Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

John Dos Passos – Klassiker-Check

„Der Romancier als Trüffelschwein hat einen großen Vorteil gegenüber dem Soziologen“

Ein Besuch bei John Dos Passos anlässlich seines 50. Todestages am 28. September 1970 und der Neuübersetzung der USA-Trilogie von Dirk van Gunsteren und Josef Stingl – von Peter Münder.

Mit seiner 1925 veröffentlichten Großstadt-Hymne „Manhattan Transfer“ und der darin verwendeten raffinierten Montage- und „Stream of Consciousness“-Technik avancierte John Dos Passos (1896-1970) zum Pionier einer neuartigen Erzähltechnik: Der klassische Protagonist fehlt hier ebenso wie der allwissende Erzähler; was Thackeray im bunten Gesellschaftspanorama „Vanity Fair“ zwar auch schon 1847 praktizierte und sogar im Untertitel „A novel without a hero“ festhielt. Aber die hundert Figuren, die Dos Passos im quirligen Manhattan herumwuseln lässt, sind eigentlich immer auf dem Sprung und werden aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, während das Kamera-Auge und die Wochenschau stichwortartig Einblicke zu aktuellen Ereignissen und  den Bewegungsabläufen der Figuren liefern, die man uns heute wohl mit Video-Kameras servieren würde.  Siegfried Lenz  sah übrigens in seinem  ZEIT-Beitrag der „Bibliothek der 100 Bücher“  über „Manhattan Transfer“  auch eine „Vision einer Auflösung aller menschlichen Beziehungen unter dem Gesetz der Metropolis“. Das  ist sicher übertrieben, aber die in Dialogfetzen, Flüchen und Lügen kurz angerissenen  Beziehungsdefizite in diesem hektischen Durchlauferhitzer sind natürlich unübersehbar.

New York City als eigentliches Kraftzentrum sorgt eben für permanente Erregung und eine dynamische Mobilität. Der mit der Fähre eingelaufene Neuankömmling Bud Korpenning liefert mit seiner Frage nach dem Weg zum Broadway auch gleich das Leitmotiv von „Manhattan Transfer“, wenn er erklärt: „I want to get to the center of things.“ Aber wo ist in diesem riesigen Labyrinth mit den herumhastenden Figuren das Zentrum? Und was gehört eigentlich zu den zentralen Werten in diesem auf  Status und Profitmaximierung fixierten System?

Die allzu optimistische Einschätzung des American Dream, die Darstellung eines subtilen Übergangs vom Spießertum zum faschistoiden Größenwahn, die Jagd nach der „Big Money“–Erlösung sowie die unverbindliche Oberflächlichkeit, die in dubiose Machenschaften übergeht – all diese uramerikanischen Komplexe und Befindlichkeiten hatten Sinclair Lewis („Main Street“, „Babbitt“), Theodore Dreiser („An American Tragedy“) und Sherwood Anderson („Winesburg, Ohio“) ja auch thematisiert, allerdings in einem auf tradierte realistische Erzähltechnik beschränkten Stil. Ihre Plots waren ausführlich vorbereitet, der Hintergrund ihrer Figuren umständlich entwickelt und erklärt, die Dialoge oft viel zu breit angelegt. Nur Sinclair Lewis hatte konzediert, dass Dos Passos das Unmögliche geschafft hatte: Nämlich „das Wesen, den Geruch, die Klangfarbe und die Seele von New York zu beschreiben“. Für Lewis war der  Montage-Künstler und Spezialist für elektrisierende Momentaufnahmen Dos Passos jedenfalls bedeutender als Proust oder Joyce. Seine Bewunderung steigerte sich 1932 sogar noch mit der Vollendung der USA-Trilogie („The 42nd Parallel“, „1919“ und „The Big Money“). 


Nach Manhattan die gesamten USA und Europa im Blick

Denn nun stand für Dos Passos nicht nur Manhattan im zentralen Focus, sondern der gesamte amerikanische Kontinent; außerdem hatte der im 1. Weltkrieg in Frankreich und Italien eingesetzte  Krankenwagenfahrer seine eigenen Erfahrungen verarbeitet: Zwischen den Champagner-Gelagen im Pariser Ritz und den zerfetzten Leichen in Verdun, mit eingeblendeten  Szenarios streikender amerikanischer Arbeiter, gnadenloser Schlägerbanden und Polizeikommandos. Der sozialistische Pazifist Dos Passos hatte sich stark für die Begnadigung der zum Tode verurteilten Italiener Sacco und Vanzetti engagiert, hatte sie auch im Knast besucht  und war während einer Sympathie-Demonstration für die mit dubiosen Beweisen eingefädelte Anklage verhaftet worden. In „Big Money“ hat er diese Episoden einfließen lassen; hier will er sich jedoch keinen Lorbeerkranz aufsetzen oder als Samariter bewundern lassen: Er lässt die idealistische Organisatorin  Mary French für die Begnadigung und Wiederaufnahme des Verfahrens  agitieren. Im Herausfiltern der entscheidenden Details gerade zu diesem skandalösen Justiz- Komplex zeigt sich Dos Passos als Meister: Denn er war der wahre Experte und  hatte 1926 über den Fall Sacco-Vanzetti den ausführlichen Aufsatz „Die Grube und das Pendel“ veröffentlicht und ein Jahr später die Streitschrift „Facing the Chair“. Sacco und Vanzetti, so lautete sein Verdikt, waren als Gegner im Klassenkampf hingerichtet worden, ohne dass in einem fairen Prozess alle  strittigen Fragen geprüft worden wären. 

Da Dos Passos aber auch das große Ganze als Systemkritiker erfassen wollte, präsentierte er in biographischen Exkursen über Henry Ford, Thomas Edison, Theodore Roosevelt, den Verleger Randolph Hearst oder den Zeitschrumpf-Spezialisten Taylor ihre markantesten „systemrelevanten“ Eckdaten und Verhaltensmuster als prägende „uramerikanische Tugenden“, bzw. als psychopathische Symptome.  „USA, das ist eine  Handvoll Beteiligungsgesellschaften, ein Häufchen Gewerkschaften, ein Rundfunknetz, eine Kinokette … eine Reihe großmäuliger Amtsträger mit zu vielen Bankkonten“, heißt es im „USA“-Prolog. Mit diesem spezifischen Montage-Mix, der fast alle gesellschaftlichen Segmente erfasst, wollte er eine größtmögliche Objektivität  erzeugen, erklärte Dos Passos im großen „Paris Review-Interview“ 1969, in dem er auch betonte, als „Romane schreibendes Trüffelschwein“ mehr in Erfahrung bringen zu können über gesellschaftspolitische Prozesse als  jeder Soziologe. 

Nach dem Eintauchen in all die  bewegenden, verstörenden und aufregenden „USA“-Szenen würde ich diesem  Bemühen um Objektivität allerdings keine große Beachtung schenken: Die  intensivsten Effekte seiner grandiosen Trilogie erzielt Dos Passos ja mit starken emotionalen Momenten; ein Hinweis auf  Trommelfeuer und Gasbombardements bei Verdun wird zwar knapp und salopp formuliert, reißt uns aber knallhart aus unserer einlullenden Routine: „die grauen krummen Finger das von der Leinwand triefende Blut das Blubbern wenn die Lungendurchschüsse zu atmen versuchen die verdreckten Fleischbrocken die man lebendig in den Sanitätswagen schiebt und tot wieder herauszieht“ (Neuübersetzung van Gunsteren/Stingl).  Aber er hatte als Trüffelschwein eben auch Fakten, Entwicklungen, Erfindungen entdeckt, die für die entstehende Weltmacht USA bedeutend waren. Die Auto- und Flugzeugindustrie waren für die  Tycoons  vor allem auch Maschinen für die Produktion von „Big Money“, der umstrittene Kriegseintritt der USA wurde 1917 aufgrund der massiven Interventionen von Präsident Wilson ein entscheidender Baustein für den rasanten wirtschaftlichen Boom nach dem 1. Weltkrieg – was in der Trilogie aus unterschiedlichen Perspektiven – mit der schillernden Opportunistenfigur des PR-Beraters JW Moore  im Zentrum – gezeigt wird.    

Nach Harvard-Studium Krankenwagenfahrer an der Front, Pazifist und Unterstützer von Sacco und Vanzetti

Als Sohn eines erfolgreichen Wirtschaftsanwalts mit portugiesischen Wurzeln 1894 in Chicago  geboren, ging  John Dos Passos schon als Schüler mit einem Privatlehrer auf die europäische Grand Tour und war sofort fasziniert von all den Meisterwerken der klassischen Kunst in Italien, England, Frankreich, Griechenland und dem Nahen Osten. Nach seiner Rückkehr in die USA begann er 1913 sein Literatur-Studium in Harvard und schrieb seine ersten Romane. Er hatte aber auch ernsthafte künstlerische Ambitionen und malte Gemälde und fabrizierte Bühnenbilder, Plakate und Buchumschläge. Außerdem verfasste er zwei Theaterstücke. Die beiden ersten Romane „Initiation“ und „Three Soldiers“ waren drastische Anklagen gegen eine auf Drill und Unterdrückung fixierte  Militärmaschinerie, die ihre Soldaten zugrunde richtet und dem freien Willen keinen Raum mehr lässt. Als Krankenwagenfahrer während des 1. Weltkriegs in Frankreich sah er sich dann in dieser Ansicht absolut bestätigt. In den 1920er Jahren schwärmte der junge Autor von der sozialistischen Weltrevolution; er reiste auch in die Sowjetunion, um sich über den  revolutionären Stand der Dinge zu informieren und einen Überblick über russische Filme zu verschaffen – so diskutierte er etwa mit Sergei Eisenstein über Aspekte der Filmregie. Als er sich dann im spanischen Bürgerkrieg wie Hemingway  und George Orwell für die Republikaner einsetzte, war er bald durch die ideologischen Grabenkämpfe, vor allem aber durch die militanten stalinistischen Terror-Methoden desillusioniert und zur Einsicht gelangt, dass die Stalinisten die übelsten, nach Macht und Hegemonie strebenden Halunken waren – was vor dem Hintergrund seines 1937 von Stalinisten ermordeten spanischen Dolmetschers und Freundes Jose Robles verständlich ist. Mit seiner scharfen Kritik am stalinistischen Terror verärgerte er den politisch eher indifferenten,  auf hochprozentige Macho-Abenteuer fixierten Hemingway – diese Kontroverse beendete jedenfalls ihre Freundschaft. 

Wenn Sartre in seinem Aufsatz „John Dos Passos and 1919“ von einer drohenden Auflösung des Individualismus sprach und „USA“ verstand als Indiz für ein von Dos Passos repräsentiertes  „kollektives Gedächtnis“, dann hätte der Autor sicher nicht protestiert: In seinen rund 40 Romanen, Porträts und Reiseberichten hat er sich mit den prägenden Jahren einer entstehenden Weltmacht, mit Erfindern und Präsidenten und dem District of Columbia in einer Trilogie beschäftigt. Die Medien- Resonanz war meistens sehr zurückhaltend;  nur  in der „USA“-Trilogie ist es ihm gelungen, diese so unterschiedlichen, kontrastreichen Themen miteinander zu verknüpfen und mit den eingeblendeten Wochenschauen zu einem amerikanischen Panorama und Psychogramm zu verschmelzen. „Ich hatte das Gefühl, dass alles hineinsollte“, erklärte Dos Passos rückblickend. Tatsächlich wirkt die Trilogie heute immer noch so aktuell und bewegend wie vor 90 Jahren: Diese Gier, diese Naivität, fehlende Empathie  und dazu diese  ungeheure Egomanie!! Kein Wunder, dass wir uns angesichts des aktuellen amerikanischen Chaos, in dem ein überdrehter Psychopath im Weißen Haus lieber sich selbst und die Größe seiner Nation bejubelt als die aktuellen maroden Zustände im Land zur Kenntnis zu nehmen, nur fragen können: „Whats new, America?“ 

Peter Münder

PS: Die Neuübersetzung von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl ist so frisch und locker, dass man nur staunen kann; meine  verstaubte  englische Uralt-Penguin  Modern Classic-Ausgabe hat nur 1184 Seiten und kann mit den 1644 Seiten der neuen, so liebevoll produzierten Rowohlt-Ausgabe schon gewichtsmäßig  nicht mithalten. Zwei kleine Fragezeichen beim Vergleichstest  machte ich nur bei „new mown“ und „Macadam roads“: Statt „frisch gemäht“ wählen die neuen Übersetzer „Neumondheu“ und statt „Schotterstraße“ steht da „Macadam-Straße“? Aber das sollte nur einen ganz kleinen Geist stören – diese monumentale Trilogie ist und bleibt ein Hochgenuß and eye-opener.    

Literatur:    

John Dos Passos:  USA-Trilogie. Der 42. Breitengrad/1919/ Das große Geld. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 1644 Seiten, 50 Euro.

Alice Beja: Artfulness and  Artlessness, the Literary and Political Uses of Impersonality in John Dos Passos´Trilogy. In: Revue Francaise D´Études Americaines 2011/1  

Mart Hanson: What John Dos Passos’s „1919“ got right about 2019. In: New Yorker, 29/12/2019.

Tags :