Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Markus Pohlmeyer über Anna Hoffmanns „VLUST“

Anna Hoffmann: VLUST. Gedichte. Plus Audio-CD von Anna Hoffmann. Hybriden-Verlag, Berlin 2021. Verlagsinformationen hier.

Eine Rezension.

Gewiss werde ich nicht fragen, was uns Anna Hoffmann damit sagen wollte – das tat die Dichterin nämlich genau in ihren Gedichten und mit deren Form. Beschreiben möchte ich hier vielmehr, wie es mir mit diesem Buch ergangen ist. Da liegt auf meinen Küchentisch immer eine kleine Auswahl von Poesie (von der Antike bis heute). Natürlich fänden sich ‚heiligere‘ Stätten, um Gedichte in der eigenen Wohnung auszustellen …; anders gewendet: gute Lyrik ist für mich die, mit der ich täglich leben kann. Die ich greifen kann, jederzeit, in allen noch so, noch so banalen Alltagssituationen, weil sie mich ergreift, und die mich mit Rätseln zurücklässt, weil ich sie nicht vollständig begriffen haben kann – und auch nicht muss. Ja, und ich somit, nach einer gewissen Zeit, wieder zu diesem oder jenem Gedicht greife. Oder es nach mir greift. 

So auch VLUST – oder Frust? Fluss? Oder V(er)lust? Sinnlich, erotisch, abgründig. Und eine poetria docta am Werk: Ophelia, Medea, Kassandra oder Nausikaa (und andere mehr) spannen einen weiten mythopoetischen Rahmen, in den sich die vielen Sprecherinnen, aber auch Sprecher, dieser Gedichte mit ihren Geschichten und Gefühlen einschreiben. Erschütternd beispielsweise die Auseinandersetzung mit Schillers berühmtester Elegie und dessen Wallenstein …

I

… oder jene Inversion – Bejahung von Kleists zerfleischenden Reimen aus Penthesilea – in Verbindung mit post-moderner Liebe als ovidianischem Kriegsdienst und einer negierten Bitte, die sich, positiv gewendet, in mittelhochdeutscher Minnelyrik wiederfindet:

„gladiaTORIN im trainingslager
ich geh schon vor in den zwinger des glücks
und gott behüte uns nicht
vor bissen küssen und tödlichen wunden“[1]

Zeichnung von Hartmut Andryczuk
(Vorzugsausgabe)

II

Oder Verstörendes, wie z.B. in 

liebste schwester

„jede kleine Ophelia lernt auf die harte tour
schwimmen“ […]

Jede: diese Verallgemeinerung einfach nur tief traurig – beim Gedanken an den Selbstmord von Shakespeares Ophelia. Und dieses kleine so bitter … Ophelia wie ein Muster, das sich scheinbar durch alle Zeiten hindurch fatal wiederholen muss? Schwimmen lernen, um nicht unterzugehen? Ausgesparte Satzzeichen bremsen zudem den Lesefluss hin zugunsten einer Überlagerung von Sätzen:

„wir denken uns aus zieh’n los“

Wir denken.
Wir denken uns.
Wir denken uns aus? Sind wir nur Imaginationen?
Aus-zieh’n, los! Wer befiehlt? Männerstimmen?
Zieh’n los! Freiheit? Bitte lesen Sie selbst weiter!

III

Oder VLUST … wirkte für mich wie die Negation von Welt, wie ein Nicht-wahr-haben-Wollen dessen, was war, und seines Verschwindens (Ich trage im Fettdruck meine Kommentare in den Text ein, die immer nur meine persönliche Eindrücke und Assoziationen sein können):

„wenn das kein strand ist fress ich einen besen
(Geste des Beharrens im Konditionalsatz)
okay die besten teile fehlen schon:
(Spannung: was fehlt denn?)
das wasser und die wolken
(Was bleibt denn übrig? Semantische
Entkernung des Wortes Strand?)
trotzdem ist das ein strand
(Geste des Beharrens, nun in einem
Hauptsatz: das konstatierende ist
von Vers 1, zeitlose Gegenwart, wird wieder aufgegriffen,
als ob die Magie der Wörter/Worte den Strand hielte.)
und wir steh‘n hier
(Wo ist hier, wer ist wir?)
wir allesträumer auf dem weg zur kippe
(Wunderbar und entlarvend dieses Kompositum: 
wir träumen uns nicht nur einen Strand herbei, sondern alles.
Wir alle stehen hier: in unseren Träumen. Und
heftig, nur ein einziges L und statt
Klippe [Müll]KippeDie Laster treten im
letzten Vers auf.)
die jenseits führt von gin und sinn
(Binnenreim. Ich mag mir gar kein
Jenseits von Sinn vorstellen …)
und unbespielten körpern
(Gin: Rausch; Sinn: Freiheit; Körper: Erotikaber
wie vergessene Instrumente, jenseits
seiner/ihrer Möglichkeiten. Einsamkeit …)
wir halten diesen strand
(Fast militärisch: auf verlorenem Posten
heroischer Widerstand gegen Sinnerosion
und Zerstörung der Natur …)
noch einen tag noch einen einen noch
(Ringkomposition, dieses dreifach wiederholte,
so verzweifelte noch; dazu Chiasmus:
noch  einen

X
einen noch)   
ein tag wie all die nächte
(Vom Singular zum Plural:
Allumfassend die Zeit.)
die bereits vom laster fielen“
(Hier brechen Technik und Vergangenheit in eine träumende (vermeintliche) Romantik herein. Etwas ging unwiderruflich verloren, vielleicht fiel es einfach mal so von einem Laster.)

Für mich bietet dieses Gedicht ein starkes Beispiel, wie eine vergängliche Imagination in eine unvergänglichere Fiktion (eines Kunstwerkes) überführt wird – im Sinne des Philosophen Dieter Henrich: „Die Fiktion organisiert insbesondere die Imagination, die in ihren Bildern präzise, in ihrer Verlaufsform aber diffus ist, in ein Ganzes, das zugleich als irreal und als zwingend gewußt wird.“[2]

Welche Wege hat Hoffmanns Gedichtband in meiner Wohnung (und nicht nur da) bisher zurückgelegt? Z.B. in meinem Rucksack, der mit mir vor kurzem in Dänemark war, dann neben meiner LEGO-Großbaustelle oder jetzt auf meinem Schreibtisch. Dann wieder in die Küche. Vielleicht auch in meine Träume. Auch wenn ich dieses Buch schon oft gelesen habe, fange ich erst langsam an … zu entdecken. 

Markus Pohlmeyer

Seine Texte und Gedichte bei uns hier.


[1] Alle Gedichtzitate in dieser Rezension entnommen aus: A. Hoffmann: VLUST. Gedichte, Berlin 2021.

[2] D. Henrich: Bewusstes Leben, Stuttgart 2008, 149.

Tags : ,