Geschrieben am 1. September 2021 von für Crimemag, CrimeMag September 2021

Kolumne Iris Boss (15), dieses Mal mit Triggerwarnung

Iris Boss © Birgitta Weizenegger

Vorsicht Trigger!

Achtung!!! Dieser Text beinhaltet Beschreibungen von krasser Gewalt, heftigem Drogenmissbrauch, expliziten sexuellen Handlungen und anderem kranken Scheiss, der auf gewisse Leser:innen verstörend wirken könnte. Lesen auf eigene Verantwortung! 

So ein Facebook-Feed mit seinem kontextfreien Inhalt ist ja an sich schon eine App gewordene dissoziative Persönlichkeitsstörung: Auf Urlaubsfotos aus Portugal folgt ein erschütternder Hilferuf einer jungen Frau aus Afghanistan, darauf eine Werbeanzeige einer Münchner Apotheke, die sich an „lebensfrohe Mütter“ wendet und Antifaltencreme verticken will, ein Cartoon mit einem Mann in einem Hasenkostüm, eine Theaterkritik von den Salzburger Festspielen, ein wissenschaftlicher Artikel über Darmbakterien… Das ist schon verrückt genug, und ich frage mich seit längerem, warum ich das meinem armen Gehirn, das doch dafür geschaffen ist, Zusammenhänge zu erkennen, Kontext herzustellen, eigentlich antue. Gesund oder dem Denkvermögen zuträglich ist das ganz gewiss nicht!

Aber damit nicht genug: Vor dem nächsten Post, einer Doku über die Buschfeuer in Australien und die dadurch bedrohte Tierwelt, steht in fettgedruckten Buchstaben: „Triggerwarnung! Dieses Video beinhaltet Bilder, die bei Menschen mit Arachnophobie (Spinnenphobie) Angst oder Ekel auslösen können.“

„Triggerwarnung“! – Es gibt kaum ein Wort, das mich mehr triggert. Auf jeden Fall eindeutig mehr, als das Spinnen tun. Natürlich muss das nicht für jeden gelten. Aber kann die Angst, die eine verbrennende Spinne auslöst, tatsächlich größer sein als die, dass wir dabei sind, diesen Planeten zu zerstören und uns damit selbst auszulöschen? Und da kommen wir zu einem der vielen Punkte, die mich an Triggerwarnungen so aufregen: Denn bevor ich mir weitere Gedanken über die Spinnen machen kann, sind meine Augen und meine Aufmerksamkeit bereits beim nächsten Post: Ein Zitat von Armin Laschet zur Lage in Afghanistan:

„Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann. Die Konzentration muss darauf gerichtet sein, vor Ort, jetzt diesmal rechtzeitig – anders als 2015 – humanitäre Hilfe zu leisten.“

Warum, verdammte Hacke, steht hier, wo ich sie mal dringend brauchen könnte, keine Warnung? „Dieses Zitat könnte Angst oder Ekel vor der Menschheit auslösen.“ – wäre hilfreich gewesen! Mal ganz abgesehen von den fehlenden Warnungen vor den Kommentaren, die auf dieses Zitat folgen. Vor mindestens jedem zweiten müsste stehen: „Achtung! Dieser Kommentar könnte spontanen Brechreiz und den karmaschädigenden, widerwärtigen Wunsch, gewisse Personen mögen mitsamt ihren Familien  in eine lebensbedrohliche Situation gebeamt werden und statt Hilfe ein großes Schild mit ihrem eigenen Kommentar vorgehalten kriegen, auslösen.“

Vor jeder Folge meiner Lieblingsserie werde ich vor der Darstellung von Drogenmissbrauch gewarnt, nur weil da einer eine Zigarette raucht. Gleichzeitig tauchen in meinem Newsfeed YouTube-Videos mit Enthauptungsszenen auf, ohne dass ich irgendeine Chance habe, zu entscheiden, ob ich das sehen möchte oder nicht. Dabei geht es mir weder darum, dass mir die Drogenwarnung die Freude an der Serie vermiest, noch darum, dass eine Warnung das Enthauptungs-Video besser machen würde. Es geht um die Beliebigkeit, mit der diese Warnungen eingesetzt werden. Das ist wertfrei im negativen Sinn und steigert das Gefühl von „nichts hat mit nichts zu tun“, in welchem uns schon oben erwähnter Dadaismus unserer Newsfeeds gefangen hält, ins Unerträgliche. 

Nun gehöre ich definitiv nicht zu der Fraktion „Mund-abwischen-weitermachen-was-mich-nicht-umbrigt-macht-mich-stärker-und-hat-es-mir-geschadet?“. Ich benutze ein überteuertes Duschbad namens „Lebensfreude“, führe Dialoge mit meinem „inneren Kind“, umarme Bäume wenn keiner hinsieht, rede oft und gerne über meine Gefühle und benutze dabei durchaus auch mal den Begriff „Trigger“. Ich bin also in vielerlei Hinsicht ein klassisches Weichei und eine typische Vertreterin der „Generation Mimimi“. Ich habe auch vollstes Verständnis für Menschen, die unter den Folgen eines Traumas leiden. Was sollte ich also gegen Triggerwarnungen haben? Die dienen doch einzig und allein dazu, Menschen vor einer Retraumatisierung zu schützen. Oder etwa nicht? Und hier kommen wir zum zweiten Punkt meiner Erregung:

Ich befürworte aus vielerlei Gründen einen sanften und liebevollen Umgang mit uns selbst. Was mich aber irritiert, sind die parallel wachsenden Tendenzen, immer empfindlicher und „achtsamer“ zu werden, was uns selbst betrifft und uns gleichzeitig immer grausamer und unempathischer anderen gegenüber zu verhalten. Im Gegensatz zu uns wirkt die Kriegsgeneration, bei der sich die Härte anderen gegenüber mit der Härte deckte, die man sich selbst entgegenbrachte, irgendwie sympathischer. Woher kommt diese Diskrepanz? Wie kommen wir auf die verrückte Idee, andere seien nicht so sensibel wie wir selbst, hätten nicht das Recht von uns so rücksichtsvoll behandelt zu werden, wie wir es für uns selbst einfordern? 

Und hier wird es für mich als Hobby-Psychologin interessant: Der Begriff „Trigger“ ( (engl.: „Auslöser“) kommt (in seiner psychologischen Verwendung) ursprünglich aus der Traumatherapie. Er bezeichnet einen Auslöser für die Erinnerung an ein zurückliegendes Trauma, die Flashbacks und somit eine Retraumatisierung hervorrufen kann. Gleichzeitig wissen wir – ebenfalls aus der Traumaforschung – dass die Fähigkeit zur Dissoziation (das Gegenteil der Assoziation, also die menschliche Fähigkeit, zusammengehörige Inhalte, Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe in weitgehend unkontrollierte Teile und Einzelerscheinungen zerfallen zu lassen) überhaupt erst dazu führt, dass traumatisch erlebte Inhalte triggerbar werden. Auch wenn man den sozialen Medien den schwarzen Peter nicht in vollem Umfang zuspielen will, lässt sich da ein gewisser Zusammenhang mit den kontextfreien Inhalten, die wir täglich konsumieren, nicht verleugnen. Und da auch die willkürlich gesetzten Triggerwarnungen ein Teil davon sind, könnte man sagen, dass sie unsere Triggerbarkeit fördern, statt uns vor Retraumatisierung zu schützen. 

Aber es geht noch weiter: „Nur wenn wir Empathie dissoziieren können, können wir feindselig gegenüber anderen Menschen werden. Nur wenn wir dissoziieren, was andere Menschen denken und fühlen, können wir uns wirklich gegen sie wenden. Kein Krieg, kein Hass (…) ist möglich, wenn man mit seinem Mitgefühl assoziiert ist.“(1) – Wäre ich Science-Fiction-Autorin oder Verschwörungstheoretikerin, wäre der Gedanke nicht abwegig, die künstliche Intelligenz unterminiere mit ihren Algorithmen auf geschickte Art und Weise einige der wenigen menschlichen Eigenschaften, die uns ihnen noch überlegen machen: Kooperation, Emotionen und Mitgefühl.

Doch auch wenn ich mich bemühe, die Sache nüchtern zu betrachten, wird es nicht besser: Abgesehen davon, dass Triggerwarnungen inzwischen genauso inflationär eingesetzt werden wie der Begriff „Trauma“ und man sie, ähnlich wie die Schockbilder auf Zigarettenschachteln, gar nicht mehr richtig wahrnimmt, ahne ich, dass sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht darauf zielen, uns vor Retraumatisierung zu bewahren, sondern im Gegenteil den Inhalt bewerben, indem sie unsere Sensationslust ansprechen. Wie sonst ist der Hinweis: „Dieses Video enthält Darstellung von Gewalt, die einige Zuschauer:innen beunruhigend finden könnten. Anschauen auf eigene Verantwortung“ vor einem Video mit dem Titel „Wie Alltagsgegenstände in echten Mordfällen zum Einsatz kamen“ zu erklären? Da kommt etwas als Fürsorge getarnt daher, das uns eigentlich zum Konsumieren animieren soll. Das ist im Grunde nichts anderes als die Anpreisung von Badezusätzen mit dem Hashtag #selfcare. Und überhaupt: Was soll die „Verantwortung“ in dem Ganzen? Wenn einem Menschen, der durch Gewalt traumatisiert wurde, nicht zugetraut wird, selbständig zu entscheiden, ob er sich ein Video über Mordwaffen ansehen möchte, kann man die Floskel mit der Verantwortung eigentlich nur zynisch betrachten. 

Ein befreundeter Autor erzählte mir, dass sein Verlag erboste Zuschriften erhält, weil sein THRILLER (stand auch so auf dem Cover) nicht mit einer Warnung vor der Darstellung expliziter Gewalt versehen wurde. Da geht es doch nicht um Traumatisierung, sondern ums Prinzip. Vielleicht auch um das im Moment so populäre Sich-chronisch-ungerecht-behandelt-Fühlen oder ganz simpel um die fehlende, direkt bei der Geburt übermittelte Warnung: „Achtung! Das Leben eines:er satten Mitteleuropäer:in kann zuweilen äußerst langweilig sein. Das sollte Sie aber nicht dazu verführen, bescheuerte Triggerwarnungen einzufordern.“

Ich kann hier nur für mich sprechen: Ich möchte auch als traumatisierter Mensch als mündige Person behandelt werden. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu stärken, sprich, ein erwachsener Mensch zu sein, der die Fähigkeit besitzt, Entscheidungen zu treffen, die seinem Wohlbefinden zuträglich sind, ist das Ziel jeder Traumatherapie. Wenn ich in der Verarbeitung meines Traumas schon so weit bin, dass es in meinem Bewusstsein angelangt ist, kann und muss ich eigenständig entscheiden, was ich mir zumuten möchte. Wenn ich Traumainhalte noch dissoziiere, sie mir also (noch) nicht bewusst sind, nützt mir auch die schönste Triggerwarnung nichts. Natürlich wäre es sinnvoll, einer Doku über die schönsten Eisenbahnstrecken Europas eine Warnung voranzustellen, wenn darin zum Beispiel eine Vergewaltigung vorkäme. Aber ich glaube, sowas passiert eher selten. 

Wie bei so vielen anderen großen und wichtigen Themen, egal ob Feminismus, Rassismus, (sexueller) Machtmissbrauch – was ursprünglich gut gemeint war, wendet sich schlussendlich durch Verwässerung und Bagatellisierung gegen die Betroffenen, wird in gleichem Maße emotional aufgeladen wie unpolitisch. Jede:r wird irgendwie Opfer (in diesem Fall einer Traumatisierung) und dadurch werden die tatsächlichen Opfer  – gerade durch die scheinbare Sensibilisierung für das Thema – nicht mehr ernst genommen. Dabei wäre die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Thema Trauma ein enormer Gewinn für unsere Gesellschaft. So glaube ich zum Beispiel nicht, dass ein Mensch, der die Gelegenheit bekommen und auch ergriffen hat, sein Trauma aufzuarbeiten, sich vor Flüchtenden fürchten kann, es ok finden kann, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Wenn wir dabei nicht nur auf individuell erlebtes, sondern auch auf transgeneratives Trauma blicken würden, wäre viel Elend und Ungerechtigkeit auf dieser Welt vermeidbar. Aber das ist ein eigenes Thema, das den Rahmen dieses Textes sprengen würde.

Wir Künstler aller Disziplinen haben meiner Meinung nach eine große Verantwortung – sowohl was das Herstellen und Sichtbarmachen von Zusammenhängen betrifft als auch die Förderung und Stärkung derjenigen Fähigkeiten, die wir den Maschinen voraus haben. Und zwar bei uns selbst ebenso wie bei unserem Publikum. Leider beobachte ich auch im Kunstbetrieb den Trend zur Dissoziation: Je härter und erbarmungsloser um Gelder und Jobs gekämpft wird, je unsozialer und kälter das soziale und politische Klima, desto vorsichtiger wird mit Inhalten umgegangen. Die Skandalisierung findet in den (sozialen) Medien zur Genüge statt, und ich wünsche mir die bestimmt nicht auch noch auf der Bühne oder in der Literatur. Es geht eben gerade nicht um den Skandal um des Skandals willen, es geht darum, Fragen zu stellen und nicht allgemein akzeptierte Antworten zu präsentieren. Darum, dass wir als Künstler unsere ganz subjektive Sichtweise als Spiegel zur Verfügung stellen, etwas in den Raum stellen, das man gut finden kann oder nicht, das einen aber auf keinen Fall so aus dem Raum entlässt, wie wir ihn betreten haben. Unsere Aufgabe ist es, zu triggern – zumindest den durchschnittsgestörten Mitbürger. Thomas Bernhard hat einmal geschrieben: „Die Welt will unterhalten sein / aber sie gehört verstört, verstört, verstört.“ So weit würde ich nicht gehen. Beziehungsweise finde ich es charmanter und zielführender, die Verstörung in (gute) Unterhaltung verpackt zu servieren. 

PS: Es tut mir leid, wenn die Triggerwarnung für diesen Text bei dem einen oder der anderen falsche Erwartungen geweckt haben sollte. Aber weiß ich, was in Euern Köpfen so los ist? Da wollte ich lieber mal auf Nummer sicher gehen… 

Anm. (1): Verena König, Traumatherapeutin.

Iris Boss ist Diplomschauspielerin (U.d.K. Berlin) und eine erfahrene Sprecherin. 2021 gründete sie ihr eigenes Studio „CURRY-HAHN-RECORDS“ in Berlin. Neben dem Einsatz als Sprecherin in Fremdstudios bietet sie Sprachaufnahmen, Schnitt, Bearbeitung in professioneller Qualität direkt aus dem Home-Studio an. CURRY-HAHN-RECORDS im Netz.

Mit vielen neuen Hörproben direkt aus dem Home-Studio. Vieles ist gerade in Arbeit und kommt in nächster Zeit dazu.

Iris Boss bei uns.