Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Markus Pohlmeyer: „Picard“, gelesen

Ein wahrlich freier Diener des Lebens

Ein Essay von Markus Pohlmeyer

Una McCormack: Star Trek – Picard. Die letzte und einzige Hoffnung. Die Vorgeschichte der TV-Serie. Cross Cult, Ludwigsburg 2020. 400 Seiten, 15 Euro.

I Supernova

La Barre, Frankreich Wie findet man ein Zuhause, wenn das Zuhause verschwunden ist? Wie lässt man sich an einem Ort nieder, wenn man lieber überall sonst wäre? Jean-Luc Picard ließ seine Koffer in der Eingangshalle fallen und sah sich um. […] Ich bin nutzlos, dachte er. Ich habe keine Bestimmung.“[1]

So beginnt der Epilog. Ein Sprung zurück, zum Anfang: Captain Picard wird zum Admiral ernannt, denn er soll eine in ihren Dimensionen nie dagewesene Rettungsmission übernehmen. Die romulanische Sonne nämlich entwickelt sich zu einer Supernova. 900 Millionen Flüchtlinge. Unfasslich gigantisch die Herausforderung. Widerstände auf und von allen Seiten: ein geradezu paranoid auf Geheimniskrämerei versessenes romulanisches Imperium; auch viele Mitglieder der Sternenflotte stehen der Aufgabe eher skeptisch gegenüber, weil sie ihre ursprünglichen Missionen und Projekte auf unbestimmte Zeit verabschieden müssen. Diplomatische Verwicklungen und das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen (aber auch Konflikte in der Föderation selbst) zeichnen diesen Roman aus. Es treten unter anderem auf: eine karrieregeile Politikerin; ein Wissenschaftler, der einen neuen Data erschaffen möchte, kurz: Leben; eine neue Erste Offizierin, die hemmungslos Picard die Meinung sagt/geigt. 

Forscherinnen auf der Erde entdecken, dass der Explosionsradius der Supernova weit größer sein dürfte als angenommen – das bedeutet noch mehr Flüchtlinge. Ein romulanischer Wissenschaftler kommt zu demselben Ergebnis; aber sein Geheimdienst entführt und foltert ihn, manipuliert seinen Kommunikationsversuch mit der Föderation. Bevor die zur Katastrophe losbricht, scheint sich die Elite von Romulus abgesetzt zu haben, eine Elite, die offensichtlich ihre eigene Bevölkerung belogen hat. Auf Föderationsseite drohen Planeten, die sich nun vernachlässigt fühlen – alle Ressourcen werden auf die Rettungsmission umgelenkt –, mit Separation. Die auf dem Mars hochgefahrenen Schiffswerften fallen einem Unfall/Anschlag? zum Opfer: die neukonzipierten Androiden seien Amok gelaufen. Die Atmosphäre des Mars brennt. Geordi La Forge, der diesen Bereich leitete, am Boden zerstört. Picard, aufgefordert, die Mission zu beenden, legt seinen Rang nieder und zieht sich nach Frankreich zurück. 

Der Roman lässt viele Fragen offen, vieles wird nicht auserzählt – gewiss auch für die nachfolgende Serie Picard. Was verschiedene Wissenschaftler/innen vermuten, könnte die Supernova nicht-natürlichen Ursprungs sein. Und war es wirklich ein Fehler desjenigen Wissenschaftlers, der das Mars-Projekt betreute, dass dessen neue Fertigungsandroiden durchgeknallt seien? 

In meiner Schulzeit war Star Trek The Next Generation ein Must-Be.[2] Die Figuren waren edel und hochgemut, gleichsam gebrochen und doch seltsam steril. In diesem Roman wird geflucht. Die Situation der Flüchtlinge ist grausam; von ihrer Heimat fortgerissen, finden sie sich in Alpträumen wieder. Picard muss hilflos zusehen, wie Flüchtende von ihrer Regierung im Stich gelassen werden, eingepfercht in Lager und Elendsquartieren. Oder sogar Massenmord. Zu allem Unglück spielt ein lokaler Herrscher auch noch Gott und will seinen Untertanen, die er für sein Eigentum hält, nicht die Flucht erlauben. Denn die Föderation lüge ja nur, das wäre Propaganda usw. Um genau solchem Misstrauen vorzubeugen, setzte Picard ein Zeichen dafür, wie aus ehemaligen Gegnern Verbündete und sogar Freunde wurden: er ernennt den Klingonen Worf zum neuen Captain der Enterprise.[3] Und Picard geht ungewohnte Wege. Um zu helfen, gibt er die Neutrale Zone auf. 

„‘Sind Sie sich absolut sicher, dass Sie nicht um Erlaubnis fragen müssen, bevor Sie die Neutrale Zone zerlegen?‘ Der Admiral zuckte mit den Schultern. Noch nie hatte er französischer gewirkt. ‚Es ist besser, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis, Raffi.‘ ‚Ich freue mich schon darauf, das eines Tages bei Ihnen zu versuchen‘ sagte sie. ‚Ich wäre enttäuscht, wenn Sie das nicht täten.‘ Er lehnte sich vor. ‚Energie.‘“[4]

II Irgendwie gut, irgendwie böse

Metin Tolan versucht eine Erklärung, warum die Originalserie (TOS) anfänglich so sperrig rezipiert wurde – bis hin zu ihrer Absetzung: „STAR TREK war 1966 im US-Fernsehen eine Serie, bei der es ‚Gute‘ und ‚Böse‘ gab. Das gab es zwar in vielen Serien, aber bei STAR TREK hatten die ‚Bösen‘ immer einen guten Grund, warum sie ‚böse‘ waren. Diese Tatsache scheint den US-amerikanischen Zuschauer der 1960er schlichtweg überfordert zu haben!“[5] Und die Romulaner haben in diesem Roman hier auch gute Gründe für ihr Verhalten: die Angst, ihre Kultur zu verlieren; die Angst, Bittsteller der Föderation zu werden; die Angst, die Föderation könnte die Krise für militärische Expansion im romulanischen Raum ausnutzen. Aber die Opfer dieser Politik sind vor allem die Romulaner selbst. Und die Föderation ist alles andere als einheitlich gut: warum solle man dem Feind helfen, warum deshalb für unbestimmte Zeit alles aufgeben? Der Idealismus und Humanismus Picards werden ständig durch den Zweifel beider Seiten auf die Probe gestellt – bis schließlich der Admiral aufgibt. Auch wenn in diesem Roman keine Raumschlachten und Tentakelmonster vorkommen, so herrschen doch viele Formen der Gewalt: von dem kosmischen Ereignis einer Supernova über die Methoden des romulanischen Geheimdienstes und den Umgang mit Flüchtlingen bis hin zur Katastrophe auf dem Mars.

III Kanon und Konvention

Mit Blick auf Star Trek: Into Darkness stellt Thomas Shärtl fest: „Diese neue, realistische Detailverliebtheit – sollte es jemals einen Warpantrieb geben, würde er einem Teilchenbeschleuniger ähnlicher sehen als einer Lichtspiel-Säule – versucht, die fiktional Welt näher an unsere eigene Welterfahrung heranzurücken. Auch die narrativen Topoi stammen stärker von unserer gegenwärtigen Welterfahrung her […].“[6] Genau solch eine literarische Modifikation wird auch im Picard-Roman vollzogen – mit hohem Aktualitätsbezug. So bleibt die Kohärenz des Star Trek-Kanons[7] gewahrt, aber unter Ergänzung durch ein Realismus-Update. Picard wirkte aber auf mich fast – ein Essay darf viel wagen – wie ein Fontane-Roman, wenn ich z.B. „Quantum“[8] von Hannu Rajaniemi als Vergleich heranziehe. „Quantum“ ist im Grunde ein Schelmen- und Detektiv-Roman, der so stark Quantenphysik, Computertechnik und Virtualität verschränkt und extrapoliert, dass mir in dem so generierten magischen, phantastischen, surrealen Universum jeder noch so kleinste Bezug zum Vertrauten wie ein Ruhepunkt (wie etwas zum ‚Festhalten‘) in dieser Flut von Bildern vorkam. Picard rückt durch plausible Realität nahe an Konventionalität heran, dass ich bisweilen dachte ‚langweilig und voraussehbar‘. Dennoch: „[… D]er Autor muss agieren, als ob die vorhandenen novellistischen Methoden stets dabei wären, zur bloßen Konvention zu erstarren, er muss also versuchen, dieses unvermeidliche Altern zu überlisten. Der wahre Autor, dieser freie Diener des Lebens, muss stets agieren, als sei das Leben eine Kategorie jenseits von allem, was der Roman bisher erfasst hat, als stünde das Leben selbst kurz davor, konventionell zu werden.“[9] Und dies gelingt Una McCormack. Selbst im hohen Alter von Star Trek mit all seinen Konventionen bleibt für Admiral Picard ‚Leben‘ eine nicht verhandelbare Kategorie; und eben daraus leiten sich sein Humanismus und seine Kultiviertheit ab. Picards Verzicht auf Rang und Macht ist ein schmerzlicher, gebrochener Weg in die Einsamkeit und gleichzeitig Ausdruck einer ungebrochenen Freiheit, die sich gegenüber allen Konstellationen politischer Manipulation und Korruption und Lüge unbeugsam erweist. 

IV Epilog

Wie La Forge, der Ingenieur, sich selbst und Picard, den Admiral, sieht: „Ganz zu schweigen von dem sehr speziellen Humor, der Neigung zu furchtbar schlechten Wortspielen und der Vorliebe für Science-Fiction. Ja, die Welt im Allgemeinen fand Ingenieure, um es ganz offen zu sagen, seltsam. Hey, und er widersprach ja gar nicht. Er mochte sich einfach genau so, wie er war. Doch an und an gab es jemanden, der es kapierte. Jemand, der erkannte, dass diese klugen Spinner etwas Besonderes waren: neugierig, aufgeschlossen, flexibel und praktisch. Picard war so jemand. Picard verstand es.“[10] Wäre das nicht die Vertonung zu einer klingonischen Oper wert? Energie!

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte bei CulturMag hier.


[1] U. McCormack: Star Trek: Picard. Die letzte und einzige Hoffnung, übers. v. S. Pannen, Ludwigsburg 2020, 403.

[2] Siehe dazu Filmgenres: Science Fiction, hg. v. T. Koebner, Stuttgart 2003, 354: „Dass Picard dazu noch ein feinsinniger Intellektueller und Literaturkenner ist, macht ihn zusätzlich zur Besonderheit unter dem Science-Fiction-Personal, wo doch sonst die Hau-Draufs und gedankenlosen Kraftmeier vorwalten. Aber Star Trek ist ohnehin eine Familienserie, die in den Weltraum verlagert ist.“ Und auch M. Fritsch – M. Lindwedel – T. Schärtl: Wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Science-Fiction-Filme: Angewandte Philosophie und Theologie, Regensburg 2003, 150:  „Der Geist der neuen Serie ist teilweise ein anderer: Von dem nachdenklichen, von dem grandiosen Mimen Patrick Stewart gespielten Captain Jean-Luc Picard und seiner Mannschaft werden Geschichten erzählt, die weit eher der Ursprungsintention Roddenberrys entsprechen als die Originalserie: Im Kern nicht weniger Episoden trifft man auf ein Bekenntnis zu humanistischen Idealen, auf eine Absage an Gewalt, auf das stetige Bemühen um Frieden und Wohlergehen.“ 

[3] Siehe dazu Picard (s. Anm. 1), 170.

[4] Siehe dazu Picard (s. Anm. 1), 153.

[5] M. Tolan: Die Star Trek Physik. Warum die Enterprise nur 158 Kilo wiegt und andere galaktische Erkenntnisse, 2. Aufl., München – Berlin 2016, 12.

[6] T. Shärtl: Nichts ist so reell wie die Fiktion. Science-Fiction-Filme als imaginatives und begriffliches Laboratorium, in: T. Shärtl/J. Hassel (Hrsg.): Nur Fiktion? Religion, Philosophie und Politik im Science-Fiction-Film der Gegenwart, Münster 2015, 7-40, hier 9.

[7] Shärtl: Fiktion (s. Anm. 6), 7: „Der Regisseur J. J. Abrams verpasste der Marke Star Trek eine optische Generalüberholung. […] J. J. Abrams […] schickte Star Trek in ein narratives Paralleluniversum. Nimmt man für dieses erzählerische Vorgehen einen Ausdruck, der theologische Assoziationen weckt, so könnte man von einer Neubildung des Erzählkanons sprechen. Greift man dagegen zu einer eher technischen Metapher, so müssten wir von einem Reboot ganzer Serien- und Film-Erzählungen sprechen.“

[8] H. Rajaniemi: Quantum. Roman, übers. v. I. Holicki, München 2012.

[9] J. Wood: Die Kunst des Erzählens. Mit einem Vorwort von D. Kehlmann, übers. v. I. Klemm, 4. Aufl., Hamburg 2018, 211.

[10] Siehe dazu Picard (s. Anm. 1), 62.