Eine Polizistin erzählt
Lana Atakisieva kam mit fünfzehn gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Aserbaidschan nach Deutschland. Heute ist sie Polizeioberkommissarin und fährt Streife in Berlin-Neukölln. In ihrem Buch erzählt sie von ihrer Lebens- und Familiengeschichte, aber auch was Polizeiarbeit bedeutet, wie der Alltag auf Streife aussieht und was es heißt, als eingewanderte Frau in Deutschland Fuß zu fassen. Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Lana Atakisieva: Nachtschicht in Neukölln. Eine Polizistin erzählt. Hanserblau, Berlin 2021. 240 Seiten, Paperback, 18 Euro.
Kapitel 13: Eine heimliche Katastrophe
Heute Nacht habe ich Innendienst. Ich sitze auf der Wache und bin für die Bürgerinnen und Bürger zuständig, die mit ihren Anliegen zu uns kommen. Am Ende der Schicht sorge ich dafür, dass die Küche sowie die anderen Räume sauber an die Folgeschicht übergeben werden können. Ich bin gerade damit fertig, das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine zu räumen, und hän- ge einen frischen Müllsack in den fahrbaren Abfallbehälter, mit dem ich nachher durch die Räume rollen werde.
»Und dafür hast du drei Jahre studiert«, sagt Karsten, zeigt auf den blauen Sack und grinst. Ich muss lachen.
»Das ist das Highlight meiner Nachtschicht«, antworte ich. Eine schrille Stimme unterbricht uns. »Hör auf zu heulen!« Es klingt laut und sehr ärgerlich. Ich bin neugierig, was dort vor sich geht, und lasse den Abfallbehälter stehen, gehe den Flur entlang Richtung Eingang und entdecke die Quelle der ärgerlichen Schimpfkanonade. Eine Frau mittleren Alters, sie hat ein junges Mädchen im Schlepptau, das verweint aussieht. Mutter und Tochter, tippe ich. Es könnte sich hier um ein sensibles Thema handeln.
Ich gebe den Kollegen Bescheid, dass ich mich um die beiden kümmere. Die ältere der beiden Frauen erklärt mir, dass die jüngere, die sie eben so lautstark ausgeschimpft hat, ihre zwanzigjährige Tochter sei, und es würde um einen Mann gehen, mit dem sie zusammen sei, und zwar heimlich, was für eine Katastrophe!
»Hättest du auf mich gehört, wäre das alles nicht so weit gekommen!«, schimpft sie mit einem Seitenblick auf die junge Frau. Ich wende mich der Tochter zu. »Was ist denn passiert?« Sie schluchzt laut auf, woraufhin die Mutter sie derb anschnauzt. »Warum weinst du?«, versuche ich es noch einmal. Die Tochter schüttelt stumm den Kopf und ich warte geduldig ab. Ich vermute, dass sie muslimischen Glaubens ist, da sie ein Kopftuch trägt. Die junge Frau sieht mich an. »Kann ich alleine mit Ihnen reden?«, fragt sie leise. »Sicher«, antworte ich, wende mich der Mutter zu, die ärgerlich die Schultern zuckt, und zeige der Frau, wo sie auf ihre Tochter warten kann.
»Er hat mich geschlagen«, sagt die junge Frau, als wir die Tür des Schreibraumes hinter uns geschlossen haben. »Ich will ihn anzeigen.«
Ich nicke und werde eine Anzeige aufnehmen. »Erzähl erstmal von Anfang an«, bitte ich sie. »Wer ist er?«
»Er heißt Murat.« Sie zögert kurz. »Erzählen Sie meiner Mutter, was ich hier sage?«
Ich schüttele den Kopf. Sie nickt beruhigt.
»Wir sind zusammen. Seit zwei Jahren. Aber heimlich. Und heute hat er mich ins Gesicht geschlagen, einfach so, weil er meinte, ich treffe mich hinter seinem Rücken mit anderen Männern.« Sie schluchzt. »Deswegen habe ich es meiner Mutter gesagt.«
»Ist es vorher schon mal vorgekommen, dass er gewalttätig geworden ist?«, frage ich.
»Nein«, antwortet sie zögernd. »Er hat mich nur angeschrien. Er ist furchtbar eifersüchtig und hat mich immer kontrolliert.«
»Wie hat er dich kontrolliert?«, frage ich zurück.
»Er hat immer in mein Handy geschaut. Ich hab’s ihm freiwillig gezeigt, damit er mir vertrauen kann. Er sagte immer, du bist so jung und schön, du bist zwanzig, ich bin schon fünfunddreißig, und ich muss mir sicher sein, dass du nichts mit anderen Männern anfängst. Er meint, wenn er meine Nachrichten lesen würde, dann könnte er ja sehen, dass es keinen anderen gibt.«
Ich gebe den Namen des Mannes in den Computer ein. Das System spuckt Informationen aus, ich überfliege sie und Zeile für Zeile wird mir klarer, dass der Mann eine wirkliche Gefahr für das Mädchen darstellen könnte. Offenbar hat er sie bezüglich seines Alters angelogen, er ist nicht fünfunddreißig, sondern dreiundvierzig. Mehrere Frauen haben Anzeige gegen ihn erstattet. Wegen häuslicher Gewalt, wegen Nachstellung. Ich fürchte, dass das Mädchen nichts davon ahnt. Allerdings darf ich ihr nichts verraten, so sind die Vorschriften, deswegen bleibt mir nur, an ihren Verstand zu appellieren.
»Hör zu«, sage ich und schaue sie eindringlich an. »Sei bitte vorsichtig. Entferne dich von ihm, am besten blockierst du alle Möglichkeiten, wie er dich kontaktieren kann. Wenn du meinen Rat willst: Brich den Kontakt ab. Wenn er erfährt, dass du eine Anzeige erstattet hast, wird er sicher nicht erfreut darüber sein.«
Sie schaut mich zweifelnd an. »Aber er sagt, er liebt mich wie keine andere.«
»Das mag sein«, antworte ich. »Doch er wurde dir gegenüber handgreiflich, du darfst diese Gewalt nicht tolerieren.«
Sie schüttelt den Kopf. »So schlimm ist er nicht.«
»Willst du wirklich weiterhin mit einem Mann zusammen sein, der dich geschlagen hat? Du bist jung und hast dein ganzes Leben vor dir!« Ich klinge womöglich wie ihre große Schwester, aber vielleicht erreiche ich sie mit meinen Worten. »Du wirst einen anderen Mann kennenlernen, der dich respektieren wird!«
»Eigentlich kümmert er sich um mich«, verteidigt sie ihren Freund. »Er hat mir schon ein paarmal Geld gegeben. Und er behandelt mich wie eine erwachsene Frau. Meine Mutter will immer nur, dass ich wie ein kleines Mädchen zu Hause bleibe. Sie verbietet mir alles!«
Ich verstehe, was in ihr vorgeht. Die Enge daheim. Die strenge Mutter. Der Mann, der sie verwöhnt und ein Ausweg zu sein scheint, dessen Kontrolle sie akzeptiert, weil er ihr vorgaukelt, sie sei seine große Liebe. Dabei hat sie keine Ahnung, an wen sie geraten ist, und ich befürchte, dass sie sich wieder auf ihn einlassen wird, sobald die Wut verraucht ist. Sie ist jung, hoffnungsvoll und auf eine normale Art naiv, aber genau das bringt sie in Gefahr. Die Zwanzigjährige erinnert mich an meine Schwester, an ihren trotzigen Glauben an die große Liebe, der umso stärker wurde, je strenger Mama war, und ich fürchte, dass ich mit meinen Warnungen bei ihr nichts erreichen werde. Ich entscheide mich, mit der Mutter der jungen Frau reden.
»Ich verstehe Ihren Ärger«, beginne ich. »Aber darf ich Ihnen dazu etwas sagen? Ihre Tochter ist verliebt in diesen Mann. Sie wird es ihm vermutlich verzeihen, dass er sie geschlagen hat. In ihren Augen ist er nett, und Sie sind die Böse. Je strenger Sie sind, umso mehr treiben Sie Ihre Tochter zu ihm.«
Die Mutter sieht mich betroffen an und denkt kurz nach.
»Aber ich sorge mich um sie. Warum lässt Gott das zu?« Sie schüttelt den Kopf und ihr steigen Tränen in die Augen.
»Mein Mann hat mich jahrelang geschlagen. Ich selbst habe nie den Mut gehabt, Anzeige zu erstatten. Aber jetzt komme ich mit meiner Tochter, weil ich nicht will, dass es ihr so geht wie mir. Dass sie das alles erträgt…« Sie schlägt verzweifelt die Hände vor das Gesicht.
Ich reiche ihr ein Taschentuch, dann setze ich mich neben die Frau und erzähle ihr in ein paar kurzen Sätzen aus meinem Leben. Von meinen Eltern, die mir alles verboten haben, was eine junge Frau gern tut. Die so streng waren, dass sie mich damit in die Arme eines Mannes getrieben haben, den ich sonst vielleicht ein paar Mal getroffen hätte, mit dem ich mich aber niemals auf eine ernsthafte Beziehung eingelassen hätte, wäre da nicht das Gefühl gewesen, nur so der elterlichen Strenge entkommen zu können.
Die Frau hört mir aufmerksam zu. Dann nickt sie nachdenklich. »Kann ich zu meiner Tochter?«, fragt sie schließlich.
»Natürlich«, sage ich, stehe auf und gehe voraus. Als wir in den Nebenraum kommen, wo meine Kollegin Isabel auf sie geachtet hat, schaut die junge Frau ängstlich auf, aber ihr Gesicht entspannt sich sofort, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sieht.
»Meine Tochter«, sagt die Frau. Sämtlicher Ärger ist aus ihrer Stimme gewichen und sie schließt das Mädchen fest in die Arme. Nach einigen Sekunden löst sich die Tochter aus der mütterlichen Umarmung und schaut uns fragend an.
»Wird er mitbekommen, dass ich ihn angezeigt habe?« »Ja, sicher.« »Gut so. Ich bin so wütend. Er soll kapieren, dass er mich nicht schlagen darf.« »Geht es dir darum, ihm eins auszuwischen?«, frage ich. »Es ist doch wichtiger, wie es mit dir weitergeht. Du bist erst zwanzig, du hast noch so viel vor dir. Du kannst entscheiden, was du aus deinem Leben machst. Ich kann dir wirklich nur raten, den Kontakt zu diesem Mann abzubrechen.«
Verunsichert schlägt sie die Augen nieder und malt mit der Fingerspitze Kreise auf die Tischplatte.
»Ich will doch bloß, dass er es nicht wieder tut«, flüstert sie. Ich sehe ihr an, dass sie glauben möchte, der Schlag sei nur ein Ausrutscher gewesen, eine einmalige Angelegenheit, die ihr Liebhaber bereuen würde.
Wieder muss ich an die Zeit mit Mauricio denken, an alles, was ich ertragen habe, weil ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Auch die junge Frau scheint noch nicht bereit, ihre Beziehung zu beenden. Ich hoffe, dass ihre Mutter ihr von nun an beistehen wird, statt sie zu verurteilen. Ich wünsche, dass dieses Mädchen es schafft, sich von dem Mann zu trennen, mit dem es keine Zukunft gibt, und ihren eigenen Weg geht.