Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Markus Pohlmeyer über den Film „Reminiscence“

Reminiscence – ein neuer Orpheus, eine neue Eurydice

Ein Essay von Markus Pohlmeyer

I

„Orpheus war der Mozart der antiken Welt. […] Hermes erfand die Lyra, Apollon verbesserte sie und Orpheus machte sie perfekt.“[1] Seine Sangeskunst soll Stein, Tier und Baum bewegt haben. Orpheus war mit Eurydice verheiratet, die tragisch ums Leben kam. Er reist in die Unterwelt, stimmt mit seiner Lyra die Totengötter um: Eurydice dürfe zurückkehren – aber nur unter folgender Bedingung, dass der Sänger sich auf dem Weg nach oben nicht umdrehe. Orpheus, zweifelnd, aus Liebe, dreht sich um: und Eurydice wird entschwinden, unwiederbringlich, zurück zu den Schatten. 

II

Reminiscence: Was für ein phantastischer Science Fiction im Blade Runner-Stil![2] Zum Titel: reminiscor (latein.) bedeutet ich erinnere mich. Angenommen, es gäbe eine Maschine gäbe, die das Immer-wieder-Erleben positiver Erinnerungen ermöglichte: quasi hautnah und in 3 D? Nick Bannister (Hugh Jackman) lebt beruflich von solch einer Maschine, ist gewissermaßen ein postapokalyptischer Charon, ein Fährmann in die medial generierte Unterwelt bzw. in Vergangenheiten, die als paradiesisch empfunden wurden – im Gegensatz zur bitteren Gegenwart. Mittlerweile gab es irgendeinen Krieg, und das Meer hat Miami überflutet; die Tage sind so heiß, dass die Menschen nachts leben müssen. Auftritt von Mae (Rebecca Ferguson), einer geheimnisvollen Schönen. Noir: es muss irgendwie tragisch enden … „Ein letztes Noir-Gesetz: Nur für ein paar Augenblicke schaffen sich Menschen einen Himmel, dafür müssen sie dann ewig in der Hölle schmoren.“[3] Ist das so? 

Auftritt von Mae, einer geheimnisvollen Schönen. Beginn einer wunderbaren Liebesbeziehung. Dann harter Aufschlag: die Schöne entpuppt sich als Diebin und Lügnerin, damit sie Erinnerungen aus Nicks Archiv stehlen kann. (Dahinter steht – Kurzfassung: todkranker reicher Mann hatte außereheliche Affäre; sein Sohn lässt darum die Mutter des Erbkonkurrenten umbringen, während seine Mutter mit verschiedenen Schauspielern die schönste Begegnung mit ihrem Gatten – damals, als sie schwanger war – immer und immer wieder nachspielt. Anspielung auf „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“[4] von Walter Benjamin?). Nick sucht nun die verlorene Schöne und auch die verlorene Schönheit (seiner Seele und der Welt?). Unvermeidlich: Actionrambazamba mit seiner coolen Freundin Watts. Der Laden von ’nem Drogentypen wird mal so richtig aufgemischt und zerlegt. Die Puzzleteile des Rätsels und der Rätselhaften fügen sich aber langsam zusammen. 

Diese lapidare Zusammenfassung kann keinen Eindruck geben von den gewaltigen, tief berührenden und bestürzenden Bildern, die der Film auf- und abbaut. Ständige Dekonstruktionen, wie Gezeiten. Nick kämpft dagegen an, dass Mae in der Unterwelt des Bösen verschwindet, kann und will es nicht wahrhaben, dass ihre Liebe nur eine Lüge war. Schließlich kämpft er gegen den Bösewicht Boothe – und da folgte eine Sequenz, die mich … ich weiß nicht, wie beschreiben. Ein brutaler Kampf in der überschwemmten Stadt. Nick klemmt den Arm des korrupten Polizisten in ein Klavier ein, das durch den Boden bricht. Und nun schweben, sinken, gleiten durch die von Licht durchfluteten Wasser das Klavier und später auch Nick hinab auf den Grund. Hinab in die Unterwelt? Das ist wunderwunderschön und schrecklich, raubt den Atem. Und er rettet den Ertrinkenden, erfährt durch dessen wiederhergestellte Erinnerung, dass Mae den unehelichen Jungen vor seiner Ermordung beschützte – und sogar sich selbst dafür opferte.

Die äußerlich Schöne – zwischenzeitlich die intrigante Böse, die sie auch war – durchläuft eine Metamorphose hin zu innerer Schönheit. Eine Bekehrung/Umkehr gewissermaßen, die darin endet, sich freiwillig in den Tod zu stürzen, damit ihre Erinnerungen nicht den Aufenthaltsort des Jungen verraten können. All das erfährt Nick durch die wiederhergestellte Memoria des Mörders. Und dann die nächste unfassliche Sequenz: Während Mae – unter Drogen gesetzt – sich gegen den Killer wehrte, fing sie an, so zu ihm zu sprechen, als wäre dieser ihr Geliebter (vom dem sie weiß, dass er später das Erinnerte abrufen könnte …). Und tatsächlich tritt jetzt der reale Nick in die 3 D-Simulation ein und an die Stelle des Polizisten, als wäre er in der Vergangenheit selbst der Angesprochene gewesen. Durch die Zeit hindurch spricht Eurydice ihr Liebesbekenntnis, durch die Zeit hindurch wird Orpheus es hören. Weiter: Der korrupte Polizist wurde von seinem Gangsterboss wegen gestohlener Drogen in Brand gesteckt – wörtlich zu nehmen; und nun schickt ihn Nick, quasi ein Totenrichter, aus blanker Wut in diese Erinnerung zurück, die sich in dessen Gehirn unauslöschlich einbrennt: eine memorierte Hölle in Dauerschleife. Aber das ist eines der größten Verbrechen in dieser Gesellschaft, die in ihrer Flucht vor der Gegenwart und aus Not, Elend, Verzweiflung sich ständig zurückerinnern will, so dass Nick bestraft werden muss. Wegen seiner Mithilfe in der Aufklärung eines Mordfalles darf er bis zum Ende seines Lebens in der Maschine liegen, um sich immer und immer wieder an dies zu erinnern: Auftritt einer geheimnisvollen Schönen. Beginn einer wunderbaren Liebesbeziehung …

Seine Freundin Watts bringt dem in der Erinnerungsmaschine vor sich hin alternden Nick Blumen; sie hat den anderen Weg gewählt: die Zukunft. In Begleitung ihrer Enkelin wird deutlich, dass sie sich damals entschieden hat, ihre Tochter zu suchen, während ihr Freund den Gang in die Vergangenheit wählte. Ja, es ist eine Orpheus und Eurydice-Geschichte. Doch in der Erinnerung, die einmal Wirklichkeit war, entscheiden sich die Liebenden, diesen Mythos nur bis zur Mitte zu erzählen. Orpheus erlöst Eurydice von Tod und Unterwelt: „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihre Tage?“ „Welches Ende könnte es denn sonst geben?“ Hier schließt der Film. Aber dies alles war nur möglich, weil es sich um Science Fiction handelt, indem  eine Apparatur vorausgesetzt wurde, die technisch Erinnerungen reproduzierbar macht. Auch der postapokalyptische Orpheus wird wie sein mythologisches Vorbild sterben müssen, um seine Geliebte in der Unterwelt wieder zu sehen.

Was Held und Heldin hier jedoch tun, ist ein freies, befreites und befreiendes Umdichten einer vorgegebenen, tradierten, festen Erzählung. Denn wir wissen: In der Version z.B. eines Vergils würde dieses Drama unbeschreiblich tragisch enden.[5] Das vermeintlich letzte Noir-Gesetz hat dieser Film umgeschrieben: Gewiss, es waren nur ein paar Augenblicke vom Paradies. Aber die vollkommene Liebe kann ein Leben ändern und als erinnerte ein Leben lang währen. Über den Tod hinaus. Ins Licht. Wie Mozarts Musik.

III

Rainer Maria Rilke

aus: Die Sonette an Orpheus

„Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.

Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.

Mag auch die Spiegelung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.

Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.“[6]

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. 


[1] S. Fry: Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt, übers. v. M. Frings, Berlin 2020, 179.

[2] Alle direkten und indirekten Zitate entnommen aus: Reminiscence. Die Erinnerung stirbt nie, DVD © 2021 Warner Bros.

[3] Filmgenres: Film noir, hg. v. N. Grob, Stuttgart 2008, 368.

[4] W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. D. Schöttker, Frankfurt am Main 2007.

[5] Siehe dazu auch umfassend: Mythos Orpheus, Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, hg. v. W. Storch, Stuttgart 2010.

[6] Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1987, 680.