinter Romanen wie „Troika“ und „Das lahme Schicksal“ zurück, die die Tradition eines Gogol und Bulgakow fortsetzten. Das war freilich eine Einsicht, die man sich, von der Science Fiction herkommend, erst über Jahre hin erlesen musste.
Septopoden
Etwa so: In der Erzählung „Von Wanderern und Reisenden“ trifft ein Astroarchäologe, der berufsmäßig im Weltall nach Spuren fremder Intelligenz sucht, bei einem Heimatbesuch auf der Erde einen Biologen, der Kopffüßer mit Ultraschallsendern versieht, um deren rätselhafte Wanderungen nachzuvollziehen. Eigentlich Wasserbewohner, hätten die nun begonnen, weite Strecken über Land zurückzulegen. Mitten im Wald habe man einige Exemplare gefunden, tot und von Wildschweinen angefressen: „Aber dreißig Kilometer vom Wasser entfernt lebten sie noch! Ihre Mantelhöhlung war mit feuchten Wasserpflanzen gefüllt.“
Während der Biologe noch über das Rätsel dieser „Septopoden“ räsoniert, wird sein Besucher von Signalen abgelenkt, die aus einem Funkempfänger dringen. Das müsse wohl eine Service-Station sein, meint Maschka, die, wie eigentlich alle Frauen in den Werken der Strugatzkis, nur eine Nebenrolle spielt.
„Nein“, sagt ihr Besucher, „das ist keine Service-Station, das bin ich.“
Warum das so sei, wüsste er selber gerne: „Wie konnte es passieren, daß drei Piloten und ihr Raumschiff nach ihrer Rückkehr vom Flug EN 101 – EN 2657 zu Sendern wurden, die auf einer Wellenlänge von sechs-Komma-nullachtdrei Metern zu hören sind?“
Offenbar sind die Menschen nicht die einzigen, die fremde Wesen markieren, um deren Wanderungen zu verstehen. Doch der Biologe mag die Konsequenzen aus dieser Schlussverfolgerung nicht ziehen, und Maschka sagt trotzig: „Trotzdem – es gibt einen Unterschied zwischen einem Raumschiff und Wasserpflanzen in der Mantelhöhlung.“
Ja, es gibt einen Unterschied, aber kommt es darauf so sehr an? Dass die titelgebende Maxime „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ auf der Erde ebenso gilt wie auf dem fernen Planeten ihres 1964 erschienenen Romans, mögen die Zensoren im Ostblock übersehen haben. Die Leser der Strugatzkis aber haben in ihren extraterrestrischen, fantastischen, märchenhaft grotesken Welten immer neue Spielarten ihrer eigenen Welt entdeckt.
Habent fata sua …
Zu den Spielarten zählen auch die vielen Versionen der Strugatzki-Werke, was auf Wikipedia den Stoßseufzer auslöste, es sei „nicht möglich, exakt anzugeben, wie viele Romane die Strugatzkis genau geschrieben haben“. Die UdSSR hatte nicht nur eine blühende Zensur, sondern auch eine blühende Kultur literarischer Zeitschriften, die lange Erzählungen mühelos trug, Romane aber auch um politisch bedenkliche Passagen verkürzte. So fand man „Die hässlichen Schwäne“ später als einen Teil von „Das lahme Schicksal“ wieder. Und die Auszüge aus „Von Wanderern und Reisenden“ hätten anders geklungen, wenn ich sie statt nach der DDR-Übersetzung Aljonna Möckels nach der Übertragung Herman Buchners zitiert hätte, die 1974 in Franz Rottensteiners Science-Fiction-Almanach „Polaris 2“ im Frankfurter Insel Verlag erschien.
Die zweite Auflage der zuerst 1977 erschienenen DDR-Ausgabe, die den Autorennamen mit „Strugazki“ transkribiert, ist ein wohlfeiles, gebundenes Bändchen mit Schutzumschlag, dessen Papier seit 1980 stark vergilbt ist. Anders als das kantige Taschenbuch von „Polaris 2“ mit seinem immer noch grellweißen Papier, hat es sich längst in einen richtigen Hand- und Augenschmeichler verwandelt. Rein haptisch zeigt dieses Bändchen so den Unterschied zwischen der „Wissenschaftlichen Fantastik“ der UdSSR und der Science Fiction des Westens.
Egal, ob der Weltuntergang noch Milliarden Jahre entfernt ist, oder ob, wie in „Die hässlichen Schwäne“, der große Regen schon fällt – auf ein gepflegtes Abendessen lässt man bei den Strugatzkis nichts kommen. Trinkt dazu gern auch den einen und anderen Wodka und ebenso Weinbrand – und verwandelt sich dabei in ein Wesen, dessen menschliche Schwächen so unübersehbar zu Tage treten, dass die Erzählung auch ohne grüne Männchen ins Groteske und Fantastische kippt.
Dass Kinder sich da von ihren verkommenen Eltern ab und jenen „Nässlingen“ zuwenden, die wie seltsame Parodien des Übermenschen, als hässliche Schwäne eben, durch den Roman geistern, kann man verstehen. Ob aber neue, vielleicht bessere Menschen die Welt verbessern könnten, blieb den Strugatzkis zweifelhaft, denn „Die Wellen ersticken den Wind“. Die Masse macht’s.
Kriminelles Milieu
In der Zone aber soll es eine goldene Kugel geben, die alle Wünsche erfüllt. Nur ist sie von tödlichen Fallen umgeben. Um zu ihr zu gelangen, opfert der Schatzgräber Roderic Schuchart in „Picknick am Wegesrand“ den Sohn seines schlimmsten Konkurrenten, einen jungen, naiven, idealistischen Mann.
Schuchart ist kein Intellektueller, wie manche Gestalten eines Stanislaw Lem, und zunächst auch alles andere als ein Gottsucher, wie die Helden Tarkowkis. Doch am Ende von „Picknick am Wegesrand“ hat er sich fast schon in dessen zerquälten Stalker verwandelt. Angesichts der goldenen Kugel weiß er nicht, was er sich wünschen soll, weil jedes Glück mit Unglück erkauft zu sein scheint. In Schucharts kriminellen Schatzgräbermilieu sieht das so aus: „Wenn’s mir gut geht – dann Barbridge schlecht; geht’s Barbridge gut – dann Brillenschlange schlecht; geht’s dem Heiseren gut, dann allen anderen dafür dreckig. Aber nein, auch dem Heiseren geht’s dreckig, nur glaubt dieser Idiot, er könnte noch zur rechten Zeit die Kurve kratzen.“
So versucht Schuchart, der allmächtigen Kugel die Entscheidung zu überlassen und wiederholt, „einem Gebet gleich“, die Worte: „Ich bin ein Tier, du siehst doch selbst, Kugel, dass ich ein Tier bin. Ich habe keine Worte, man hat sie mich nicht gelehrt, ich kann auch nicht denken, diese Schweinehunde haben mir keine Gelegenheit dazu gegeben.“
Irgendwo in seiner Seele müsse es doch Lauterkeit geben, jene Lauterkeit, die auch sein junger Begleiter besessen hatte, der mit Hilfe der goldenen Kugel alle Menschen glücklich machen wollte. So endet diese Erzählung von Arkadi und Boris Strugatzki mit der flehentlichen Bitte ihres Helden, gelesen zu werden:
„Lies du in mir, lies, was ich wünsche, denn ich kann unmöglich etwas Schlechtes wollen! – der Teufel soll mich holen, aber mir fällt tatsächlich nichts anderes ein als seine Worte: Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehen!“
Im Labyrinth
Lies du in mir … Einundzwanzig Jahre nach Arkadi ist jetzt auch Boris Strugatzki gestorben. Der am 28. August 1925 im georgischen Batumi geborene Arkadi starb am 12. Oktober 1991 in Leningrad. Der am 15. April 1933 in Leningrad geborene Boris am 19. November 2012 in St. Petersburg. Leningrad und St. Petersburg sind eigentlich ein und dieselbe Stadt, so wie Arkadi und Boris Strugatzki eigentlich ein Autor waren. Nach Arkadis Tod aber hat Boris noch ein wenig weitergeschrieben, zwei düstere und labyrinthische Romane, die erschienen, als würde er sich darin nun in jener Welt verlieren, die er zuvor mit seinem älteren Bruder durchforstet hatte.
Gemeinsam haben die Strugatzkis gezeigt, dass man den Unterschied zwischen einem Raumschiff und Wasserpflanzen in der Mantelhöhlung eines Kopffüßers nicht überbewerten sollte. Dass es nicht leicht ist, ein Gott zu sein. Dass die besseren Menschen es nicht leichter haben, und dass es nichts nützt, das Beste zu wollen, wenn man nicht weiß, was das Beste ist.
Glück für alle? Umsonst? Niemand soll erniedrigt von hier fortgehen.
Nicht umsonst, aber wohlfeil ist die Werkausgabe der Strugatzkis bei Heyne, deren fünfter Band im Frühjahr 2013 erscheint.
Überhaupt: Die von Sascha Mamczak und Erik Simon herausgegebene Werkausgabe im Heyne-Taschenbuchverlag beginnt mit einem Vorwort des 1979 geborenen Dmitry Glukhovsky („Metro 2033“), der mit seinem Kollege Sergej Lukianenko zu den erfolgreichsten Nachfolgern der Strugatzkis zählt.
„Ich bin mit Arkadi und Boris Strugatzki groß geworden“, schreibt Glukhovsky. Ein schönes Lob, das die Wirkung der Strugatzkis auf Russland Literatur anschaulich macht.
Wo es (noch) ging, sucht die Werkausgabe die Eingriffe der Zensoren zu revidieren, bringt im Anhang Erläuterungen und Kommentare von Boris Strugatzki zum Schicksal seiner Bücher. So erfährt man etwa, dass den Brüdern der Ausdruck „Schatzsucher“ schon in einer früheren Phase von „Picknick am Wegesrand“ nicht recht gefallen habe und sie den Ausdruck „Stalker“ vorgezogen hätten. Wer jetzt mit den „Schatzgräbern“ der DDR-Ausgabe und vielleicht noch manchen anderen zensurbedingten Änderungen im Kopf in der Werkausgabe liest, hat hier also die seltene Chance, ein vermeintlich seit Jahrzehnten gekanntes und geschätztes Werk noch einmal neu zu entdecken.
In den Büchern der Strugatzkis ist ja ohnehin wenig, was es zu sein scheint, und selbst ihr Werk will offenbar immer wieder anders und neu gesehen werden. Obwohl … irgendwie sind einem die Schatzgräber dann ja auch ans Herz gewachsen …
Ulrich Baron
Für 12,95 beziehungsweise 12,99 Euro pro Band erhält man auf jeweils rund 900 Seiten bislang in:
Band 1: „Die bewohnte Insel“, „Ein Käfer im Ameisenhaufen“ und „Die Wellen ersticken den Wind“.
Band 2: „Picknick am Wegesrand“, „Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang“ und „Das Experiment“.
Band 3: „Die Schnecke am Hang“, „Die zweite Invasion der Marsianer“, „Die Last des Bösen“, „Aus dem Leben des Nikita Woronzow“ und „Ein Teufel unter den Menschen“.
Band 4: „Fluchtversuch“, „Es ist schwer, ein Gott zu sein“, „Unruhe“, „Die dritte Zivilisation“, und „Ein Junge aus der Hölle“.
Foto Strugatzki: Al Lemos, Lizenz: Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic