Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Ingrid Mylo: Fremde Einsamkeiten und vertraute

Die „Beskiden-Chroniken“ von Andrzej Stasiuk

            Er liebt sein Land, er liebt die Vergangenheit, und er liebt es, unterwegs zu sein: daraus macht der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk keinen Hehl, daraus macht er, im Gegenteil, eine Menge Worte. Aus dem, was er nicht mag, auch. Wahrhaftigkeit ist ihm wichtig, seine Leser sollen wissen, woran sie mit ihm sind. Mit billigem Ramsch von chinesischen Märkten, beispielsweise, muß man ihm nicht kommen, auch nicht mit den „grinsenden Mumien“ auf den Wahlplakaten, und Leute, die zu wissen glauben, was gut für Polen ist, kann er schon gar nicht ausstehen. Mit der Betonarchitektur moderner Kirchenbauten hat er ebenso ein Hühnchen zu rupfen wie mit der Popkultur, die, einem Tumor gleich, die Identität und das Gedächtnis der Menschen zerfrißt. Wobei die neuen und immer neueren Technologien aus einer verbindlichen Identität ohnehin Makulatur machen. Überhaupt: die Entwicklung, die die Welt genommen hat. Der Fortschritt. Stasiuk ist einer, der gern in der Zeit zurück reist oder weiter in den Osten, in die Steppen, in die Wüsten: dorthin, wo einem das Leben noch kräftig in den Knochen sitzt und das Überleben vom eigenen Körpereinsatz abhängt, von der schweren Arbeit, die täglich verrichtet werden muß, „im Schweiße deines Angesichts“, wie es heißt. Und wie er es gutheißt: Bequemlichkeiten verderben nur den Charakter. Und Armut adelt. Die einfachen Menschen: ihr Bild beschwört Stasiuk immer wieder herauf: und dann spürt man seine Zuneigung und die Achtung, die er vor ihnen hat.

            Von seinen Reisen in fremde Einsamkeiten kehrt er gern zurück in die ihm vertraute, um auf dem Hof eines abgelegenen Dorfes in den Beskiden über das zu schreiben, was ihn bewegt: über den Bau eines Supermarktes auf einer Wiese, auf der früher die jährliche Kirmes stattfand. Über Propheten, die auf den Weltuntergang warten. Über die unterschiedlichen Holzsorten, die beim Verbrennen unterschiedliche Düfte verströmen. Über Langeweile und Tod. Über Regelbrüche und die daraus resultierende Gewalt. Über den Wind, oft und oft, das hat er in all seinen Büchern getan, den schwarzen, kalten, heißen oder eisigen Wind, den Wind, der „hinter der Ecke hervorstürzt wie ein Räuber“, der Röcke hochhebt, Plakate von den Wänden reißt, durch schattenlose Räume fegt und Gebete verweht. Über die Stille und die Schönheit und das Licht und den Regen, über Nebel und Schnee. Oder er räsoniert einen Artikel lang über die Vielzahl von Themen, über die er schreiben könnte, ohne sich auf eines davon einzulassen: und dann landet er wieder bei dem Fernseher, den er nicht besitzt und dem Motorrad, das er sich nicht leisten kann und dem Regal voller Biographien über Diktatoren. Und wenn ihm gar nichts einfällt, geht er vors Haus und schreibt darüber, wie es hell wird und Tag, und daß seine Schafe noch schlafen, von denen eines Mania heißt und Schwarzbrot liebt. Und hin und wieder unterhält er sich mit ihr und läßt sich von ihr den Kopf zurechtrücken.

            77 Texte versammelt dieses Buch, und weil Stasiuk sie für eine katholische Wochenzeitschrift verfaßt hat, mangelt es weder an Kreuzen, noch an Kerzen, Bibelzitaten oder kirchlichen Feiertagen. Und am Ende eines Artikels, oder zur Bekräftigung, sagt er manchmal Amen. Er sagt auch Ach. Das hat er in früheren Essays sogar viel häufiger getan: aufgeseufzt zu Beginn eines Satzes. In Gesprächen fällt dieser Laut nicht weiter auf, ach, sagt man, was soll’s, ein Steinchen, das man mit dem Fuß beiseite schiebt. Doch wenn es dasteht, dieses Ach, schwarz auf weiß, verliert es seine Beiläufigkeit und klingt wie ein Echo aus alten Gedichten. An den besseren Stellen besitzt Stasiuks Art, etwas darzulegen, tatsächlich eine poetische Qualität: ganz gewöhnliche Vorgänge enthüllen plötzlich unerhörte Aspekte und Möglichkeiten, nur weil er sie anders wahrnimmt und beschreibt.

            Er ist ein Nostalgiker. Auch wenn er die Gegenwart sehr genau ins Auge faßt und in Sätze, die einem das Herz öffnen für die kleinen Schönheiten abseits des Marktgängigen: zu beharrlich spielt er das Alte gegen das Neue aus. Und so sind diese Aufzeichnungen ein Hohelied auf die Vergangenheit und ein Abgesang auf die Zukunft, die er fürchtet und vor der er in seine schönen Erinnerungen flüchtet.

© 2020 ingrid mylo

Andrzej Stasiuk: Beskiden-Chroniken (Kroniki beskidzkie i światowe, 2018). Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 303 Seiten, 23 Euro.

Dieser Beitrag wurde zuerst bei hr2 Kultur als Podcast veröffentlicht. Ingrid Mylo kann hier gehört werden, wie sie ihn liest.

Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Texte bei uns hier. Ihre Bücher:

Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.

Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

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