Geschrieben am 31. März 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

KOPFSCHUSS N° 7 von Uta-Maria Heim

Sprachlos

Ausgerechnet der verzärtelte Held eines literatur-literarischen Anti-Krimis führt uns an Abgründe, zu denen der Kriminalroman selten vordringt. Uta-Maria Heim über Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten.

„Ich möchte gute, aufstrebende, meinetwegen einfältige Menschen anschauen, um von meiner inneren Überempfindlichkeit loszukommen. Stattdessen erblicke ich diese angeschlagenen Untergeher, die meine Empfindlichkeit nur aufreizen. Manchmal (jetzt gerade wieder) stelle ich mir vor, ich würde an einer plötzlich hereinbrechenden Überempfindlichkeit sogar sterben. Ein Notarzt würde herbeieilen und könnte nur noch meinen Tod feststellen. Als Todesursache würde er in den Totenschein eintragen: Überempfindlichkeit. Auf diese Todesursache wäre ich sogar als Toter noch stolz.“
Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten

Ein Amoklauf macht uns sprachlos. Warum nur, warum? Warum tut einer so was? Wie muss man sich die Psyche eines Amokläufers vorstellen? Die Kriminalliteratur gibt darauf keine überzeugende Antwort, weil ein Amokläufer erst bei seiner Tat dazu wird. Bis dahin ist er ein unauffälliger Einzelgänger, womöglich ein Langweiler, der wenig erlebt, aber dieses Wenige in wahnhafter Weise auf sich selber bezieht. Der spätere Amokläufer erträgt die Ereignislosigkeit seines durchschnittlichen Lebens offenbar nur, indem er allem, was ihm zustößt, eine auf ihn selbst gerichtete Bedeutung verleiht. Die Aktionen der Außenwelt dienen grundsätzlich dazu, ihn zu verletzen. Er wird gemobbt. Ein potenzieller Amokläufer ist notorisch dauergekränkt, chronisch isoliert und absolut wehrlos. Wer da an Kafka denkt, liegt richtig. Allerdings fehlt einem Opfer wie Josef K., der sich am Ende mit einem Fleischermesser erstechen lässt, das nötige Aggressionstalent.

Man muss schon auch austeilen können. Gerhard Warlich, der existenziell beleidigte Ich-Erzähler aus Wilhelm Genazinos kafkaeskem Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten besitzt diese heillose Begabung. Er sehnt sich nach einem Befreiungsschlag, ehe ihn die Gewöhnlichkeit überwältigt. Seine Waffe ist die Beobachtungsgabe, und wenn Blicke töten könnten … Warlichs depressive Scham ist nichts anderes ist als die grenzenlose Wut eines als grandios erlebten Selbst, das sich seines Größenwahns auch noch bewusst ist, weil es seinen Irrtum durchschaut. Und erst durch diese geniale Läuterung gelangt das Ich zu seiner wahrhaftigen Größe. Das ist Dialektik! Einer, der so mit sich wuchert, braucht unablässig Stoff, den er sich einverleiben und ausscheiden kann. Daher giert er nach allem, was sich ihm anbietet – gewöhnlich ohne jedes Einfühlungsvermögen.

Ausgerechnet der verzärtelte Held eines literatur-literarischen Anti-Krimis führt uns an Abgründe, zu denen der Kriminalroman selten vordringt. Gerhard Warlich träumt nicht davon, unschuldige Menschen zu erschießen, ganz im Gegenteil. Er ist nur vollkommen schutzlos seinem irrsinnigen Anspruch ausgesetzt, sich einsam und allein über sämtliche Niederungen zu erheben, und das macht ihn zornig. Darin gleicht er vermutlich dem Amokläufer. In der Verstiegenheit, unsterblich zu sein, lauert die tödliche Verzweiflung. Das ist es vielleicht, was uns sprachlos macht.

Uta-Maria Heim

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten.
München: Hanser 2009. 158 Seiten. 17,90 Euro.