Ein Besuch bei James Lee Burke in Montana
„Hallo, meine Name ist James Lee Burke, und das hier ist mein kleines Arbeitszimmer …“, beginnt das erste kleine Video, das Markus Naegele bei seinem Besuch auf der Ranch des HeyneHardcore-Autors drehen konnte. Die Filme sind nicht untertitelt, man muss sich vielleicht von jemand Englischkundigem erzählen lassen, was er da alles sagt, aber alleine sein Auftreten schon ist sehenswert. Der 81jährige ist wach und munter wie eh und je – nimmt auch politisch kein Blatt vor den Mund.
Das dritte seiner, wie er sagt „drei besten Bücher“, erscheint jetzt Ende August auf Deutsch. Sein Titel: „Dunkler Sommer“ (The Jealous Kind, 2016). Ein Textauszug und ein Überblick über die Holland-Romane weiter unten. Aber erst einmal hier seine Videos.
James Lee Burke; Dunkler Sommer (The Jealous Kind, 2016). Aus dem Amerikanischen von Daniel Müller. Heyne Hardcore, München 2018. Paperback, Klappenbroschur. 560 Seiten, 18 Euro. Verlagsinformationen.
Siehe auch bei CrimeMag: Lutz Göllner über James Lee Burkes Holland-Romane: Eine Familie so groß wie Texas.
„Dunkler Sommer“ – die ersten Seiten
Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich jeden Morgen von Angst und Beklemmungen erfüllt aufwachte, ohne zu wissen, warum. Angst war für mich eine gegebene Tatsache, eine Konstante, die ich fest in meinen Tagesablauf einkalku- lierte, wie einen kleinen Stein im Schuh, den man einfach nicht loswird. Ein Erwachsener mag das rückblickend als eine Form von Mut bezeichnen. Möglich, dass es das war, sonderlich spaßig fühlte es sich allerdings nicht an.
Meine Geschichte beginnt an einem Samstag im Jahr 1952. Es war Frühling, mein Junior-Jahr an der Highschool neig- te sich dem Ende zu, und ich hatte mir den Wagen meines Vaters geliehen, um ins fünfzig Meilen südlich von Hous- ton gelegene Galveston zu fahren, wo ich mich mit meinen Highschool-Freunden am Strand treffen wollte. Eigentlich gehörte das Auto gar nicht meinem Vater, sondern war eine Leihgabe seiner Firma; ausschließlich von ihm selbst und nur für Dienstfahrten zu benutzen. Dass er mir den Wagen aus- lieh, war ein enormer Vertrauensbeweis. Meine Freunde und ich verbrachten einen wunderbaren Tag am Strand, wo wir Touch-Football im Sand spielten. Als sie gegen Abend ein Lagerfeuer errichteten, beschloss ich zur dritten Sandbank südlich der Insel hinauszuschwimmen, der letzten Stelle vor dem offenen Meer, an der die Füße noch den Boden berühr- ten. Das Wasser dort war nicht nur tief und kalt, sondern auch Hammerhairevier. Noch nie zuvor hatte ich das allein versucht, und als ich einmal zusammen mit einer Gruppe von Freunden bis zur dritten Sandbank hinausgeschwom- men war, hatten die meisten von uns bereits einiges intus gehabt.
Ich watete durch die Brandung, holte tief Luft, tauchte durch die erste Welle und begann zu schwimmen. Ich er- reichte die erste Sandbank, dann die zweite, aber ich hielt nicht an. Ich schwamm weiter und drehte mein Gesicht zwi- schen den Zügen zur Seite, um Luft zu holen. Dann erblickte ich die letzte Sandbank und sah, wie die Wellen über die Untiefe spülten und die Möwen im Schaum nach Futter pickten.
Ich stellte mich aufrecht hin. Auf meinem Rücken krib- belte der Sonnenbrand. Die einzigen Geräusche, die ich hör- te, waren das Gekreische der Möwen und das Platschen des gegen meine Lenden schlagenden Wassers. Ich konnte ein Frachtschiff mit einem Schleppkahn dahinter sehen, die kurz darauf am Horizont verschwanden. Ich warf mich kopfüber in eine Welle und sah unter mir den sandigen Boden in die Dunkelheit gleiten. Das Wasser war plötzlich kühler als zu- vor, die Wellen hart wie Beton. Die Hotels, die Palmen und auch das Vergnügungspier am Strand waren auf Miniatur- größe geschrumpft. Eine dreieckige Flosse schnitt durch die Dünung, tauchte in einer Welle unter und hinterließ eine Blasenkette an der Wasseroberfläche.
Dann schnürte sich mein Herz zusammen, aber nicht wegen des Haifischs. Ich war mitten in einen Schwarm von Quallen hineingeschwommen. Es waren große Exemplare mit bläulich-rosafarben schimmernden Gasblasen und hauchzarten Tentakeln, die sich um Hals oder Schenkel eines Menschen schlingen und dort problemlos Schäden anrichten konnten, wie sie auch ein Schwarm gereizter Wespen zustande bringt.
Das Erlebnis mit den Quallen schien wie ein Symbol für mein Leben zu sein: Ganz gleich, wie sonnendurchflutet der Tag auch scheinen mochte, ich wurde stets von einem Gefühl der Gefahr begleitet. Und das war keineswegs eingebildet. Das dumpf dröhnende Brummen einer frisierten Auspuffanlage an einem aufgemotzten Ford Coupé, gefolgt von einem acht- losen Blick in Richtung der Jungs mit den Ducktail-Frisuren, den Velourslederschuhen und den Drapes, und in Sekunden- schnelle konnte man zu Brei geschlagen werden. Schon mal eine Dokumentation über die Fünfziger gesehen? Was für ein Witz.
Ein Psychologe würde wahrscheinlich sagen, dass meine Ängste eine Externalisierung der Probleme in meinem El- ternhaus waren, und vielleicht hätte er damit sogar recht. An- dererseits habe ich mich stets gefragt, wie viele Psychologen schon gegen fünf oder sechs mit Ketten, Spring- oder Rasier- messern bewaffnete Kerle angetreten sind; Kerle, die es nicht interessiert, ob sie leben oder sterben, und die Schmerz wie Eiscreme runterschlucken. Vielleicht sah ich die Welt aber auch nur als undeutliches Bild, wie in einem trüben Spiegel, und war in Wahrheit selbst das Problem. Tatsache ist, dass ich immer Angst hatte. Wie an jenem Abend, als ich durch die Quallen schwamm. Die Berührung mit nur einer von ihnen war so gefährlich, wie ein Elektrokabel anzufassen, und meine Furcht so groß, dass ich mir beim Schwimmen in die Badeho- se pinkelte und spürte, wie der warme Urin über die Innen- seite meiner Oberschenkel glitt. Selbst als ich den Quallen entkommen war und mich zu meinen Highschool-Freunden am Lagerfeuer gesellt hatte, wo ich mit einer kühlen Flasche Jax in der Hand den Funken des Feuers dabei zusah, wie sie in einen türkisfarbenen Himmel aufstiegen, konnte ich das hartnäckige Gefühl von Angst und Schrecken nicht abschüt- teln, das wie glühende Kohlen in meinem Magen brannte.
Über meine Familie und das Leben bei uns zu Hause sprach ich so gut wie nie mit meinen Freunden. Meine Mutter kon- sultierte regelmäßig Wahrsager, belauschte die Telefongesprä- che der Nachbarn über den Gemeinschaftsanschluss und hatte mir als Kind ohne Unterlass Einläufe verabreicht. Sie verriegelte die Türen, hielt die Jalousien geschlossen und wetterte oft gegen den Alkohol und dessen Wirkung auf meinen Vater. Theatralik, Depression und tief empfundener Gram waren ihre ständigen Begleiter. Gelegentlich sah ich einen warnenden Ausdruck in den Augen unserer Nachbarn auf- blitzen, wenn meine Eltern in einem Gespräch erwähnt wur- den, und dann wirkte es stets, als würden sie mich davor beschützen wollen, die ganze Wahrheit über mein Zuhause zu erfahren. In diesen Momenten empfand ich Scham, Schuld und Wut, ohne genau zu wissen, warum. Dann saß ich in meinem Zimmer und hätte am liebsten etwas Hartes und Schweres in der Hand gehalten, aber ich wusste nicht, was. Mein Onkel Cody war ein Geschäftspartner von Frankie Carbo, einem Mitglied von Murder Incorporated, und hatte mich mal Benjamin »Bugsy« Siegel vorgestellt, als dieser mit Virginia Hill im Shamrock Hotel logierte. Manchmal dachte ich über diese Gangster nach – sinnierte über das Selbstvertrauen in ihren Gesichtern und die Kälte in ihren Augen, wenn sie jemanden ansahen, den sie nicht leiden konnten – und fragte mich, wie ich mich wohl verhalten würde, wenn ich in ihre Haut schlüpfen und über ihre Macht verfügen könnte.
Der Tag, an dem ich unbeschadet durch die Quallen schwamm, ohne verletzt zu werden, war der Tag, der mein Leben für immer veränderte. Denn an diesem Tag betrat ich ein Land, das weder Flagge noch Grenzen hat; einen Ort, an dem man seine Schutzinstinkte und seine Vorsicht vergisst und sein Herz auf einem Steinaltar offenbart. Ich spreche von dem Moment, an dem man sich zum ersten Mal Hals über Kopf verliebt und nicht im Entferntesten daran denkt, dass einem das Herz gebrochen werden könnte.
Ihr Name war Valerie Epstein. Sie saß in einem pinkfar- benen Cabrio, einem dieser lang gezogenen Cadillacs, die man damals nur »Boat« nannte. Der Wagen parkte vor einem Drive-in mit neonfarbener Fassade, das sich in der Nähe des Strandes befand. Ihre Schultern waren nackt und von einem leichten Sonnenbrand überzogen. Ihr kastanienbraunes Haar war voll und dicht, frisch gewaschen, von goldenen Strähnen durchzogen und mit einem Bandana auf dem Kopf zusammengebunden, wie bei den Frauen, die während des Krieges in den Rüstungsbetrieben gearbeitet hatten. Sie aß Pommes frites mit den Fingern und hörte dem großen, gut aussehen- den Burschen zu, der neben ihr auf dem Fahrersitz des Ca- dillacs saß. Sein Haar war leicht gegelt und sonnengebleicht, seine Haut blass und frei von Tätowierungen. Er trug eine dunkle Brille, obwohl die Sonne bereits zerschmolzen und tief im Himmel stand und der Tag sich abzukühlen begann. Er ließ eine Vierteldollarmünze über die Fingerknochen sei- ner linken Hand wandern, wie ein Zocker aus Las Vegas oder ein Mensch, der den einen oder anderen geheimnisvollen Trick draufhatte. Sein Name war Grady Harrelson. Er war zwei Jahre älter als ich und hatte die Highschool bereits abgeschlossen, was bedeutete, dass ich wusste, wer er war, wohingegen er keine Ahnung hatte, wer ich war. Grady hatte breite, knochige Schultern, wie ein Basketballspieler, und trug ein verwaschenes lilafarbenes T-Shirt, das an ihm jedoch irgendwie stylish aussah. In der Highschool war er zum best- aussehenden Jungen gewählt worden, und zwar nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Für jemanden wie mich war es ein Leichtes, einen Kerl wie Grady zu hassen.
Ich weiß nicht, warum ich überhaupt ausstieg. Ich war müde, mein Rücken fühlte sich steif an, unter meinem Hemd bedeckte eine trockene Schicht aus Sand und Salz meinen Körper, und ich hatte noch fünfzig Meilen nach Houston vor mir, da ich den Wagen vor Einbruch der Dunkelheit meinem Vater zurückbringen musste. Am Horizont glitzerte bereits der Abendstern in einem blauen Lichtstreifen. Ich hatte Va- lerie Epstein schon zweimal aus der Ferne gesehen, aber noch nie aus nächster Nähe. Vielleicht wertete ich die Tatsache, dass ich sicher durch einen Schwarm Quallen geschwommen war, unbewusst als eine Art Omen. Valerie Epstein war Junior an der Reagan Highschool in Nord-Houston, eine als Spit- zenschülerin bekannte Elftklässlerin mit süßem Lächeln und toller Gesangsstimme. Selbst die Halbstarken mit den Poma- denfrisuren, die Ketten unter ihren Autositzen deponierten und mit Springmessern in ihren Hosentaschen durch die Ge- gend liefen, behandelten sie wie eine Adlige.
Setz dich wieder ins Auto, iss deinen Krabbenburger, und fahr nach Hause, sagte eine Stimme in mir.
Für mich war geringes Selbstbewusstsein kein Schritt zurück, sondern einer nach vorn. Und obwohl ich vollkommen allein war, wollte ich noch nicht nach Hause fahren. Es war Samstag, und ich wusste, dass mein Vater irgendwann in der Dämmerung aus dem Icehouse kommen und nach Hause torkeln würde, während die Nachbarn ihre Gärten wässerten und so taten, als könnten sie ihn nicht sehen. Ich hatte Freun- de, aber die meisten von ihnen kannten mich nicht wirklich, und eigentlich kannte ich sie ebenso wenig. Am liebsten hätte ich diese Hülle aus Raum und Zeit, in der sich mein Leben abspielte, auf einen anderen Planeten katapultiert.
Ich ging zur Toilette. Der Weg dorthin führte zwischen der Beifahrerseite von Gradys Cabrio und einem silberfarbenen Metallpfeiler entlang, auf dem ein Lautsprecher montiert war. »Red Sails In The Sunset« lief gerade. In Höhe des Cabrio bemerkte ich, dass Valerie sich gerade mit Grady stritt und kurz davorstand, in Tränen auszubrechen.
»Alles in Ordnung bei euch?«, sagte ich.
Grady drehte den Kopf zu mir und starrte mich mit aus- gestrecktem Hals und ungläubigem Zwinkern an. »Was hast du gesagt?«
»Ich dachte nur, ich frag eben, ob alles in Ordnung ist.« »Verzieh dich, Sattelratte.«
»Was ist eine Sattelratte?«
»Bist du taub, oder was?«
»Ich will nur wissen, was eine Sattelratte ist.«
»Ein Kerl, dem einer abgeht, wenn er an Fahrradsätteln von kleinen Mädchen schnuppert. Und jetzt zieh Leine.«
Die Musik verstummte. Meine Ohren knackten. Ich sah, wie sich die Lippen der Menschen in den anderen Autos be- wegten, aber ich konnte nichts hören. Dann sagte ich: »Hab ich aber keine Lust drauf.«
»Ich glaub, ich hab mich gerade verhört!« »Ist ein freies Land.«
»Nicht für neugierige Blasenbeißer wie dich.« »Lass ihn zufrieden, Grady«, sagte Valerie.
»Was ist ein Blasenbeißer?«, sagte ich.
»Ein Kerl, der in der Badewanne furzt und die Blasen mit dem Mund auffängt. Hat dir jemand Geld gegeben, damit du hier den Affen machst?«
»Ich wollte nur auf die Toilette gehen.«
»Dann geh, verdammt.«
Dieses Mal erwiderte ich nichts. Irgendjemand, wahr-
scheinlich einer von Gradys Freunden, schnipste mir eine brennende Zigarette in den Nacken. Grady öffnete die Fahrer- tür, sodass er sich zu mir wenden und mit mir sprechen konn- te, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. »Wie heißt du überhaupt, Hamsterfresse?«
»Aaron Holland Broussard.«
»Dann pass mal auf, Aaron Holland Broussard! Ich steh kurz davor, dir den Kopf abzureißen, ihn in die Kloschüssel zu stopfen und noch mal draufzupissen, bevor ich spüle. Na, was hältst du davon?«
Das Knacken in meinen Ohren begann erneut. Der Parkplatz und das über die Autos ragende Vordach des Drive-in schienen zur Seite zu kippen, die knalligen Rot- und Gelbtöne der Restaurantfassade wie schmelzendes Lakritz an den Fenstern herunterzulaufen…
Die Holland-Bücher von James Lee Burke:
1965 Half Of Paradise
1971 Lay Down My Sword And Shield („Zeit der Ernte“; Heyne Hardcore 2017)
1982 Two For Texas
1985 The Convict And Other Stories
1997 Cimarron Rose („Dunkler Strom“, Goldmann 1999)
1999 Heartwood („Feuerregen“, Goldmann 2002)
2001 Bitterroot („Die Glut des Zorns“, Goldmann 2004)
2004 In The Moon Of Red Ponies
2009 Rain Gods („Regengötter“, Heyne Hardcore, 2014)
2011 Feast Day Of Fools („Glut und Asche“, Heyne Hardcore, 2015)
2014 Wayfaring Stranger („Fremdes Land“, Heyne Hardcore 2016)
2015 House Of The Rising Sun („Vater und Sohn“, Heyne Hardcore 2016)
2016 The Jealous Kind („Dunkles Land“, Heyne Hardcore 2018)