Endgeil
In der Bergwelt lauert Gespenstisches. Martialisch schlägt Material aufeinander. Verzückendes ist vonnöten, um dem Turmbau-zu-Babel-Effekt eines Kabinenlifts zu entgehen. Uta-Maria Heim über Judith Kuckarts Die Verdächtige
Aber Wirklichkeit, was sollte das bitte sein? Wirklichkeit gibt es nicht wirklich, hatte Marga einmal gesagt, und auch er, Robert, bekam langsam Zweifel, wer da eigentlich die Drähte zog. War das hier überhaupt noch die Wirklichkeit, oder war er bereits in deren Kulisse gelandet? War Wirklichkeit vielleicht nur eine wacklige Vereinbarung, aus der man herausfliegen konnte, und er, Robert, war längst das Opfer einer Illusionsmaschine voller kalter und warmer Hände, die ihre Inszenierung aufgeben würde, sobald sich das Geisteraufgebot für einen wie ihn nicht mehr lohnte?“
Judith Kuckart Die Verdächtige
No way. Wir werden diesen „grandiosen Roman“, der „so große Literatur“ ist, „dass jeder einzelne Satz Vergnügen bereitet“ nicht in die Krimikiste zerren – auch wenn der enthusiasmierte Klappentext mit dem Krimiverdacht kokettiert. Krimi oder Nichtkrimi, ist doch völlig schnuppe. Hauptsache, es läuft. Angefixt von einer Sprache, in der das Subjekt virtuos das verkehrte Prädikat rammt, bevor es das falsche Objekt vögelt, möchte man ausrufen: Lest dieses endgeile Pamphlet multioptionaler Paralleluniversen! Dies ist das definitive Buch für den Skiurlaub! Lest es also bitte mit angeschnalltem Gerät, am besten mitten auf der schwarzen Piste bei Lawinenstufe 4 auf 2,75 Meter Schnee, im freien Sturzflug gen Tal! Und ihr werdet, in rauschhaftem Tempo, die Sprache wiederfinden.
Anyway. In der Bergwelt lauert Gespenstisches. Martialisch schlägt Material aufeinander. Verzückendes ist vonnöten, um dem Turmbau-zu-Babel-Effekt eines Kabinenlifts zu entgehen. Wo das Moselfränkische gegen Holland krachbombt, schlägt der denkwürdigste von Kuckarts Sätzen ein: „Die Realität wird gemolken.“ Ja, und wie! Stumm und ohne Grüß Gott stapft die Outdoor-Community in die Tiroler Arktis. Undurchdringlich wie Frischmilch liegt überm Hang der Nebel, im Schneesturm fließt der Fettfleck eines Alphavaters. In scharfen Schwüngen jagt Papa den Abgrund hinab, ein Joker für künftige Komapatienten, und seine Spur bildet die Choreografie einer Kleinfamilie. Der Erstgeborene folgt mit dem Schneid des künftigen Afghanistankämpfers, er wird Papa niemals enttäuschen. Auch die Zweitgeborene scheut kein Risiko und rast rotzig in Papas vom großen Bruder geweitete Kurven. Das Nesthäkchen indes rudert schwankend im Schneepflug von der Mutter fort, die blind das sorgsame Schlusslicht bildet. Mama hat allen Helme gekauft, Mama wird jeden Eindringling, der in das Unvermeidliche hinein rast und familiären Totalschaden anrichtet, bis in die Steinzeit und zurück verklagen.
„Die Verdächtige“ steuert unerschrocken dagegen. Freilich umsonst. Was Judith Kuckart mit der Metapher der Geisterbahn beschreibt, wo sich das Sichergeglaubte entzieht, wird im Skivergnügen zur fantastischen Jahrmarktserfahrung: Massenhaft führt die archaische Vorzeigewut patriarchalischer und autoritärer Instinkte zur Vision jener Kälteidiotie, über die Polizist Robert Vorträge hält. Die Illusionsmaschine produziert lauter entblößte Leiber.
Uta-Maria Heim
Judith Kuckart: Die Verdächtige.
Köln: DuMont Buchverlag 2008. 287 Seiten. 19,90 Euro.