Schlachtfest 2017
Inkohärenzen aus dem Abseits
Eine assoziative Montage über das Zerlegen
„ … zur scheinbaren Unordnung meiner Gedanken habe ich zwar den Schlüssel, aber keine Zeit, ihn zu benutzen.“ Georges Bataille
Anpfiff mit Kater
Willi kommt nicht mehr. Das war zu befürchten. Das macht mir wirklich etwas aus. Jeden Morgen stand die schwarze Katze vom Nachbarn an der Verandatür und bettelte. Dieses verdammte Viech jagt die unschuldige Amsel und krallt sich in die noch unschuldigere Birke vor dem Haus. Sie sollte aber nix kriegen, darum hat die Besitzerin (kann man eine Katze besitzen?) gebeten. Offiziell heißt das Tier Flinx. Der kleine Sohn der Frau von nebenan hat das Tier so benannt, nach dem gleichnamigen Helden von Alan Dean Foster[1]. Das habe ich vorhin geixquickt. Da geht es um ein bettelarmes Waisenkind, das, wie sein bester Kamerad, ein süßer Drache, über telepathische Fähigkeiten verfügt. – Schön. Aber Flinx bleibt trotzdem ein Scheiß-Name! Den kann sich doch kein Tier merken!! Nicht mal eine Katze!
Arie 51
Diemut Schilling hat im 3. Berliner Herbstsalon[2] eine Video-Installation aufgebaut, Arie 51, die Judas-Arie aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach:
„Gebt mir meinen Jesum wieder! Seht, das Geld, den Mörderlohn, wirft euch der verlorne Sohn zu den Füßen nieder…“
Die Musik verwandelt das profane Treppenhaus des Gorki Theaters akustisch in einen sakralen Raum – zurück. Denn der 20-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy hatte am 11. März 1829 die für den Gottesdienst komponierte Matthäus-Passion genau an diesem Ort vorgestellt, erstmals in einem nichtkirchlichen Kontext, in der Berliner Singakademie, dem heutigen Gorki Theater. Die Aufführung ging als Initialzündung für die Wiederentdeckung des großen Zahlenmystikers J. S. Bach in die Musikgeschichte ein.[3] – Das ist eine Ebene. Die andere, die Sehnsucht „nach ganz oben“, die schon „ganz unten“ akustisch geschürt wird. Die Installation steht im Obergeschoss. Und statt eines Gipfelspektakels für die Augen endet dort die Erwartung der Ohren vor einer visuell ent-täuschenden Videowand. Keine Chöre, Solisten, Musiker sind zu sehen, sondern „nur“ lebensgroß projizierte Kinder. Wie sich lesend erschließt, sind sie gehörgeschädigt und unterhalten sich trotz helfender Implantate noch immer über die Gebärdensprache. – Diemut Schilling hat mit einer statisch positionierten Kamera in asketischen Bildern festgehalten, wie die Kinder das voluminöse Werk in karge Gesten übersetzen. –
Der Junge von nebenan traktiert im Hinterhof die Bäume mit Holzstöcken und stößt dazu eigentümliche Schreie aus. Da beginnt unsereiner doch gleich an die „Trommeln in der Nacht“ zu denken. Ich meine, das erklärt weder noch entschuldigt das, eine mittlerweile viel zu fette Katze Flinx zu nennen…! Oder?!
Bébel
Die jungen Alten im Gorki sind der Treppen wegen außer Atem. Gut das Godard Helene Fischer nicht kennt. Hoffe ich zumindest. „C’ est vraiment dégueulasse!“[4], sagt Jean-Paul Belmondo[5], als er nach 90 Minuten auf der Straße verreckt und die militante, viel zu vergessene Amerikanerin in Paris, Jean Seberg[6] mit der melancholischen Visage des geschlagenen Boxers anschaut … Wie die beiden über die Avenue des Champs Élyseés spazieren, wie er sich in Bogart-Gesten versucht, die seinen Hunger auf das Mehr offenbaren … – Hat er nicht die Zuschauer direkt von der Leinwand aus angesehen und gefragt, ob sie das Meer tatsächlich nicht lieben? – Preise hat Belmondo für seine Kunst kaum erhalten, obwohl er große Filme noch größer hat erscheinen lassen. 1989 überreichten ihm die Juroren einen Kompromiss-César für Lelouchs unerträglichen „Löwen“, 2011 die Goldene Palme (für sein Lebenswerk), 2016 dann – fast makaber -den Ehrenlöwen (Venedig) und in diesem Jahr endlich den echten César – nun ja – für sein Lebenswerk. Man weiß ja nicht, wie lang es mit ihm noch geht. – Jean-Philippe Smet, bekannter als Johnny Hallyday, 10 Jahre jünger als Belmondo, starb Anfang Dezember …
I bims Vong
Arte widmete dem großen Jean-Paul zumindest einen Fernsehabend. Eine 90 minütige Doku gehörte dazu. Der Titel entfaltet die Peinlichkeit dieser Geste: Belmondo, der Unwiderstehliche. – Der deutsch-französische Kulturkanal ist übrigens seit März mit einem neuen On Air Design unterwegs. Das Senderlogo wurde um 90 Grad gedreht und ist nun endlich nicht mehr von links nach rechts, sondern von unten nach oben zu lesen. Ha! – Ist das jetzt sozialkritisch, phallisch, cool, krass oder porno? Geil ist ja sowas von out.
Das Jugendwort des Jahres heißt verdientermaßen „I bims„. Hatte ich vorher auch nie gehört. In meinen Ohren, in denen mittlerweile Haare wachsen, die vorsichtig geschnitten sein wollen, klingt das nicht zufällig nach Ich-AG, Postbank und iPod! Jedenfalls sei das ein Stilmittel der „vong“-Sprache, habe ich gelernt und sofort wieder vergessen. Als Erfinder gelten sowohl der österreichische Rapper „Money Boy“[7] als auch die Internet-Kunstfigur „Willy Nachdenklich„, ein Großhandelskaufmann (!!!) aus Amberg in der Oberpfalz. –
Wenn das Willi wüsste. Gestern hat er ein Stück Roastbeef angenommen und fragte dann eine Weile vor der Verandatür auf seine Art nach mehr. – Nebenbei: Weiß hier vielleicht zufällig jemand, ob Vong in gebärdetes Deutsch transferierbar ist?
Martha
Arie51 geh weg, Area51 komm her. Stanley Kubrick, so eine Mär, soll dort die US-Mondlandung inszeniert haben. Kommen wir also endlich zur Tiefe des Raumes: Es gibt in Hamburg seit 2010 einen kleinen Verlag namens Laika. Der fing an mit einer »Bibliothek des Widerstands«, über soziale Bewegungen von den 1960er-Jahren an. Willi die Wühlmaus Baer steckt mit dahinter, der langjährige Chefix einer Filmillustrierten, Filmproduzent und, und – und Karl-Heinz Dellwo. – Egal. Michael Weber, Schauspieler am Hamburger Schauspielhaus, hat dort ein Buch veröffentlicht, das schon 2014‚ rauskam. M A R T H A! Ein bisschen ist darüber, wie über den Verlag, geschrieben worden. Viel zu wenig. Über Martha sowieso. Einer der Protagonisten, Marthas Mann Ernst, hängt angesoffen auf der Treppe. Im Angesicht der erahnten eigenen Endlichkeit stellt er die entscheidende Sinnfrage:
Ernst: Mannomann, du! – Wer bin ich denn hier? – Hä? – Wer bin ich denn? (Pause) – Gibt`s doch nicht! – Mensch! – Wer bin ich denn hier? – Wer bin ich denn hier?
Martha: Ist gut jetzt, rech dich ab.
Ernst: Bin ich hier der Kasper? – Mensch, do! – Oder was? – (Pause)
Martha: Ernst, jetzt …
Das muss man sich langsam und laut vorlesen. Möglichst hanseatisch slangeln. Wenn der Autor das macht, dann ist das wie einer dieser raren und wahrhaftigen Beckett-Momente. Also: Gefälligst auf die Knie, sofern das noch geht!
Erinnert sich vielleicht noch jemand an Krapps Last Tape (Das letzte Band)? „Eines Abends, spät, in der Zukunft“ … Ein alter Mann hat sein Leben auf Tonbändern archiviert und schwelgt im Wort Spule – Spule! (Pause) Spuuule! – Das „letzte Band“ lief in Kassel während der documenta im Kulturhaus Dock 4. Veranstaltet von der Samuel Beckett Gesellschaft. Valentin Jeker, Schweizer, Jahrgang 34, machte die
„ … Pläne für ein weniger … (Er zögert.) … aufreibendes Geschlechtsleben … Hohngelächter über das, was er seine Jugend nennt, und Dankgebete dafür, daß sie vorbei ist. (Pause) … Was bleibt von all dem Elend? … “
Die erste Auflage von Martha ist weg. Es gab nicht mal mehr Exemplare für einen Büchertisch. Von einer zweiten Auflage war die Rede. Die soll jetzt endlich im nächsten Jahr kommen.
Vom Bellen mit Laika
Michael Weber ist einer, der auf vielen Baustellen baggert. Zum Beispiel hat er – Hallo Willi (Bär)! Hast Du das mitbekommen? – auch einen Film gemacht, Last Ship Home. [8] Ohne Förderung, ohne Sponsoren, ohne die üblichen Kompromisse. Dieses kleine Wunder über die Weltumseglung eines Segelschiffes namens Peter von Danzig ist in diesem Jahr erstmals gezeigt worden und ab und an irgendwo zu sehen, dann, wenn Michael Weber Zeit hat. Denn er begleitet den Film. Es geht um das erste Whitbread Round the World Race 1973, bei dem von Portsmouth, Kapstadt, Sydney und Rio de Janeiro und zurück drei Segler ertranken. 19 Yachten beteiligten sich. Darunter die Peter von Danzig aus Kiel. Das einzige deutsche Boot im Rennen, das einzige ohne Motor. Die wüst zu Abenteuern entschlossene studentische Mannschaft war eher zufällig dabei.
Aber sie kam an. Nach 179 Tage und 15 Stunden, – 46 (!) Tage nach dem Sieger, auf dem 14. Platz – von 14 verbliebenen Schiffen. Mitglieder der Crew hielten ab und zu Momente dieser Seereise auf Super8 fest. Michael Weber hat die Spulen nach 30 Jahren beim Aufräumen gefunden. Sein Bruder gehörte zur Mannschaft. Es hat dann noch Jahre gedauert, bis die stumme Bilder-Collage stand; eine Tonspur ist dazugekommen. Weber und Kollegen vom Hamburger Schauspielhaus sprechen Texte dazu, aus Logbucheinträgen, Berichten der Segler und passender – das heißt in diesem NoBudget-Fall – gemeinfreier Literatur. Eine ungewöhnliche, eine sehens- und hörenswerte große Fahrt – im Kino – und ein Plädoyer dafür, sich endlich zu trauen, endlich „etwas“ zu riskieren … !
Aus dem Whitbread hat sich das „Volvo Ocean Race“[9] entwickelt, das gerade läuft. Da berichten mittlerweile „On-Board-Reporter“ direkt über das Internet.
„Schon beim nächsten oder übernächsten Ocean Race … soll es möglich sein, dass eine computergesteuerte Yacht an den Start geht, die jegliche Entscheidungen an Bord mit Hilfe Künstlicher Intelligenz ohne menschlichen Verstand oder Muskelkraft trifft.“[10]
Blade Runner
Hat hier etwa gerade jemand „Blade Runner II“ gerufen? Ja, da war ich kurz drin. Abends. 22.30 Uhr. Im „kleinen Saal“. Der Film musste wohl der Verleihverträge wegen weiterlaufen. Kino2 war entsprechend leer. Ich hatte gehofft, dass es so bleibt. Und dann kam doch noch jemand. Das hat mir gefallen. „Ach“, jovialisierte ich den jungen Mann, einen Hipster[11], an, der sich da zwei Reihen vor mir einrichtete, „jetzt haben wir ja eine Art Kritiker-Vorstellung.“ Der Mitspätkinogänger kommunizierte mit gänzlich ironiefreier Authentizität in die Werbepausenvorspannstille: „Ach, sind Sie denn Kritiker?“ – Zugegeben. Danach hatte es der Film schwer. Meinen Eindruck gequirlt esoterischer Aufgeblasenheit teilen nicht viele. Verena Lueken fühlte sich gar zu Poesiealbum-Skurrilitäten animiert:
„Menschlichkeit, um die es hier geht, braucht mehr als biologische oder künstliche Gene. Sie braucht den Wunsch nach Transzendenz. Sie braucht den Blick auf die Welt, der ein kümmerliches Blümchen in einem Feld aus Asche für ein Zeichen von Hoffnung hält.“[12]
Darauf einen nachhaltigen Dujardin. Wer mir jetzt noch mit Bienen, Benjamin und Blümchen kommt, mit dem gehe ich Flippern. – Ja, ich war ein wenig verbittert. Aber daran war der zweite Mann schuld, der nicht mal ansatzweise orsonmäßig wirkte …!
„All those moments will be lost in time, like tears in rain. Time to die.“
Rutger Hauer (Replikant Roy Batty) hat diese Textzeile, so geht die Geschichte um „Blade Runner I“[13], während des Drehs improvisiert. Roy, der Maschinenmensch könnte Rick Deckard, seinen Jäger, den Blade Runner (Harrison Ford), die Menschmaschine, lässig abservieren. Aber dann hält er hoch oben inne, reagiert –, setzt sich in dieser atemberaubenden Kulisse eines Stadtmolochs auf das nasse Dach und „denkt“ darüber nach, was er alles gesehen hat. Er weiß, dass seine Garantiezeit abläuft. – Officer K. sagt in „Blade Runner 2049“:
„Die Dinge waren einfacher, damals.“ – Genau!
Deshalb bin ich dann gegangen. Beschäftigt hat mich allerdings noch die Frage, ob mein zweiter Eindruck eines Vollbartvollpfostens nicht daher rühren könnte, dass der in Wirklichkeit eine Maschine ist … Descartes kannte zwei sichere Mittel, um den Unterschied festzustellen [14]:
„Das erste ist, dass sie niemals Worte oder andere von ihnen gemachte Zeichen würden brauchen können, wie wir tun, um anderen unsere Gedanken mitzuteilen …“
Der gute Mann kannte offenbar die Möglichkeiten der Gebärdensprache noch nicht …
„Und das zweite ist, dass, wenn sie auch viele Dinge ebensogut oder vielleicht besser als einer von uns machten, sie doch unausbleiblich in einigen anderen fehlen und dadurch zeigen würden, dass sie nicht nach Einsicht, sondern lediglich nach der Disposition ihrer Organe handeln.“
Die Kunst des Tranchierens
Bevor jetzt jemand fragt: Nein, ich besitze keinen Organspendeausweis! Ganz bewusst nicht. Zudem liegt gerade der Werbeflyer vor mir. Das Angebot der Woche von Edeka. Darin: Frontal und gnadenlos ausgeleuchtete Fotos von saftig mageren Fleischstücken, frische Rinderrouladen und noch frischere Hähnchen-Minutenschnitzel XXL, lecker Nierchen und andere lebenswichtige Körperteile. Das gibt doch nicht nur in diesem hoch-kulturellen Augenblick zu denken: In Chicagos Schlachthöfen feierte die Fließbandproduktion ihre Geburtsstunde. Eine Umwälzung, die die Essensgewohnheiten ebenso veränderte wie unser sinnliches Potential. Am Ende der Industrialisierung von Viehzucht und Viehverarbeitung steht etwas, dass auf keinen Fall mehr an etwas Lebendiges erinnern soll, sondern eher z.B. an Heidi Klum, die sich in einem Edeka-Flyer auch bestens neben Eis, Chianti und Jacobs Krönung machen würde. Obwohl jeder die Geschichten von der Tante kennt, die mal eine Großschlachterei besucht hat und seitdem kein Fleisch mehr isst, soll das rohe Fleisch zum Shoppen und nicht zum Grübeln anregen.
Die Abschlachtung, die Wunde, den Tod, die Tierform des Schnitzels kann und will niemand wirklich sehen. Die massenhaft verbreiteten Hochglanzflyer der Lebensmittelketten zeigen das bereits weiterverarbeitete und gnadenlos ausgeleuchtete Pfannenglück in spe – in aller mundsaftanregenden Roheit. Nur kotzt niemand. Was wir wahrnehmen sollen und darin den Vorgaben auch brav folgen, das ist die Abstraktion vom Fleisch – das Schnäppchen. Das Interesse regelt sich über den Preis, das abstrakt Allgemeine, Kohle. – Bits & Bites ist es schließlich auch wurst, ob beim „Endverbraucher“ Töne oder Bilder ankommen, ob der Gläserne-Mensch-Generali-„Vitality“-Tarif daraus wird oder Tinder-Dates …
Die Werbung der fleischverarbeitenden Industrie macht klar, dass man sich schon analog weiter als bis auf die Haut ausziehen kann. Die pornographische Zerlegung der Körper in „Categories“[15] erinnert nicht zufällig an die schöne bunte Welt der Fleischtheken. Mindestens Bataille-Leser ergreift jetzt eine gewisse erotische Unruhe: In den „Tränen des Eros“ „zitiert“ er Fotos, die eine öffentliche Hinrichtung zeigen, Lingchi. Der „Tod durch 1000 Schnitte“ wurde die bis 1905 praktiziert. Dabei schneiden fachkundige Henker stückchenweise Gliedmaßen, Haut und Fleisch ab. Die Schlachtung des Verurteilten war gleichzeitig seine Zerlegung. – Bei Schlachter Obermaier aus dem Bayerischen Pliening (5.300 Einwohner) folgt erst nach,
„der Schlachtung und den strengen Kontrollen … die Zerlegung …“[16],
meldet er auf seiner Website. – Na bitte, geht doch!
Fleischbeschau
Die 6.000-Einwohner-Gemeinde Ampfing liegt rund 53 km östlich von Pliening. Es gibt dort, wenn man dem Internet glauben darf, zwei (in Zahlen: 2) Metzger. Ob die sich an den heftigen Protesten gegen ein Webcamgirl mit dem – nun ja – anregenden Künstlernamen „Natali Hot“[17] beteiligt haben, ist nicht bekannt. Jedenfalls darf sich die junge Frau in dem oberbayrischen Dorf seit 2016 nicht mehr gegen Geld vor der Internet-Kamera ausziehen. Sie lieferte zahlenden Betrachtern auf Anfrage die jeweils angefragten Körperteile nebst entsprechenden Gesten ihres Körpers in Nahaufnahme.[18] Die zuständigen Gerichte reagierten auf die Beschwerden der Ampfinger Bürger und ließen die barrierefreien Gebärden des Porno-Sternchens nicht als Telearbeit gelten. Was die Geschichte für einen Rückblick auf den Kulturkalender 2017 aktuell macht? „Natali Hot“, 24, ist vor wenigen Wochen mit dem 19-jährigen Bruder ihres 36-jährigen Managers und Noch-Ehemannes durchgebrannt. – Die beiden Metzger in Ampfing besitzen endlich wieder das lokale Privileg, exklusiv Fleisch zerlegen zu dürfen.
Boston
Frederick Winslow Taylor hieß der Ingenieur, der die Arbeitsabläufe in einzelne Schritte zerlegte, wie ein Metzger das liebe Vieh. Er schaffte damit die Grundlage für die beiden Zauberworte der Industriemoderne – Automatisierung und Beschleunigung. Auf der großen BWL-Selbstoptimierungsveranstaltung mit passender Marketingsprech-App heißt das Branden und Effizienzsteigerung[19] und was weiß ich …! Taylors Prinzipien fanden bei der Industrialisierung des Tötens in der damals größten Fleischerei der Welt ihre praktische Verifizierung. Durch das Fließband ist jeder, auch der ungelernte Arbeiter nur noch für überschaubare Handgriffe zuständig – und damit austauschbar: Ein Mann schabt einen Schweinefuß von der einen, ein zweiter denselben Fuß von der anderen Seite ab, der nächste schneidet dem Tier die Kehle durch, ein weiterer trennt den Kopf vollends vom Rumpf … 1906 veröffentlicht der junge Upton Sinclair (1878-1968) seinen Roman „Der Dschungel„, für den er sieben Wochen lang heimlich in den Schlachthöfen Chicagos recherchiert hatte. Er begab sich für alle seine Bestandsaufnahmen über den Fortschritt der Humanisierung der Arbeitswelt in Fabriken, unter Landarbeiter, in die Ölindustrie. Sein dokumentarischer Roman „Boston“ dreht sich um das Todesurteil gegen die italienischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, das vor etwas mehr als 90 Jahren, im August 1927 vollstreckt worden ist – trotz weltweiter Proteste. Sinclair beschreibt das geistige Klima in den USA nach dem Ersten Weltkrieg, den Richter, der „Ausländer“ verabscheut, alles Linke, vor allem das „anarchistische Gesindel“, den personalisierten Rechtstaat also, der alles daran setzte, die Italiener zu exekutieren. Er zeigt, wie das arbeitsteilige System aus Staat und kapitaler Wirtschaft die Zerlegung des Individuums organisiert. – Natürlich will der Kapitalismus nur unser Bestes. Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti gehörten erklärtermaßen zu denen, die ihm genau das verweigerten. – Vanzetti:“Es lebe die Anarchie!“ – Arzt:“Im Namen des Gesetzes erkläre ich sie für tot.“
„Boston“, 1928 veröffentlicht, im Jahr darauf auf Deutsch erschienen, ist in einer Neuübersetzung im Verlag Menasse (Random House) herausgekommen. Man könnte auf die Idee kommen, sagte Christoph Schröder im Deutschlandfunk,
“dass Upton Sinclairs ›Boston‹ vielleicht noch immer eine recht gegenwärtige Lektüre ist.“[20]
Die Systemfrage
Taylor fasste seinen höchst lebendigen Ansatz in dem Satz zusammen:
„In der Vergangenheit stand der Mensch an erster Stelle; in Zukunft muss das System an erster Stelle stehen!“
Systemkritiker Mehmet Scholl beschrieb die Aktualität dieser Gegenwartsanalyse:
„Die Kinder dürfen sich nicht mehr im Dribbling probieren, sie kriegen nicht mehr die richtigen Hinweise, warum ein Pass nicht gelingt, warum ein Dribbling nicht gelingt, warum ein Zweikampf verloren wurde. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen.“ … Was so viel heißt wie: Technokraten „haben unseren geliebten Fußball übernommen“.
„Mein lieber Scholli“ konstatierte ein allgemeines Interesse an meinungsarmen Lenorpersönlichkeiten – und erntete prompt einen Entrüstungssturm. Um der Wahrheit und nicht Putins-Propagande zu ihrem Recht zu verhelfen, stellte die meinungsstarke ARD den Experten aus demokratisch-pädagogischen Gründen schon ins Abseits, bevor sie ihm kündigte. – Simone Buchholz, 1. FC St. Pauli-Verehrerin, lässt ihre „Heldin“ Chastity in „Beton Rouge“ sagen:
„Scheiße wird immer von oben nach unten durchgereicht. Nur dass ich meistens die bin, die das Zeug entgegennehmen muss.“
Deshalb noch ein abschließender Blick ins Gorki-Theater. Schon vergessen? Der Titel des in jeder Hinsicht aufregenden 3. Berliner Herbstsalons hieß: Desintegriert euch! – Miro Kaygalak platzierte in der Ausstellung einen Baseballschläger – das Symbol der Deutschland-vor-disten – wie einen kostbaren Diamanten unter Glas. Das Holzschlaginstrument trägt den Schriftzug, der (aus dem eingeschmolzenen Metall zweier erbeuteter Kanonen aus Frankreich hergestellt) über dem Portal des Deutschen Reichstages steht:
„Dem deutschen Volke“
Nachspielzeit
Vorhin stand Nachbars Kater Flinx, genannt Willi, schon wieder vor der Tür. Käse nimmt er noch, aber streicheln lässt er sich nicht mehr! Irgendwas ist mit ihm passiert.
Mittlerweile habe ich den Namen Willi bei Wikipedia „nachgeschlagen“:
„Willi (Willy)“, heißt es da, „ war um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, also zur Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. einige Male unter den zehn häufigsten Jungennamen des jeweiligen Jahrgangs. Nach dem Ende der Kaiserzeit ging seine Popularität mehr und mehr zurück. Ab der Mitte der Sechziger wurde er kaum noch verwendet. Seit dem neuen Jahrtausend ist aber wieder ein leichter Anstieg seiner Beliebtheit zu beobachten.“ –
Wenn ich das jetzt alles richtig verstehe, dann ist der Name Willi vielleicht doch keine wirklich gute Idee.
Anm. d. Red: Michael Friederici organisiert „Schwarze Hafen- Nächte“ in der Speicherstadt Hamburg, Autorenlesungen und Veranstaltungen der besonderen Art.