Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Markus Pohlmeyer: Gedichte – „Opacitas-Diptychon“

Siegel

Ein Gedicht manchmal wie
Durch einen gefrorenen
See einzubrechen, du aber nicht
Erfrierst, auch wenn das Wasser kalt
Wäre oder die Oberfläche wieder
Zufröre. Du wirst zurückschauen, gehst
Weiter. Trockenen Fußes. An Land.
Ein wenig erschüttert. Im Rückblick.
Im Sonnenschein.

Imago I

1

Schaute einen Film über die Seidenstraße:
Da, ein Land so reich an Philosophen, Mathematikern,
Astronomen, Entdeckern und mutigen, einfachen, neugierigen
Leuten, für die unsere Welt nie groß genug sein konnte:
Aber
Wie kann nach dem Ende der Fremdherrschaft
Denkmäler und Statuen eines Massenmörders aufstellen?

2

bene dicti+

„Die deutsche Bürokratie konnte sich auf Präzedenzfälle stützen, verfügte über eine Richtschnur; die deutschen Bürokraten konnten aus einem gewaltigen Reservoir administrativer Erfahrungen schöpfen, das Kirche und Staat in fünfzehnhundertjähriger Vernichtungsarbeit angefüllt hatten.“

R. Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, übers. v. C. Seeger u.a., 13. Aufl., Frankfurt am Main 2017, 16.

3

Lenins sog.
Politisches Testament.

Guten Morgen, Herr Stalin. Wie geht es Ihnen?
Oh tut mir leid.
Ach so, gestern nur Hundertausende vertrieben
Oder zwangsumgesiedelt.
Nein, Herr Hitler hat immer noch mehr umgebracht …
Sie würden sich aber Mühe geben?
Die Lager funktionieren nicht so gut, wie
Sie sich das wünschen?
Ihre politischen Gegner? Natürlich kamen die
Schauprozesse im Fernsehen. Gute Inszenierung übrigens.
Sie sind in Eile? Ah, klar, noch die Exekutionslisten schnell
Unterschreiben, bevor’s zur Familienfeier geht …
Vielen Dank für das Gespräch. [Applaus]

Pause

Ich darf unseren nächsten Gast begrüßen:
Guten Morgen, Herr Putin … [Applaus] usw.

4

Herodes Friedensfürst

Der Kindermörder,
Heißt es,
Plane während
Des Weihnachtsfestes seiner Kirche
Waffenstillstand. An
Was … denkt er
Beim Anblick der Krippe?

(Nach „Was“ können Sie, liebe Leserinnen und Leser, z.B. einfügen: Demütigen, Drohnen, Atombomben, Panzer, Vertreibung, Kinder verschleppen, Millionen selbstherrlich für wertlos erklären, politische Selbsterhaltung um jeden Preis usw.)

PS: Gott bleibt nichts anderes zu tun, als mit den Kleinesten der Kleinen zu fliehen. Wie immer.

Imago II

5

Du mein verrücktes, chaotisches,
Bücherregal,
So voller Wunder, Entsetzen und Abenteuer,
Von Verheißungen, von Verlangen voll,
Bitte verlass mich nie!

6

Mich hat zufällig
Ein verletzlicher Film entdeckt –
Mit der komplexen Isabelle Huppert:

Gott ist,
Ist schön,

Ist zart,
… hart.

Wie steinerne
Lilien oder Licht,
Aus Schatten gemeißelt.
Und Gnade.
Weil selbst
So zerbrechlich.                         

7

Ges(ch)icht(en)

In diesem Spiegel
Sehe ich uns beide ein
Gemeinsames Leben leben,
Und du sahst uns, aber
In jenem Spiegel, wie wir
Getrennte Leben lebten,
Ich sagte damals Adieu, und du
Ja ich will, damals, in einer fernen Zukunft,
In diesem Spiegel hier bin ich schon tot,
Und du spielst morgen dort mit deinen Kindern,
Jetzt tut es so weh, dass wir uns
Nie mehr sehen werden,
Doch schau, hier ein Spiegel,
Der zeigt,
Wie wir uns leidenschaftlich lieben,
In meinem Spiegel dort
Sah ich dein Gesicht,
Meines du in deinem.
Aus diesem Spiegel
Muss ich mich ganz
Herausnehmen, damit du
Ganz werden kannst.
Bei jenem Spiegel,
Lange bin ich schon woanders, da
Lerne ich dich erst kennen. Deine
Augen, Lippen, lachend-weinend,
Glücklich-verletzlich, sagen
Bei unserem ersten
Kuss: Schön, dich wiederzusehen.
Morgens in der U-Bahn liest du
Shakespeare, als ich gerade zu hause
Einen „Sommernachtstraum“ in der
Hand halte, tausend Kilometer von
Dir entfernt und tausend Jahre.
Alles unser: All unsere Geschichten
Gleichzeitig und doch erst im Werden.

Wir wissen, wie Welt sein könnte,
Ahnen es zumindest,
Doch unsere Sprache versagt, jämmerlich:
Blöde Diagramme hier,
Dort bescheuerte Metaphern,
Klar, besser als nichts.
Küsschen, dein Spiegel

8

Imaginär leben – real sterben.
Und Einsamkeit, die ist nun bei mir eingezogen.
Und die Welt so groß ein Flachbildschirm.
Und Corona ist doof, hat mir in die Fresse gehauen.
Und ich dachte immer, wenn man Masken aufsetzt, soll etwas
Verborgen werden; wir verdrängen dagegen,
Indem wir Masken absetzen.
Und musste mir diese Woche im Interview anhören,
Autobahnen hätten nichts mit Klimawandel zu tun.
Vermutlich muss man die nur mit i multiplizieren.
Und bin ich froh, dass die Klimakrise gerade auf einem
Anderen Planeten passiert, vielleicht Mars?, sonst
Hätten wir echt ein Problem. Also, Masken runter.

9

Lukrez

Auch wenn die Götter fern und gleichgültig
Dort hausen, gibt es zwei, die hier schmausen.
Und schmusen: Venus und Mars. Reichhaltig
Erntet hier der eine, dies liegt offen vor unser
Aller Augen, was die andere gesäet. Doch
Unzählige Welten, un Gestalten trennbar,
Un Wesen lösbar. Ich sag’s immer wieder,
Nix, nichts, in keiner Weise sollte
Der Tod, ein mieser Wicht,
Uns schrecken noch abergläubische
Religionen, die in ihre eigene Tasche wirtschaften.
Angst als Geschäftsmodell. Sei zu dir
Ehrlich, halte dich und deine Fragen aus.
Doch in einem der nie zählbaren Universen
Wird es nur Venus geben – Mars dagegen: ein
Böser Traum, den das Frühlingslicht verscheucht,
Wenn die Grazien und Rosen neu erblühen,
Und ich erkenne, wie wenn ein Blitz
Das dunkle Alles erstrahlend, welches er dennoch
Nie je zu durchqueren vermag, dass dort,
Ja dort der Welten Wesen nicht
Kleine, unteilbare, ständig sausende
Und zufällig zusammenstoßende
Kügelchen, sondern Beziehung ist: wie
Wellen verweben wir in uns einander
Ineinander uns aus uns um uns ineins

Markus Pohlmeyer, Dichter und Essayist, lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte und Gedichte bei uns hier.

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