Ovid – von der Liebe zu den Sternen:
Metamorphosen eines Dichters. Ein Essay von Markus Pohlmeyer
Ovid (gestorben 18 n. Chr.?), ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Amores.
Ovid, ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Ars amatoria: eines Lehrgedichts gelingender Liebe für Mann und Frau.
Ovid, ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Metamorphosen. Ohne dieses Werk wäre europäische Kunst nicht denkbar und kaum verstehbar – das Kompendium antiker Mythologie schlechthin.
Ovid, ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Amores: Die Erotik dieser Liebeselegien liegt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der verführerisch enthüllenden-verhüllten Sprache.

Ovid, ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Ars amatoria: ein Lehrgedicht gelingender Liebe für Mann und Frau. Mein einziger Kritikpunkt: Lieber Ovid, die Fokussierung auf die (architektonische) Topographie des augusteischen Roms erschwert nach ca. 2000 Jahren das Gelingen deines Projektes ein wenig. Aber keine Angst, das Buch ist durchaus globalisierungskompatibel – und es gibt sehr gute, kommentierte Übersetzungen: „Und warum wollten wir die Ars amatoria neu kommentieren? Ovids Dichtung fasziniert uns in ihrer Verbindung aus leichter, eleganter Oberfläche und kaum zu ermessendem Tiefenraum von Anspielungen, literarischen Bezügen, Vieldeutigkeit und komischer Subversivität. Sie fasziniert uns in der Feinheit des Versbaus, der raffinierten Arbeit an der Form und der Großzügigkeit, mit der erzählt, argumentiert und gespielt wird.
Wenn Liebe vor allem Gabe ist, dann ist Ovids Buch ein Liebesgeschenk, das eine nie nachlassende Lektürelust erzeugt.“[1] Das zitierte Buch ist einfach nur wunderschön, im Design ungewohnt und dadurch sehr angemessen. Der Kommentar rankt sich gewissermaßen um die Übersetzungen, so dass ich buchstäblich ein graphisches Bild davon erhalte, was in diesen Versen verborgen und hineingezaubert wurde. Und nun aus der Ars amatoria: „Aus dem innersten Mark her spüre das Mädchen die Wollust, Ganz gelöst, und das Glück beider sei völlig gleich groß.“[2]
Dazu ein Kommentar: „Wenn es noch einen Hinweis bedürfen sollte, geneigte Leserinnen und Leser, in Ovid einen Feministen zu erkennen (freilich nicht weniger einen Männerfreund), dann dürfte dieses Distichon die letzte Überzeugungsarbeit leisten. Nichts stört die patriarchale Herrschaft so sehr wie die weibliche Lust. Ein gemeinsamer Orgasmus ist das dionysische Fest der Gleichberechtigung.“[3] Und bei Scheitern und Liebesleid und Herzensschmerz? Darum hat Ovid sicherheitshalber und vorausschauend auch die Remedia amoris (Amoris?) geschrieben: Heilmittel gegen die Liebe (oder Heilmittel der Liebe, Heilmittel Amors oder gegen Amor?) Bei ästhetischen Nebenwirkungen und Beziehungsrisiken fragen Sie bitte Ihren zuständigen Dichter …

Ovid, ihn kennt die Weltliteratur als Dichter der Metamorphosen: „Aus dem reichen Material der einander überlagernden Geisteswelten hat Ovid ein ästhetisches Zeichensystem geschaffen, das ihn zur Schlüsselfigur des alten und neuen Europa macht. Die Adaptionen der überkommenen mythischen Stoffe, wie er sie (nicht nur) in seinem wohl berühmtesten Werk, den Metamorphosen, präsentiert, spielen dabei die zentrale Rolle. Die antiken Mythen beflügeln die Phantasie der Kultur- und Medienwelt bis heute, besonders der Film- und Fernsehindustrie.“[4]
So weit bis dahin Ovid im Studium gelesen. Schnitt. Die Jahre danach gehörten und gehören immer noch Cicero, Tacitus, Sallust, Vergil, Horaz, den Satirikern und Tibull. (Wie eine Freundin zu sagen pflegt: „Du und deine Römer!“ Worauf ich antworte: „Ein Tag ohne diese war kein guter Tag. Eine Woche ohne sie: undenkbar.“) Da es bei mir einen ungebremsten Trend zum Zweitbuch gibt, dachte ich mir vor kurzem, ergänze doch mal den Ovid. Nun ja, seltsamer Text, diese Fasti: ein römischer Festkalender. Langweiliger geht’s nicht, oder? Okay, liegt auf dem Schreibtisch, hastejagekauftliesmareinbrummel. Was für eine Sprache: du glaubst, die Verse funkeln wie Gestirne! Was für ein Ovid! Wie ausgetauscht!
„Von Beginn an stellt Ovid klar: Er ist der Dichter nicht mehr nur der Liebe, der mythischen Geschichte und ihrer Topographie, sondern auch – der Zeit. […] Wenn Ovid von einer notata dies(‚Tagesbezeichnung‘) spricht, dann offenbart sich darin seine spezifische Zeichentheorie: die Lesbarkeit der Welt. Hinzu kommt auch hier […] eine raffinierte Strategie perspektivischer Wechsel, die die Figuren zu Komplizen oder Kontrahenten des Erzählers macht.“[5] Frech, dieser Umgang mit Göttern, Musen und Göttinnen, die der Dichter souverän befragt und gewissermaßen zu sich in die Schreibstube einlädt – so hatte ich bisweilen den Eindruck. Januar kommt von Ianus. Lieber Ianus, dann erkläre uns das doch bitte einmal genauer. Kein Thema, mach’ ich.[6] Und nun ja, wir lernen auch, warum es Glückwünsche und Süßigkeitengeschenke am 1. Januar gibt.[7] Kurz zur Poetologie: „Erst im Zusammenhang mit dem rituellen Anlaß werden im Festkalender die Mythen entfaltet […]. In diesem Sinne ist die Abfassung des Festkalenders ein Akt individueller und kollektiver Identitätsstiftung in der Dimension des Gedächtnisses, der eigentlichen Domäne der Dichtung.“[8] Wie ein späteres Echo, hallend durch Äonen, Hölderlins „Andenken“: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“[9]
Und dann Ovids Briefe aus der Verbannung, oft zu Unrecht unterschätzt als eine nie endende Litanei des Klagens. (Warum gerade diesen Dichter dieses Schicksal traf?, wir wissen es nicht.) Aber wie aus Raum und Zeit verbannt: Dieses poetische Monument zerreibt das Rom der Kaiser zu Staub und Bedeutungslosigkeit. Was für ein Gestus des inneren Widerstandes; was für ein Weg, die eigene Freiheit gegenüber politischer Macht und Willkür zu behaupten. An die Dichterin Perilla:

„Sei es in Kürze gesagt: was wir haben, ist alles vergänglich
außer den Gütern des Geistes oder des Herzens Besitz.
Sieh mich an, der die Heimat entbehrt, sein Haus und euch alle,
mich, dem man alles geraubt, was man zu nehmen vermocht;
dennoch geht meine Kunst mit mir, ich erfreue mich ihrer:
da hat der Kaiser selbst keinerlei Recht oder Macht.
Wer auch immer dies Leben mit wütendem Schwerte beende,
wenn ich erlosch, wird der Rum doch meinen Tod überstehn:
mich wird man lesen […].“[10]
Aus dem einstigen literarischen Shooting-Star einer Mega-Metropole wird eine Stimme der Einsamkeit am Ende der Welt (so will es uns zumindest die literarische Fiktion der Verbannungsgedichte glauben machen).[11] Aus dem lusor, einem Dichter, der mit Versen und Themen eher spielerischen Umgang pflegte, ist ein vates geworden, ein Prophet, der durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schreitet, und zwar überall auf der Welt. Der seine Verse in ein fast ewiges Material eingeschrieben hat, das dauerhafter als alles andere währt: in seine Leserinnen und Leser. Und er hatte Recht damit. Nach 2000 Jahren lese ich ihn, hier, weit entfernt von Rom. Manchmal auch laut, weil die Verse wunderschön sind. Und in seiner Sprache. Ovid wurde für mich zu einem Dichter, der sehr viel Mut macht, widerständig zu sein und sich immer wieder zu den Sternen zu erheben – nicht als Eskapismus, sondern weil das etwas ganz Besonderes ist – in einer Welt von Krieg, Lüge und Massenmördern:
„Was hindert mich daran, auch von den Sternen zu berichten, wie sie alle auf- und untergehen? Das soll ebenfalls Teil dessen sein, was ich versprochen habe. Glücklich die Menschen, die sich als erste bemühten, diese Vorgänge zu erkennen und damit in die himmlischen Bereiche emporzusteigen! Glaubhaft ist es, dass sie gleicherweise über Menschenversagen und Menschenraum ihr Haupt erhoben. […] Näher brachten sie unseren Auge die weit entfernten Gestirne, und sie vermochten den Äther ihrem Geist unterzuordnen.“[12]

Epilog
Mich hat besonders beeindruckt das abschließende Kapitel in „Astrophysics for People in a Hurry“ von Neil deGrasse Tyson – mit dem Titel “Reflections on the Cosmic Perspektive„: „The cosmic perspective enables us to see beyond our circumstances, allowing us to transcend the primal search for food, shelter, and a mate.“[13] „The day our knowledge of the cosmos ceases to expand, we risk regressing to the childish view that the universe figuratively and literally revolves around us. In that bleak world, arms-bearing, resource-hungry people and nations would be prone to act on their ‚low contracted prejudices‘. And that would be the last gasp of human enlightenment […]“[14]
Ob ich nun Ovid lese oder Einstein: die kosmische Perspektive schenkt mir in meiner marginalen Einmaligkeit ein Wissen und Erfahren von Schönheit, das keine Religion, keine Diktatur oder Ideologie, keines Herrschers Schwert je vernichten könnten. Wenn ich könnte, würde ich Ovid ein Sternbild schenken, weil er mich daran erinnert, Sternenstaub zu sein, der sich selbst und die Welt schreiben, sich selbst und die Welt lesen kann.
Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
Seine Texte und Gedichte bei uns hier.
[1] Aus: Zur vorliegenden Ausgabe und Dank, in: Ovid: Liebeskunst, in der Übers. v. Hertzberg/Burger, überarbeitet u. reich kommentiert v. T. Roth, A. Trautsch u. Möller, Berlin 2017, 343.
[2] Ovid: Liebeskunst (s. Anm. 1), 298.
[3] Ovid: Liebeskunst (s. Anm. 1), 298.
[4] M. Möller: Ovid. 100 Seiten, Stuttgart 2021, 3.
[5] Möller: Ovid (s. Anm. 4), 77.
[6] Siehe dazu Erstes Buch der Fasti.
[7] Ovid: Fasti. Der römische Festkalender, lat./deut., übers. u. hg. v. G. Binder, Stuttgart 2014, 17.
[8] M. v. Albrecht: Ovid. Eine Einführung, Stuttgart 2003, 203.
[9] F. Hölderlin: Andenken, in: Ders.: Sämtliche Gedichte, hg. v. J. Schmidt, Frankfurt am Main 2005, 362.
[10] Ovid: Briefe aus der Verbannung, lat./deut., übertragen v. W. Willige, erläutert v. N. Holzberg, 5. Aufl., Mannheim 2011, (aus Tristium III, 7) 143.
[11] Ein unfassbarer und unfassbar harter Roman dazu C. Ransmayr: Die letzte Welt, Frankfurt am Main 1992.
[12] Ovid: Fasti (s. Anm. 7), 25.
[13] Neil deGrasse Tyson: Astrophysics for People in a Hurry, New York 2017, 206 f.
[14] Astrophysics (s. Anm. 13), 208.