„?“
„Nächste Frage, dachte er.“ Dirk Dobbrow: Späte Störung
„Wie schaffen sie das?
Diejenigen unter ihnen, die noch unentdeckt in Freiheit leben?
Diejenigen unter ihnen, die im Gefängnis sitzen, verurteilt, womöglich für eine andere Tat, nicht den Mord an meinem Freund? Wie halten sie es aus, dieses Schweigen? Wie können sie weiterleben? Als wer?“ Carolin Emcke: Stumme Gewalt
„Schauen, Schauen, Schauen. Und nie das Erstaunen vergessen. Wir sind nicht da, um zu richten. Wir sind da, um zu erzählen. Wir sind nicht da, um Rätsel zu erklären, wir müssen Rätsel erfinden. Die Lösung ist immer irrelevant.“ Friedrich Glauser hat am 2. März 1936 in einem Brief an Martha Ringier sozusagen das Rad erfunden. Es ist die Geburtsstunde der modernen Kriminalliteraturtheorie, aber auch 73 Jahre später erfindet die Avantgarde des Krimirankings sisyphotisch das Rad neu. Yes we can. Titel um Titel wird unermüdlich nach oben geschoben, und auf dem Gipfel strahlt das Geheimnis.
Das Fragezeichen ist – nach dem Strichpunkt, der im Griechischen übrigens als Fragezeichen dient – das poetischste und schützenswerteste aller Satzzeichen. Es ist die Chiffre des sich siegreich Entziehenden, ein Triumph der Unwägbarkeit und eine ewige Absage an das Berliner Bionaden-Biedermeier regionalistischer Prenzlauer-Berg-Epigonen. Nirgendwo werden mehr Antworten hinausgeschleudert als aus den WLAN-verseuchten Experimentierfeldern der Arbeitsnomaden, inklusive Abwrackprämie für sich progressiv links haltende Spießbürger. Egal was, man weiß, wie es geht. Das zutiefst inhaltistische des aufstrebenden Metropolenprekariats lässt kaum noch Löcher. An den Rändern des Abendlands hingegen wird weiter gezweifelt. Man sollte Karl dem Großen, dem Pionier des Fragezeichens, wirklich dankbar sein, dass er den Nachgeborenen mit seiner Schriftreform jene Räume öffnete, die letztlich unbetretbar bleiben.
Das Ungewisse siedelt sich gern an in den entlegenen Landstrichen. In der Hauptstadt hingegen lebt sichs lösungsorientiert, und das Maß der Vergeblichkeit macht die proaktive Kunst des Scheiterns aus. Davon zehrt die Berlin-Literatur. Zwei radikale Beispiele: Dirk Dobbrow lässt seinen atmosphärisch dichten Roman Späte Störung mit einer Fülle von Fragen enden, die als rhetorisch gelten, wären sie nicht auf perfide Weise poetisch. Und Carolin Emcke hat mit Stumme Gewalt einen privaten Essay an und über die RAF geschrieben, der hauptsächlich aus Fragen besteht. Es ist der bislang beeindruckendste, bohrendste und tiefschürfendste Versuch, ein Phänomen zu begreifen, das sich kriminalistisch nicht orten lässt. Trotz der abgründigen Ratlosigkeit findet sich eine kompakte Weisheit darin, die nicht nur Terroristen, sondern auch Krimiautoren angeht: „Wer den Tod eines anderen plant, muss sich mit seinem Leben befassen.“
Uta-Maria Heim
Dirk Dobbrow: Späte Störung.
München: Blessing 2008. 255 Seiten. 18,95 Euro.
Carolin Emcke: Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF.
Frankfurt: Fischer 2008. 190 Seiten. 16,90 Euro.