Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Jeannine Fiedler: „Poor Dogs“ von Ute Cohen

Das Leiden als Kategorialanalyse von Weiblichkeit

Von Emile Zolas Geld (1891) zu Michel Houellebecqs Unterwerfung (2015) – kaum schmaler ist die literarische Bandbreite, die Ute Cohen in ihrem Roman Poor Dogs absteckt. Doch während Zolas 20-bändiger Zyklus um die Großfamilie der Rougon-Macquarts (Die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im 2. Kaiserreich [1852-70]) heute kaum noch bekannt ist, geschweige denn gelesen wird, tobt ein Houellebecq mit jedem neuen Roman als irrlichternder Poltergeist durch die kulturelle Asservatenkammer seiner Heimat. Kein Sanktuarium von douce France bleibt unbefleckt. Wie Gustave Courbets üppige Nackte (Gemälde L’Origine du monde, 1866) öffnet die Grande Nation weit ihre Schenkel, Houellebecq ihre tiefsten Geheimnisse zu offenbaren. Genüsslich seziert dieser sie mit literarischem Skalpell.

Zola und Houellebecq als Pfeiler literarischer Fundamentalkritik am Kapitalismus. Dazwischen kräht der gallische Hahn seit 150 Jahren über Wucherungen und Versehrungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems, das sich nicht nur in Frankreich zu einem moribunden Komplex aus Gier, Machtstreben, Unmoral und menschlichen Abgründen entwickelt hat. Das Karzinom in situ ist längst zu einer invasiven Krebserkrankung geworden, die sämtliche Bereiche des sozialen Miteinanders erfasst: von der kleinsten familiären Zelle über (selbst-)ausbeuterische Arbeitssituationen, Glaubensbündnisse, deren Risse eiternde Abszesse von Kindesmissbrauch und Machtgeilheit freilegen, bis hin zu den bösartigen Melanomen der international agierenden corporate syndicates. Kein Individuum ist unbelastet; schon die Kinder sind mit dem Virus eines omnipräsenten Konsumterrors infiziert und werden mitunter von Zola als boshaft-gierige Kobolde gezeichnet. Jean-Jacques Rousseaus Gemeinschaft von Lebewesen im paradiesisch-unschuldigen Urzustand ist ein Märchen aus vorrevolutionären Zeiten. 

Diese Epidemie wahrhaft apokalyptischen Ausmaßes erlaubt keine Heilung. Saturn verschlingt seine Kinder – und schließlich sich selbst. Wir stecken alle in einem krankhaft-adipösen Prozess des Schlingens und fortwährenden Verdauens: „Mehr mehr“, schreit bei Theodor Storm der kleine Häwelmann, der in seiner kindlichen Hybris von Welt-All-Aneignung am Ende gerettet wird.  Allein – WIR sind nicht mehr zu retten! 

Nicht nur ist unser Klima dauerhaft beschädigt, was im steten Anstieg der Temperaturen eine bedrohliche Symbolkraft erfährt. Die westlichen Zivilisationen befinden sich zudem seit einigen Jahrzehnten in einem Zustand permanenter Überhitzung – will heißen, dass die bei globaler Ökonomie und hypertrophen Datentransfers sekündlich wachsenden Möglichkeiten uns in einen Zustand der Entropie geführt haben. Nunmehr ist das Chaos – das Maß der Unordnung – Synonym für eine längst nicht mehr einzuschätzende, geschweige denn beherrschbare Gegenwart geworden. Und wir Menschenkinder befinden uns im freien Fall.

Ute Cohen

Cohen gelingt in Poor Dogs eine Brücke zu bauen zwischen Zolas und Houellebecqs Kritik an den jeweils herrschenden Gemütsaggregaten. Ihr Kabinettstück schafft es – kongenial zu diesen großen Romanciers aufschließend, doch auf deutlich kürzerer Strecke –, unsere Malaisen auf genau beobachtete Verhaltenscodes, Triebe, Neurosen, letztlich auf allzu menschliche Schmalspurgleise herunterzubrechen, um sie in der kleinsten sozialen Einheit, der Familie, zu begraben. Was wir hier lesen ist keine Eloge auf altehrwürdige, konservative Ordnungen. Gnadenlos führt Cohen den Verfall einer Institution vor, die einst als Symbol für Treue, Stetigkeit und Stabilität galt: die Ehe. Was im Roman beginnt als schrille Stutenbeißerei, die eine Nebenbuhlerin aus dem Verkehr ziehen soll, findet in einem erbitterten Countdown zwischen der Protagonistin, dem pathologisch philandernden Gatten und mehreren Nebenfrauen seinen Fullstop. Ein schier endloses Drama entfaltet sich zuvor unter den Eheleuten, das auf Seiten der Ehefrau zwischen kurzzeitigem Auftrumpfen und Gesten der Unterwerfung (Houellebecqs Soumission!) changiert und dem gewissenlosen Gatten sämtliche Pforten des Betrugs bis hin zum Tötungsversuch öffnet. Der in erster Linie männliche Drang zur Begattung und Samenspende bei so vielen Probandinnen wie möglich ist das Pendant weiblicher Empfängnisbereitschaft. Diese biologische Konstante ist eherner als die Ehe. Und seit Menschen sich Geschichten erzählen und begonnen haben, diese in eine sprachliche Form zu gießen, ist die Promiskuität unerschöpflicher Quell für literarische Variationen. 

Cohen versteht indes, das uralte Motiv der Untreue, wenn man so will, „spätkapitalistisch“ aufzuladen. Aus Liebe i.e. Eroberung wird bald Wettbewerb, der Austausch sexueller Flüssigkeiten als Messlatte des Eros weicht Börsendaten und Geschäftsideen – je nach Blickwinkel besonders cleveren oder besonders niederträchtigen Verfahrensweisen zur Generierung von, ja, wir wissen es, noch mehr Geld und noch mehr Macht. Und wenn sich diese im Sammeln von Frauen erschöpfen, nennt man es Polygamie – als Ausweis männlicher Potenz. 

Der Roman ist in seinen Darstellungen von Sexualität, Depression, Krankheit krass, realistisch, manchmal komisch, oft rabenschwarz. Kein Material für zart besaitete Gemüter, denn gekämpft wird mit harten Bandagen. Zwar sind Täter und Opfer rasch entlarvt, doch bleibt selbst das Opfer in seinem Begehren zwielichtig. Denn auch die Protagonistin will  m e h r vom Mehr: Liebe, Anerkennung, Erfolg, Kinder, ein Nest, aber noch mehr als all das – mehr  L e i d e n  als traditioneller Monstranz, liebevoll vergoldetem Schaugerät weiblicher Macht. Das Leiden ist ihr umgehegtes Lieblingskind. Es ist immer bei ihr, verlässt sie nie und steht ihr jederzeit treu zur Seite, um als Waffe eingesetzt zu werden. Zu den Machtstrukturen in Beziehungen gehören – meist männlich kodiert – der Wille zur Unterdrückung, die geile Lust an Überwältigung und überdies die Schlüsselhoheit über Haus, Hof und Clan; unter den Frauen herrscht meist duldsamer Schmerz, aufgepeppt mit zahllosen Linien der Droge Masochismus, zusammengekehrt und inhaliert mit Daddys letztem Tausender, Taschengeld per diem. Mitunter können kleine Lichter von Sadismus und Rachsucht aufblitzen. 

Klassische Geschlechterkonstellationen mögen sich mitunter verschieben. Dies ist kein exklusives Modell für Heteros. 

(Doch hier die Frage einer lesenden Arbeiterin: Wird es dadurch angenehmer?) 

Die zwei Seiten der Beziehungsmedaille werden von Cohen schonungslos offengelegt und analysiert: die nahezu symbiotische Verzahnung der Obsessionen von Partnern, denen es nicht gelingt, von ihnen abzulassen, die Evidenz der Mechanismen und ihre fatale Unausweichlichkeit machen vor allem die Leserinnen der „armen Hunde“ ein wenig irre. Waren wir nicht schon einmal weiter in dieser Problematik… ? Frau möchte die Protagonistin schütteln und rufen: Hör’ auf damit, entzieh’ dich dem dir aufokroyierten Treiben, du bist stärker! 

Dennoch lieben wir es, staunend dem Untergang (weil er möglicherweise dem eigenen ähnelt?) des Roman-Personals zu folgen, durch ihn, quelle malheur, sogar unterhalten zu werden. Nichts scheint schöner zu sein, als gemeinsam mit den Heldinnen und Helden zu leiden und seufzend vor die Hunde zu gehen… oder mit ihnen zu heulen. 

Während Emile Zola, wie nicht anders zu erwarten, die Rollenmodelle seiner Zeit, des Fin de Siècle, bedient – den lupenreinen Entrepreneur die moralisch intakte Witwe umgarnen lässt im zentralen Plot eines weit verzweigten Panoptikums aus halbseidenen Tagedieben, crâneurs und sozialistischen Weltverbesserern, die alle vergeblich hoffen, an der Börse ein veritables Vermögen zu machen –, um aus menschlichem Scheitern und der Binsenweisheit „Geld regiert die Welt“ sein kapitales Roman-Monstrum zu entwerfen, geht Michel Houellebecq ganz entspannt den doch eindeutig perfideren Weg. Seine spätkapitalistische Versuchsanordnung hält uns Lesern den Zerrspiegel vor, auf dass wir uns schockartig mit unseren latenten Sehnsüchten und Abgründen konfrontiert sehen – der Überwältigung und der Unterwerfung. Die Stute wird nunmehr mit dem Schwanz aufgezäumt, diese kleine Verballhornung mag erlaubt sein. 

Houellebecq spielt hierbei gekonnt mit unseren Verlust-Ängsten: lieb gewordene Pfründen zu verlieren, Ämter, Titel, eingefahrene Gleise verlassen zu müssen, mit einer neuen Gesellschaftsordnung konfrontiert zu werden. Für das Jahr 2022 (dieses unser Jahr einer Zeitenwende ohnegleichen) tritt in seinem Roman Unterwerfung (2015) ein, was realiter seit Jahrzehnten prophezeit, wenn nicht von den Medien herbeigeredet wird: douce France erhält ohne jedes Spektakel, fast mit Aplomb eine islamische Regierung. Und die Franzosen? Sie sind verhalten angetan, ja offen zustimmend, denn endlich sind die anstrengenden Jahrzehnte des Feminismus und seiner Zumutungen an ihre Männlichkeit passé. Zahlreiche Kritiker des rechten Spektrums – die Ironie des Houellebecqschen Experiments war spurlos an ihrer Ignoranz vorbeigerauscht – bramabarsierten nach Erscheinen des Romans, dass die Bruderschaft der Muslime sich als „echte Alternative für Europa und seine ureigenen Werte“ darstellte. Letztere verstanden als Rückkunft in eine Gesellschaft, in der allein Männer herrschen; die Frauen – je prämenstrueller, desto geeigneter – sich als dienende Sexualobjekte und Fortpflanzungsmaschinen unterzuordnen haben. Die nun qua Religion sanktionierte Polygamie von allen Männern, vor allem den französischen naturellement, wird nach 2000 Jahren christlich-jüdischer Monogamie als Steinzeit-Gast an jeder heimischen Tafel vom Hausherrn freudig begrüßt; das laizistische Modell als vorübergehende Erscheinung einer zweihundertjährigen Moderne landet auf dem Müll. Und die französischen Bildungsinstitutionen werden in feindlicher Übernahme durch den Islam usurpiert als wäre es das Normalste von der Welt. 

Keine Politik mehr unter dem Diktat der Wirtschaft? D’accord, aber eine schon fahrlässig naive Umwidmung der sich subito einstellenden Realität einer Machtübernahme durch wenige Clans, die der Wirtschaft ihre Usancen diktieren. Eine Politik der Familie? Sicher, aber nur unter dem knallharten Regelwerk des arabischen Patriarchats, in dem der Gedanke des Kollektivs als windelweicher Gehorsam und Kotau vor diesem Regime durchaus zugelassen ist. Es muss schließlich auch Freiheiten geben!

Eine Politik der Moral? Die großartigste Errungenschaft der abendländischen Zivilisation wurde von diesen Kritiker-Idiotes mit einem Federstrich enthauptet: unsere Wahlfreiheit! Und zwar jene von Männern wie vor allem die der Frauen.

Die Kritikerbande ist Houellebecq prächtig auf den Leim gegangen. Der Meister führte sie à la longe durch die gesellschaftliche Manege, sie fraßen ihm sämtliche Köder aus der Hand und desavouierten sich erbärmlich in ihrem Männlichkeitswahn, Konservativismus sowie vor allem in ihrer Verachtung der Frauen. Die Versuchsanordnung war geglückt und öffnete sämtliche Eiterbeulen im rechten wie im linken Spektrum der französischen Kulturlandschaft. Trägt Houellebecq nicht die „elle“, „sie“, das weibliche Geschöpf in seinem Namen verborgen?

Cohen bietet dem Leser stilistisch brillant die Möglichkeit, die Endphase unseres bürgerlichen Zeitalters an einem Fallbeispiel zu studieren: einer Ehe unter Börsenmaklern und Fondmanagern. Allerdings im heutigen Status quo von „Mischehen“ unter allen Weltreligionen, die derzeit ohnehin in Bedeutungslosigkeit versinken. Allarabias Übernahme der alten Welt ist bei Cohen noch nicht eingetreten. Ihr Abgesang auf deren Werte gibt indes wie jede düstere Moritatenballade wenig Anlass zur Hoffnung. Die Institutionen, die uns wie Kirche, Ehe, Staat (?) über tausend Jahre begleitet haben, sind abgewirtschaftet – und wenn nicht am Ende, so zumindest reif für eine Bestandsaufnahme mit anschließender Generalüberholung. Doch spricht der Trägheitsfaktor der Menschheit wie bei allen dringlichen Maßnahmen gegen eine rasche Sanierung. Und wenn es um unser Leben ginge…

Das von Cohen herbei fantasierte, möglicherweise glückstrunkene Ende, das die bitter entzweiten Eheleute zu neuen Projekten in den Osten, in eine aufgehende Sonne aufbrechen lässt, ist so sinnlos schön wie die letzte Einstellung von The Great Dictator: Charlie Chaplin und Paulette Goddard schreiten Hand in Hand einer verheißungsvollen Zukunft entgegen. Doch liefen sie direkt in den Holocaust – was Chaplin 1940 nicht vorhersehen konnte und wir erst 1945 als grausame Offenbarung zur Kenntnis nehmen mussten. 

Wir weinen noch mehr Zähren der Ohnmacht. Denn die Moral – und existierte sie je anders als auf dem Papier? –, wird vor unser aller Augen abgeschafft. Zola, Houellebecq und Cohen haben keine Lösungen parat – wir Leser auch nicht, und wenn wir noch so viele Gebrauchsanweisungen studieren. Was allein jedes Individuum retten kann, ist seine charakterliche Genese, die in eine Haltung mündet, der gelingt, all die Kriege unseres Lebens bestehen zu können… 

„Wenn es eine Idee gibt, die all meine Romane durchzieht“, hat Michel Houellebecq einmal im Gespräch mit Bernard-Henri Lévy gesagt, „dann ist es die Idee von der absoluten Unumkehrbarkeit von Verfallsprozessen, wenn sie einmal begonnen haben.“ Ein Zurück aus der Welt des europäischen Verfalls gibt es für ihn nicht. Die Entropie betrifft die  menschliche Spezies selbst, die mit ihrer Zivilisation den Prozess des Verfalls und der zunehmenden Unordnung eingeleitet hat. Und sie betrifft natürlich den Kapitalismus… „

(zitiert nach Julia Encke: Das letzte Bollwerk, FAS, 23.8.2015)

Jeannine Fiedler, geboren 1957; Studium der Theaterwissenschaften und Filmtheorie, Kunstgeschichte und Publizistik an der Freien Universität Berlin; Promotion über das schwarzweißfotografische Werk von László Moholy-Nagy an der Universität GH Kassel; Gastkuratorin am Bauhaus-Archiv Berlin; Assistentin von Bazon Brock an der Bergischen Universität Wuppertal; Gastprofessur an der GH Kassel; Lektorin für eigene Projekte im Könemann Verlag Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Film- und Fotogeschichte und zu Designthemen. Lebt und arbeitet in Berlin.

www.jeanninefiedler.de

Ute Cohen bei uns mit vielen Texten hier. Ihr neues Buch „Falscher Garten. Eine schwarze Kapriole“ erscheint Anfang Juli bei Septime.
Ihr Roman „Satans Spielfeld“ besprochen von Thomas Wörtche und Joachim Feldmann – hier – hier.
Ihr Roman „Poor Dogs“ besprochen von Alf Mayer: Hardcore Kapitalismus, von Andrea Noack: Lockruf des Geldes.

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