
Und es war doch die Mafia
Dallas, 22. November 1963. Strahlender Sonnenschein begleitet die Präsidentenlimousine durch die Straßen Dallas. Beim Abbiegen der Wagenkolonne in eine dreispurige Unterführung werden drei Schüsse abgefeuert. Der US-Präsident John F. Kennedy ist tot. Erschossen. Amerika in Schockstarre.
Dieses Attentat ging nicht nur in die Weltgeschichte ein, sondern heizte auch zahlreiche Verschwörungstheorien an. Offiziell erschoss Lee Harvey Oswald den Präsidenten, doch ausgerechnet dieser Einzeltäter wird zwei Tage später vom Nachtclub-Besitzer Jack Ruby in Polizeigewahrsam ermordet. Neben der offiziellen (realen) Theorie gibt es auch zahlreiche Verschwörungstheorien. Einige davon klingen außerirdisch wie die Alien-Theorie, nach der Kennedy die Welt über Besuche von außerhalb aufklären wollte und deswegen von seinem Fahrer erschossen wurde. Oder die CIA-Theorie, denn nur ein Geheimdienst hätte die Macht dazu, ein solches Präsidentenattentat zu organisieren und zu vertuschen. Die FBI-Theorie schlägt in die gleiche Kerbe, wobei der damalige FBI-Chef J. Edgar Hoover kein Kennedy-Freund war und Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson Hoover 1964 zum FBI-Direktor auf Lebenszeit ernannt hat. Und es gibt noch die Kuba-Theorie, die Illuminaten-Theorie und die Mafia-Variante.

Kein Wunder also, dass Autoren wie Stephen King („Der Anschlag“ – in diesem Roman versucht ein Zeitreisender das Attentat zu verhindern) oder nun Lou Berney das Attentat fiktional aufgreifen. Berney wählt als Ausgangspunkt die Mafia-Theorie mit dem Paten von New Orleans Carlos Marcello für den Thriller. Dazu lässt er ein Marcello-Clanmitglied ein Fluchtauto abstellen. Und schon geht die Reise los. Ins Jahr 1963.
Die fiktionale Mafia-Theorie des Kennedy-Attentats
Dass ein Mafia-Clanmitglied unter Schock steht, ist ungewöhnlich. Aber als Frank Guidry vom Anschlag erfährt, ahnt er, dass er wenige Tage zuvor in der Nähe des Attentats womöglich das Fluchtauto für den Attentäter abgestellt hat. Er arbeitet für den Marcello-Clan und dieses Muster wäre typisch für seinen Boss. Als dann Oswald unter Polizeigewahrsam beseitigt wird, erscheint ihm seine These noch plausibler. Guidry befürchtet, dass die Spuren über das Auto zu ihm führen und somit auch zu Marcello und er glaubt, dass auch er beseitigt werden soll. Also versucht er zu fliehen. Doch die Flucht ist tückisch, denn der Auftragskiller Paul Barone ist ihm längst auf den Fersen.

Gleichzeitig flieht auch Charlotte Roy mit ihren beiden Töchtern. Sie hat genug von ihrem Mann, der ständig alkoholisiert ist und sie mit leeren Versprechungen zurücklässt, genug von ihrem tristen Leben mit nie enden wollenden Geldsorgen. In Kalifornien erhofft sie sich ein neues Leben.
Berney führt die beiden Flüchtenden zusammen: Guidry ist alleine zu auffällig und so bietet es sich für ihn an, die Frau mit ihren Kindern mitzunehmen. Als Familienvater getarnt, kann er vorerst unter dem Radar bleiben. Doch nach und nach spürt ihn Barone auf und ist ihm wieder auf den Fersen, während Guidry und Charlotte sich näher und näher kommen.
Die amerikanischen 60er Jahre
Lou Berney schafft Atmosphäre. Die Geschichte zieht den Leser gebannt zurück in die 60er Jahre quer durch die USA. New Orleans erwacht mit Jazzmusik zwischen dem Getümmel aus Landeiern, Einheimischen, Gelegenheitsdieben, Strichern und Feuerschluckern. Der Schockmoment des Attentats in Dallas lässt kurz mal den Atem anhalten, bevor Guidry die Gefahr aus seinen eigenen Reihen erkennt und Fersengeld gibt. Er hätte ahnen müssen, dass das Abstellen eines himmelblauen 59er Cadillac Eldorodao eine Arbeit unter seiner Würde sei. Dass dieser Job bis zur Decke stinkt.

Charlotte hingegen zeigt das Leben als Frau in der damaligen Zeit. „Sei zufrieden mit dem, was du hast, denn die Alternative ist vermutlich noch unangenehmer“ (Pos. 728 im Ebook), sagt so eine Weisheit, die Mütter an ihre Töchter weitergeben. Es ist eine Zeit, in der Lehrer keine Fragen von Mädchen beantworten, in der Chefs ihre weiblichen Angestellten im Hinterzimmer an die Wand drücken, in der Frauen sich fragen, welcher Mann sich um sie kümmern soll. Doch Charlotte will nicht dabei zusehen, wie das Leben an ihr vorüberzieht, sie will leben. Und bricht aus.
Die männliche Gesellschaft hat Angst vor Randgruppen, den Frauen, der färbigen Bevölkerung und versucht am Alten festzuhalten. „Ein Weißer wird erschossen, und es ist nationaler Trauertag. Ein Schwarzer wird erschossen, und es ist ein ganz normaler Montagmorgen.“ (Pos. 1814) Berney zeigt eine Zeit, in der die weißen Menschen bedauern, „wenn kleine Neger auf der großen Straße einfach so frei herumlaufen“ (Pos. 2904) dürfen, eine Zeit in der die farbigen Touristen auf Green Books angewiesen sind, um zu wissen, wo sie ein Zimmer buchen können.
All dieses Zeitgeschehen lässt ein Bild Amerikas in den 60er Jahren entstehen. Lebendig, als wären die 60er wieder auferstanden, während Guidrys Leben unterzugehen droht. – Ein atmosphärisches Roadmovie, das die Mafia-Theorie des Kennedy-Attentats bildhaft zum Leben erweckt. Mon cher!
Iris Tscharf bei CrimeMag hier. Zu ihrem Schurkenblog hier.
- Lou Berney: Destination Dallas (November Road, 2018) . Aus dem Englischen von Mirga Nekvedavicius. HarperCollins, Hamburg 2019. Klappenbroschur, 350 Seiten, 14,99 Euro.