
Dieses Gedicht
Abends, wenn die Zeilen
leer im offenen Fenster klappern
und Lücken im Gefühl auftauchen,
wie Gespenster grinsen: wen
glaubst du zu erkennen zwischen
den unvollständigen
Sammlungen von Absichten
und Insektenflügeln, wohin
sind Bemühung und Schrift.
Feg alles vom Tisch: die Blätterhaufen,
unter denen die Worte verrotten. Die
zurechtgelegten Würfel. Die
Schuldbekenntnisse. Die Girlanden.
Schritte hallen heran, warte,
solange du willst: sie werden
dein Gedächtnis nicht erreichen.
London vorbei, die Welt:
eine Schublade voller Kopien,
und du weißt: kein Satz
überlebt den Januar.
Du weißt: auch dieses Gedicht
bleibt ungeschrieben.
© ingrid mylo

Die sonnige Fratze des Wasserspeiers
Messerwurf. Münze.
Die sonnige Fratze des Wasserspeiers
auf dem Weg zum Katasteramt.
Und gerade noch
bei Gelb durchgekommen.
Sprich nicht von Glück:
es gibt Gründe
für die Vertraulichkeit der Salbeiblüte,
für den Wind, der die Seite
mit dem Ise-Schrein aufgewirbelt hat,
für das Grüne Leuchten
in der Sekunde zwischen Wissen und Wunsch.
Einen Grund
für das Ausbleiben der Katastrophe.
Aber es gibt auch Hinweise.
Am Boden, pilzverzehrt,
krümmen sich die Blätter der Platanen
schon vor Beginn des Sommers.
Spinnen wie Klettverschlüsse
treiben auf dem Weiher.
Und was ist mit dem Schuh,
der viel öfter als früher
vereinzelt am Straßenrand liegt?
In der Torausfahrt? Unter der Brücke?
Sag Zufall, sag Logik:
es wird einen geben, immer,
der es dir anders erklärt.
Die Leiter lehnt noch am Haus, und die Katze
hat keiner gesehen. Doch sei versichert:
sie war nicht schwarz.
© ingrid mylo

Aber die Lieder
Das mit den Käfern
hast du geträumt: auch
wenn du gespürt hast,
wie sie durch deine Adern
krochen, in jener Nacht im Norden
von London: und gegen Morgen
platzten sie, hartschalig, schwarz,
durch deine Haut, Dutzende,
Dutzende: ‚Mort subite’ an der Wand
und der Wahnsinn der Salpêtrière.
Wie bist du in dieser Wohnung
gelandet, in dieser Situation,
in der die Wirklichkeit nur
eine Vorstellung war, die Liebe
der Zungenschlag eines Verstörten.
Er wollte dein Lachen, aber
die Lieder, die er dir schenkte,
waren den Spinnweben gleich
abgestreifte Umarmungen, waren
Verzicht. Vielleicht, wenn du ihm
geglaubt hättest, all deinem
Wissen zum Trotz.
© ingrid mylo
Die Gedichte stammen aus „Ein dunklerer Grund“, noch unveröffentlicht
Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Bücher:
Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.
Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.
Frank Horvat, geb. 1928, kaufte sich 1945 mit dem ersten eigenen Geld seine erste Kamera. Seine erste Reportage produzierte er 1951, 1959 trat er der Agentur Magnum bei. Später wurde er Modefotograf für „Vogue“, war immer ein Vertreter einer unprätentiösen, journalistisch inspirierten Kleinbild-Ästhetik. In späteren Jahren setzte er sich mit der digitalen Bilderzeugung auseinander, u. a. mit der Reinterpretation seiner älteren Arbeiten. Horvat lebt in Boulogne-sur-Seine. (Aus: Wikipedia, ein kleines Werkverzeichnis hier).
Seine Homepage Horvatland hat das Motto „photography is the art of not pushing the button„.