Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Kunst muss weh tun bis zum Schmerz

Alf Mayer über „Alles, was zu ihr gehört“ von Sara Sligar

Schade, dass der Originaltitel nicht übernommen worden ist. Ein literarisch weniger anspruchsvoller Verlag als hanserblau hätte vielleicht nicht gezögert, es bei dem heftigen „Take Me Apart“ zu belassen, was soviel wie Nimm mich auseinander/ Zerlege mich bedeutet. „Alles, was zu ihr gehört“, der deutsche Titel, ist feinsinniger – und er ist tatsächlich besser. Das in mehrerer Hinsicht.
Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, alle guten Romane sind Kriminalromane, sie kreisen um ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Das Rätsel in Sara Sligars Debütroman ist das Geheimnis, das zwei Frauen umgibt: das der Erzählerin, der jungen Archivarin Kate Aiken, und das der berühmten Fotografin Miranda Brand, deren Nachlass sie ordnen soll. Es sind zwei mit einander korrespondierende Geschichten, die sich Schicht um Schicht enthüllen. Sie haben mit der Gewalt zwischen Männern und Frauen zu tun und mit dem Leiden, das die Kunst befeuert, die Menschen zerstört und, so ist das im kapitalistischen System, gleichzeitig den Preis der Kunstwerke gewaltig nach oben treibt.  „Kunstschaffende sind die einzigen Menschen“, heißt es einmal trocken, „die tot mehr wert sind.“ Eingeleitet wird das Buch mit einem (fiktiven) Tagebucheintrag der toten Künstlerin Miranda Brand: 

„Fotografieren ist ein Akt der Gewalt. Wenn wir einen Menschen mit der Kamera einfangen, reißen wir ihn aus Raum und Zeit und bannen ihn auf ein Stück Fotopapier, um ihn für die Ewigkeit festzuhalten. Man muss sich dieser Gewalt bewusst sein. Sich an ihr erfreuen. Ich glaube, deshalb mache ich so viele Selbstporträts. Denn der Mensch, den zu verletzen mir am leichtesten fällt, war immer schon ich selbst.“

Dieses heftige Zitat setzt, was Alexander Kluge den „Kammerton A“ nennen würde: den Grundton des Buches. Anders als in einer Gothic Novel begegnen wir hier aber dem Schrecken nicht im Dunkel und im Grau, sondern am hellen Tag im gleißenden Sonnenlicht Kaliforniens. Der kleine Ort Callinas in Marin County, wo man „desto mehr als Einheimischer gilt, je mehr man sich über Touristen beschwert“ ist fiktiv, liegt aber nur knapp neben dem realen Bolinas. Das Licht dort ist spektakulär, die Fahrt dorthin habe ich nie vergessen. „Alles, was zu ihr gehört“ gilt vermutlich als „psychologischer Thriller“, es ist aber auch ein Noir bester Güte, ein Künstlerroman dazu, eine erotische Romanze, und klar ein Buch, Ende April 2020 im renommierten US-Verlag Farar Straus and Giroux (FSG) erschienen, auf der Höhe der #metoo-Debatte.

Ich war am Anfang skeptisch, ich bin die Parallelmontagen ziemlich leid mit stocherndem Erzähler(in) in der Gegenwart und mehr und mehr Enthülltem aus der Vergangenheit, das sich alles irgendwann im Endlichen trifft, womit dann meist auch gut ist. Sara Sligar aber meistert die ausgetretenen Erzählpfade bravourös, sie weiß nicht nur etwas über die Kunst und deren Schattenreiche – „was ist das richtige Maß an Verrücktheit?“, fragt sich eine ihrer Protagonistinnen einmal, die andere, „Wie spricht man mit Menschen, die immer Herrin über den eigenen Verstand waren?“ ­ –, sondern auch über die Macht des Ungesagten, über den Sog und Strudel zwischen den Zeilen. Hier ist sie meisterlich. Und meisterlich ökonomisch noch dazu. Ich kann mich nicht erinnern, Tagebuchauszüge, Briefe und Akten auf eine solch pointierte Weise eingesetzt erlebt zu haben. Auf der Skalpell-Spitze balanciert. Dies ist eines der Bücher , die Elmore Leonards Rat befolgt haben, alle unnötigen Wörter zu vermeiden. Ulrike Brauns Übersetzung ins Deutsche halte ich für mustergültig. Bravo!

Sara Sligar © Abbey Mackay

Stilistisch und im narrativen Drive schreibt Sara Sligar weit über dem Durchschnitt, ihr Buch hat begeisternde Passagen, viele schmerzhafte Einsichten und Nachhall. All die Kunstfertigkeit aber ist nie ausgestellt. Diese Lektüre simmert lange nach. Dies ist ein Buch, das man wieder lesen werden will. Dies ist ein Buch, das neben den Klassikern Bestand hat. Diese Autorin lohnt es im Blick zu halten.

Hier ein kleiner Eindruck aus der Anfangspassage. Wie in einem Film von Samuel Fuller sind wir schon mit dem ersten Satz bei der Hauptfigur und in der Aktion. Wie in „Avatar“ folgen wir vom ersten Moment einer Figur, durch deren Augen wir eine neue, fremde Welt betreten und uns dort zurechtzufinden haben. Wir sind in einem Flugzeug über Kalifornien, das an Höhe verliert. Es ist im Landeanflug, wird von einer Böe gestreift und gerade, als sich das ganze Panorama der Bucht von San Francisco eröffnet, kurz durchgeschüttelt. Flugangst kommt auf, Kate klammert sich an die Armlehne. Diesem Motiv, bei dem, was man sieht oder sehen könnte, einer Irritation zu begegnen, werden wir noch öfter begegnen. Der Dialog mit dem Sitznachbarn zurrt einige erste Angaben zur Person fest, Kate bereut aber schnell, eine Unterhaltung angefangen zu haben. Als das Fahrwerk ausgefahren wird, in Frisco ist das über dem Meer, stellt Kate sich vor, wie ein Flugzeugabsturz wäre. Wie die Wellen über ihr zusammenschlagen. Da sind wir am Ende von Seite 3.
Dann Gepäckausgabe. Die Koffer umkreisen die müden Fluggäste wie Alligatoren. Kates Tasche taucht nicht auf, wird ziemlich als letzte ausgespuckt. Tante Louise holt sie ab. Die Wörter sprudeln ihr wie aus einem geplatzten Feuerhydranten. Es geht über die Golden Gate Bridge ins Marin County. „Hier oben war das Licht dicht und satt, viel goldener als unten am Flughafen. Die Leute zahlten viel Geld, um in diesem Licht zu leben.“ Ein paar weitere biografische Details, Eindrücke aus einem ziemlichen Chaos, dann liegt plötzlich das Meer vor ihnen „wie eine blaue Decke, die man straff über die felsige Oberfläche des Planeten gespannt hatte“. Kate ist da, in ihrer neuen Welt.
Als sie an New York zurückdenkt ist da auch die Erinnerung an einen Moment vor ihrer Abreise, von einer kleinen Party, bei der sie am Fenster stand und sich plötzlich dort unten auf dem Asphalt sieht, „die Gliedmaßen in unnatürlichen Winkeln vom Körper abgespreizt. Blut, das ihr aus der Nase lief. Die Vorstellung war so klar und deutlich, als würde sie ein übersättigtes Foto betrachten, alles war so scharf, dass es einem Befehl gleichkam. Spring!

Das US-Cover

Wir sind auf Seite Elf. 

Dann begegnen wir zum ersten Mal Miranda. Ein Briefwechsel mit ihrem Agenten. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind? Oder ob ich das alles inszeniert habe? … Dein Goldesel Miranda.“  Dann ist Kate dort, wo wir das Buch über mit ihr sein werden: „Das Haus, in dem Miranda Brand gelebt hatte und gestorben war, wirkte unscheinbar. Es saß auf dem Hügel wie ein Klecks Mayonnaise auf der Glatze eines hart gekochten Eis. Der Anstrich war vielleicht einmal schön gewesen, doch die unerbittliche Meeresbrise hatte ihn zu einem stumpfen Grau reduziert, der gleichen Farbe, die der Himmel in diesem Moment hatte, sodass man nicht sagen konnte, wo der Nebel endete und das Haus begann.“

Kate steht im Garten, begegnet ihrem Auftraggeber, dem Sohn der toten Künstlerin. Theo Brand, alleinerziehend, zwei Kinder.  Es ist eine kühle Begegnung, fast schroff und alles andere als ein herzliches Willkommen. Es geht um einen Job. Nicht mehr. (Aber natürlich doch, um viel viel mehr …) Ob sie wieder gehen solle, fragt sie. Natürlich nicht, sagt Theo. Und dann: „Sie sollten es noch ein wenig genießen.“ – „Genießen?“ – „Das Erlebnis.“ Er nickte zu ihren Füßen. „Dort ist sie gestorben. Hat sich genau dort erschossen, wo sie stehen.“

Wir sind auf Seite Zwanzig. Von dem, was zu ihr gehört – zu Kate, zu Miranda, zur Kunst, zur gegen alle Gewalt zu verteidigenden Identität – haben wir noch mehr als 400 Seiten.

Alf Mayer

Sara Sligar: Alles was zu ihr gehört (Take Me Apart, 2020). Verlag hanserblau, München 2020. Klappenbroschur, 432 Seiten, 16 Euro.

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