Geschrieben am 19. März 2011 von für Crimemag

Kurzgeschichte: Spion der Nacht

Die „Diez Negritos“ machen Pause. Wir nicht. Wir machen weiter mit Texten und freuen uns, Ihnen heute eine exklusive Kurzgeschichte von Guido Rohm vorstellen zu dürfen.

Spion der Nacht

Ich presse meine Nase an die Scheibe. Ich kann ihn sehen. Er schlendert vor dem Schaufenster auf und ab. Er heuchelt Interesse für die völlig überteuerten Weine, die der Händler von gegenüber auf samtbezogenen Röhren präsentiert. Sie trinken keinen Wein. Dafür haben sie keine Zeit. Sie sind seit Jahren hinter mir her. Ich kann ihren Atem spüren. Kann in den Nächten ihr Keuchen hören. Sie sind mir dicht auf den Fersen. Aber bisher konnte ich ihnen stets entkommen.

Marie ist noch nicht zu Hause. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise kann ich mich auf sie verlassen.

Jetzt dreht er sich um. Ich mache einen Satz zur Seite. Drücke mich an die Wand. Der Beweis. Das ist der Beweis. Er hat sich verraten. Er hat zu mir hinaufgeblickt.

Ich halte die Luft an. Nach einigen Sekunden wage ich es, den Vorhang anzuheben. Er steht noch immer da.

Ich könnte lachen. Sie haben ihn als Mann von der Straße verkleidet. Schnauzbart. Sogar einen Hut haben sie ihm verpasst. So etwas trägt heute niemand mehr. Sein Mantel ist fleckig. Selbst die Flecken gehören zu seiner Verkleidung. Sie haben die Flecken dort angebracht, damit man ihn für einen nervösen oder nachlässigen Menschen hält.

In diesem Augenblick taucht Marie auf. Meine Nerven liegen blank. Ich möchte das Fenster aufreißen.

Rufen: Nicht, Marie, geh fort. Sie werden dich töten.

Sie haben alle getötet, die sich um mich kümmerten. Eva. Tot. Marion. Tot. Und mir blieb jedes Mal nur die Flucht, weil sie es so geschickt einfädelten, dass die Polizei mich für den Mörder gehalten hätte.

Marie spricht mit ihm. Das ist ihr Todesurteil. Hat er sie angesprochen? Ich bin mir nicht sicher. Ich schwitze. Grüble. Ich kann Marie doch vertrauen?

Ich werde von hier verschwinden müssen.

Ich habe Marie vor einigen Wochen in einer Kneipe kennengelernt. Sie sah aus wie eine der Unschuldigen. Es gibt sie noch. Ich weiß es. Ich tischte ihr allerhand Lügen auf. Das musste sein. Ich bin dafür ausgebildet worden. Ich bin ein Spion. Sie haben mich hier eingeschleust, damit ich Informationen über den Feind sammle.

Ich notiere alles. Meine Gedanken, meine Empfindungen. Sie wollen das so.

Sagten: Jedes noch so kleine Detail kann den Krieg entscheiden.

Ich stürme in die Küche. Reiße die Schublade mit den Messern auf. Ich greife nach dem langen Brotmesser. Das sieht besonders gefährlich aus.

Ich bin zurück am Fenster. Der Mann ist verschwunden. Marie ist verschwunden. Ich muss hier fort.

Muss hier fort!

Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Marie kündigt sich mit einem fast gesungenen Hallo an. Ich erwidere nichts. Überlege. Wenn sie zu denen gehört, dann muss ich sie töten. Ich verstecke das Messer hinter meinem Rücken. Marie betritt den Raum.

Sie sagt: Warum stehst du im Dunkeln?

Ich sage nichts. Ich wage es nicht. Sie geht einige Schritte auf mich zu.

Sie sagt: Schatz!

Ich schlucke. Frage sie, warum sie mit ihm gesprochen hat. Sie sieht mich erstaunt an und spielt die Ahnungslose.

Sie sagt: Wen meinst du?

Jetzt weiß ich, dass sie mit denen unter einer Decke steckt. Wieder eine, die mich verraten hat. Ich falle zu oft auf den Feind herein.

Sie macht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich ziehe das Messer hinter meinem Rücken vor. Halte es vor ihren Bauch. Sie stockt. Hört auf zu atmen.

Sie flüstert: Was soll das?

Damit hat sie nicht gerechnet. Ich muss lachen. Ich weiß nicht, warum ich in diesem Moment lache, aber ich lache. Ich muss sonderbar aussehen, lachend und mit einem Brotmesser in der Hand.

Sie sagt: Leg das Messer weg.

Ich schüttele den Kopf. Nein, das könne ich nicht tun, erkläre ich Marie. Sie wisse genau, warum.

Ich verlange Aufklärung von ihr. Ich bin mir inzwischen sicher, dass sie mich damals in der Kneipe ansprach. Wahrscheinlich hat sie mich seit Wochen mit entsprechenden Tabletten bearbeitet. Sie hat meine Erinnerung verändert. Sie können alles. Sie können in deinen Kopf eindringen und dich völlig umdrehen. Ich bin einer ihrer zähsten Gegner. Natürlich geben sie nicht auf. Ich bin eine Gefahr für sie.

Meine Lippen sind trocken. Ich bin kaum in der Lage, zu sprechen. Durst, Durst, dieser nie enden wollende Durst.

Sie sagt: Lass uns in die Küche gehen. Wir trinken etwas und reden über alles.

Ich ziehe den Arm nach hinten. Sie muss sterben. Sie weiß es und ich weiß es. Sie kann mir nicht entkommen. Die sind mit allen Wassern gewaschen. Erneut befällt mich dieser furchtbare Durst. Ich werde ihn stillen müssen. Ich trete vor und ramme ihr das Messer in den Leib. Das verlangt einen enormen Kraftaufwand. Ich muss drücken und schieben. Sie sieht mich erstaunt an. Selbst im Tod spielen sie ihre Rollen perfekt weiter. Es ist furchtbar.

Ich lasse das Messer stecken. Sie sackt zusammen. Die Luft entweicht aus ihr wie aus einem Reifen. Ich höre zu, lausche auf das entschwindende Leben. Ich habe eine Feindin weniger. Ich muss etwas trinken. Dann werde ich meine Sachen packen und verschwinden.

Ich lasse Marie liegen und mache einen großen Schritt über sie hinweg. Sie röchelt. Ich bleibe stehen. Beuge mich zu ihr hinunter.

Ich sage: Damit hast du nicht gerechnet. Nein, damit nicht.

Ich lächele sie an. Ihre Augen sind glasig und starr. Ich habe diesen Blick schon oft gesehen. Ich bin zum Töten trainiert worden. Ich bin ein Spion. Einer der besten Spione. Das darf man nie vergessen. Ich vergesse es nie. Wie sollte ich es je vergessen? Ich stecke in mir drin. Ich kann mir nicht entkommen.

Ich gehe in die Küche. Greife nach der Mineralwasserflasche. Ich halte inne.

Denk nach, sage ich zu mir selbst. Denk nach!

Das Wasser ist wahrscheinlich mit Drogen versetzt. Sie werden an alles gedacht haben. Die Zunge klebt mir am Gaumen. Ich darf nicht von dem Wasser trinken.

Ich hebe den Kopf. Marie röchelt noch immer.

Ein besonders zähes Exemplar, denke ich und gehe zu ihr zurück. Ich lege meine Hand über ihren Mund und ihre Nase. Maries Körper vibriert. Stärker. Sie schüttelt sich.

Ich flüstere: Ja, schüttel alles aus dir raus.

Sie ist ein braves Mädchen. Sie gehorcht der Anweisung meiner Handfläche. Sie stirbt. Endlich!

Ich gehe in die Küche zurück, weil das Problem mit meinem Durst noch nicht gelöst ist. Ich sehe mich um. Ich müsste verschwinden. Vermutlich sind hier überall Kameras installiert. Sie lassen diese Wohnung sicher nicht unbeobachtet.

Also beschleunige ich meine Schritte, ich gehe ins Schlafzimmer, denn dort hängt mein Trenchcoat im Schrank. Ich trage ihn seit vielen Jahren. Man hatte ihn mir zum Ende meiner Ausbildung geschenkt. Ich schlage den Kragen hoch, überprüfe meine Gesichtszüge. Ich zeige keine Anspannung. Das ist gut. Wenn es darauf ankommt, dann bin ich eine Maschine. Ich funktioniere. Hier geht es um das pure und reine Überleben. Ich überlege kurz. Habe ich alles? Ja! Denn ich besaß nichts außer dem Mantel. Die Sachen, die Marie für mich gekauft hat, lasse ich hier. Ich kann sie auf meiner Flucht nicht gebrauchen. Ich muss schnell sein.

Ich trete an die Haustür. Horche. Da sind Stimmen. Ich spähe durch den Spion. Das gefällt mir. Spion benutzt Spion. Ich kann mir ein weiteres Lächeln nicht verkneifen.

Vor der Tür unterhält sich die Putzfrau mit einem jungen Mann. Ich beobachte die Putzfrau schon länger. Sie ist mir sofort aufgefallen. Der Kittel. Das ist zu gut. Sie soll wie ein Original wirken. Und genau damit haben sie einen weiteren Fehler begangen. Sie machen andauernd Fehler. Deshalb lebe ich noch. Nur deshalb.

Durch die Tür komme ich nicht raus. Was soll ich tun?

Ich sehe zu Marie hin. Dann habe ich den rettenden Einfall. Ich ziehe mich schnell aus. Danach entkleide ich Marie. Ich tausche unsere Kleidung. Sie hat in etwa meine Größe. Fast. Ich muss ziemlich pressen und zerren. Schließlich stehe ich in ihren Kleidern vor dem Spiegel. Ich bin irritiert. Jetzt noch eine Perücke. Niemand würde den Unterschied erkennen.

Eine Mütze! Eine Wintermütze. Ganz hinten im Schrank finde ich eine. Ich streife mir die Mütze über und weiche entsetzt vom Spiegel zurück. Ich bin zu Marie geworden. Das ist eindeutig. Ich kann es selbst kaum fassen. Der Durst ist wieder da. Ich muss sofort etwas trinken, denn sonst …

Ich renne in die Küche und drehe den Wasserhahn auf. Ich muss das Risiko eingehen. Ich trinke hastig einige Schlucke. Wische mir mit dem Handrücken über den Mund.

Ich bin bereit. Ich trete an die Tür. Es ist nichts mehr zu hören. Sie sind wahrscheinlich unten. Sie werden schon auf mich warten. Aber ich bin klüger. Ich trickse sie aus. Ich bin ein Spion. Mich bekommen sie nicht.

Ich öffne die Tür. Mache einen Schritt nach draußen. Alles ruhig. Vorsichtig steige ich die Treppenstufen nach unten. Alles geht gut. Was sollte auch geschehen? Ich bin Marie. Ich bin doch nur Marie, die einen Spaziergang macht.

Ich öffne langsam die Haustür. Die Nachtkühle schlägt mir ins Gesicht. Ich zucke zurück. Nein! Es gibt kein Zurück.

Ich trete auf die Straße. Blicke nach links, nach rechts. Niemand zu sehen. Sie fallen auf meine Verkleidung herein. Ich laufe dicht an den Schaufenstern entlang.

Wohin, denke ich, wohin soll ich gehen?

Und dann denke ich: Ist das nicht egal?

Also laufe ich einfach drauflos, lasse mich von meinem Instinkt leiten. Ich komme an einer Gruppe Jugendlicher vorüber. Sie sehen mich und fangen an zu lachen. Sie zeigen mit den Fingern auf mich. Ich kann das nicht verstehen. So hässlich ist Marie nicht. Ich bin Marie. Daran kann es keine Zweifel geben.

Ich trete aus dem grellen Licht eines Geschäftes in den Schatten einer spärlich beleuchteten Seitenstraße. Ich atme tief durch.

Ich bin auf der Flucht. Das darf ich nie vergessen. Ich bin ein Spion in der Nacht.

Ich werde überleben. Nacht für Nacht. Und Tag für Tag. Sie werden mich nicht kriegen. Niemals!

Ich schiebe mich an einer Hauswand entlang. Ich spüre, wie ich mit dem Mauerwerk verschmelze, ja, wenn überhaupt nichts mehr hilft, dann kann ich unsichtbar werden. Ich kann so vieles, von dem sie nichts ahnen.

Ich kichere und schreite in die Nacht davon.

Guido Rohm wurde 1970 in Fulda geboren, wo er heute auch lebt und arbeitet. Er schreibt u.a. für verschiedene Onlinemagazine. Sein Debüt, der Kurzgeschichtenband „Keine Spuren“, erschien 2009 im Seeling-Verlag (Frankfurt). Der deutsch-französische Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt schrieb das Vorwort zu „Keine Spuren“. Sein erster Roman „Blut ist ein Fluss“ erschien im Frühjahr 2010 ebenfalls im Seeling-Verlag. Seine jüngste Veröffentlichung, die Erzählung „Eine kurze Geschichte der Brandstifterei“, wurde im Textem-Verlag (Hamburg) veröffentlicht. 2011 werden der Roman „Blutschneise“ (Seeling-Verlag) und der Kurzgeschichtenband „Die Sorgen der Killer“ (Kulturmaschinen) erscheinen. Bei den Kulturmaschinen erscheint im Frühjahr 2012 außerdem der Roman „Schmutzige Hunde“.

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