Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Markus Pohlmeyer über Salgados „Amazônia“

Ein Buch, das ich nur wenige Seiten durchblättern kann – um dann überwältigt innezuhalten: so viel zu staunen, so viel zu bewundern, so viel Unbekanntes zu entdecken. Gerade die Bilder vom Flugzeug aus sind atemberaubend, der blanke Wahnsinn, zum Niederknien und zum Demütig-Werden. Die Bilder der indigenen Völker fast minimalistische Studien, Dokumentationen gegen das Vergessen, bisweilen klassisch schön in der Stilisierung und zugleich Fest, Jagd, Alltag, Trauer, Freude und Familie – weit jenseits davon, naiv einen ‚edlen Wilden‘ zu konstruieren. Der Photograph ist bekannt: „In thematisch angelegten Langzeitprojekten hat Salgado unter anderem die Hungernden in der Sahelzone, die Minenopfer in Kambodscha und das Schicksal der Arbeiter in der dritten Welt dokumentiert. […] Die Aufnahmen sind ausschließlich in Schwarzweiß, da nach Salgado die Farbe ‚vom Gegenstand ablenken‘ würde.“[1]

Als ich durch Zufall das Cover von Amazônia sah, dachte ich spontan, dieses Buch könnte dich fesseln und faszinieren. Und es war so. Auf mehreren Ebenen. Filme (wie auch andere Bildbände) über den Amazonas kannte ich bisher nur in Farbe; darum war ich zuerst irritiert, dass hier alle Bilder in Schwarzweiß abgedruckt wurden. Dieses Verfahren erzielt in den Naturaufnahmen eine ungemeine ästhetische Wirkung und monumentale Erhabenheit sondergleichen, dazu beeindruckende Kontrasttiefe und eine Fülle von Details, die kaum aufzunehmen sind. Der Regenwald wie ein riesiges Meer, aus dem sich Berge wie Inseln erheben, den Himmel zu berühren, der – selbst ein Ozean mit dramatischen Wolkentürmen und gigantische Regenfronten – mächtig, unaufhaltsam in die Welt aus Bäumen und Blättern zurückwogt. Flüsse, schlängelnd, sich windend, silbern funkelnd, in einer schier endlosen Weite. Flüsse wie Spiegel, die die Fülle vervielfältigen. Eine Landschaft schmerzhaft schön, erhaben, fraktal, imaginär, endlich-unbegrenzt. Geheimnisvoll, wie eine Reise in die Urzeit, und bitter gezeichnet von ihrer Geschichte: „Das Amazonasgebiet erstreckt sich über neun südamerikanische Länder, wobei mehr als 60 Prozent des Regenwaldes in Brasilien liegen. Die Bevölkerung dieser Region wurde im Jahr 1500, als portugiesische Seefahrer in Brasilien landeten, auf etwa fünf Millionen geschätzt. Heute leben in einem Gebiet, das mehr als achtmal so große ist wie Frankreich, nur noch 370 000 Indigene. Sie gehören 188 Völkern an und sprechen rund 150 verschiedene Sprachen. Weitere 114 Völker wurden identifiziert, aber bislang nicht kontaktiert.“[2]

Das Buch von Salgado, der jahrelang durch den Regenwald Südamerikas reiste, ist eine herausragende Dokumentation, ein Schatz unvergleichlicher Photographien, Memoria einer einzigartigen Welt,  so verletzbar und schon so verwundet: „Oft als Lunge der Welt bezeichnet, hat der Regenwald nach und nach seine Fähigkeit verloren, riesige Mengen an Kohlendioxid zu absorbieren. Stattdessen haben die Waldbrände mit Millionen von brennenden Bäume […] eine gewaltigen ‚Kohlenstoffbombe‘ geschaffen. […] Dank seiner Milliarden von Bäumen bildet diese Vegetationsdecke Luftströme, die mehr Wasser transportieren als der Fluss Amazonas. Die Auswirkungen dieser Tatsache auf die globalen Klimabedingungen sind immens.“[3]

Die Bilder lassen kaum etwas von den Mühe der Reise erahnen: „Wir hatten Sonnenkollektoren und einen großen Akku dabei, der Strom zum Aufladen meiner Kameras, für unser Satellitentelefon, die elektrischen Rasierapparate, iPods und dergleichen lieferte. Zu unserer Ausrüstung gehörten außerdem Hängematten, Moskitonetze, Wasserreinigungsflüssigkeit und eine beeindruckende mobile Apotheke, einschließlich Antibiotika sowie – ganz wichtig – einem Mittel gegen Schlangenbisse.“[4] Aber diese für Reisende gefährliche Schönheit ist wiederum eben auch durch die Reisenden selbst gefährdet: Das Team musste „[…] eine Woche oder länger in Quarantäne verbringen, bevor wir den Dschungel betreten durften. Die Geschichte der indigene Völker hat gezeigt, dass es kaum eine größere Gefahr für sie gibt als die von Auswärtigen eingeschleppten ansteckenden Bakterien oder Viren.“[5]

Salgado würdigt den Einsatz der indigenen Völker, den Regenwald zu bewahren.[6] Kurze Skizzen geben Einblick in ihre oft tragische Geschichte: „Mitte der 1980er-Jahre drangen 40 000 Goldgräber in das Gebiet der Yanomami ein. Ein großer Teil der Yanomami starb in Folge der eingeschleppten Krankheiten oder wurde ermordet.“[7]

Schilderung (und Photographie) der indigene Völker, ihrer Riten und Kulturen, erfolgt mit Empathie; trotz Sprachbarrieren[8] erlebte Salgado große Gastfreundschaft. Darum dieses, sein Anliegen: „Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass dieses Buch in 50 Jahren nicht als Bestandsaufnahme einer verlorenen Welt gelten wird. Amazônia muss fortbestehen. Und als sein Herzstück diejenigen, die dort leben.“[9]

Epilog I

„Bereits 20 Prozent der Biomasse des Amazonasgebietes sind verloren.“[10]

Epilog II

Dankbar bin ich für dieses Buch, sehr dankbar, denn ich werde aus verschiedenen Gründen niemals den Amazonas bereisen können. Und ich würde mir auch nur maximal eine Stunde geben, dort zu überleben … Aber wie fremd erschiene unsere Welt jenen indigenen Völkern? Straßen voller gefährlich rasender Blechkisten; tödliche Viren und Bakterien; seltsame Leute, die nicht miteinander reden, sondern mit Geistern in ihren Händen und Ohren.

Es war ein sehr, sehr heißer Juli. Nun August. Vor kurzem stand ich – vor-herbstlich – an einem Getreidefeld in Dänemark; darin ein solitärer Baum, Traum der Romantik; dramatische Wolkengebilde; vielfältiges Grün der Wälder in der Ferne. Mir schien, als wär’ ich in einem Bilde von Caspar David Friedrich. Auch diese schöne Welt hier ist verletzlich und verwundet.

  • Sebastião Salgado, Lélia Wanick Salgado: Amazônia. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2021. Hardcover, Format 35,8 x 26 cm, 4,19 kg. 528 Seiten, 100 Euro.

Zum Weiterlesen:
H. Haarmann: Vergessene Kulturen der Weltgeschichte. 25 verlorene Pfade der Menschheit, München 2019 (25. Geometrische Erdwerke im Regenwald Amazoniens) 

R. Oth: Völker der Sonne. Versunkene Hochkulturen Südamerikas, Stuttgart 2005 („Indianerkulturen im tropischen Dschungel“, ab Seite 145).

Dr. habil. Dr. Lic. theol. M. Pohlmeyer/Europa-Universität Flensburg


[1] B. Stiegler – F. Thürlemann: Meisterwerke der Fotografie, Stuttgart 2011, 303.

[2] Sebastião Salgado: Amazônia, versch. Übers., Köln 2021, 7. (Im Folgenden Amazônia abgekürzt.)

[3] Amazônia, 7.

[4] Amazônia, 9.

[5] Amazônia, 9.

[6] Siehe dazu Amazônia, 8.

[7] Amazônia, 10.

[8] Siehe z.B. Amazônia, 11.

[9] Amazônia, 23.

[10] Amazônia, 7.

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