Geschrieben am 4. März 2019 von für Crimemag, CrimeMag März 2019

Ingrid Mylo / Frank Horvat: Drei Gedichte/ drei Fotos

1983, ny, usa, midtown paintshop © frank horvat

Dieses Gedicht 

Abends, wenn die Zeilen

leer im offenen Fenster klappern 
und Lücken im Gefühl auftauchen, 
wie Gespenster grinsen: wen 
glaubst du zu erkennen zwischen 
den unvollständigen

Sammlungen von Absichten

und Insektenflügeln, wohin

sind Bemühung und Schrift. 

Feg alles vom Tisch: die Blätterhaufen, 
unter denen die Worte verrotten. Die 
zurechtgelegten Würfel. Die 
Schuldbekenntnisse. Die Girlanden. 

Schritte hallen heran, warte, 
solange du willst: sie werden 
dein Gedächtnis nicht erreichen. 

London vorbei, die Welt:
eine Schublade voller Kopien, 
und du weißt: kein Satz 
überlebt den Januar.
Du weißt: auch dieses Gedicht 
bleibt ungeschrieben. 

© ingrid myl

2008, venezia, italy, reflections © frank horvat

Die sonnige Fratze des Wasserspeiers 

Messerwurf. Münze.

Die sonnige Fratze des Wasserspeiers

auf dem Weg zum Katasteramt.

Und gerade noch

bei Gelb durchgekommen.

Sprich nicht von Glück:

es gibt Gründe

für die Vertraulichkeit der Salbeiblüte,

für den Wind, der die Seite

mit dem Ise-Schrein aufgewirbelt hat,

für das Grüne Leuchten

in der Sekunde zwischen Wissen und Wunsch. 
Einen Grund

für das Ausbleiben der Katastrophe.

Aber es gibt auch Hinweise.

Am Boden, pilzverzehrt,

krümmen sich die Blätter der Platanen

schon vor Beginn des Sommers.

Spinnen wie Klettverschlüsse

treiben auf dem Weiher.

Und was ist mit dem Schuh,

der viel öfter als früher

vereinzelt am Straßenrand liegt?

In der Torausfahrt? Unter der Brücke?
Sag Zufall, sag Logik:

es wird einen geben, immer,

der es dir anders erklärt.
Die Leiter lehnt noch am Haus, und die Katze 
hat keiner gesehen. Doch sei versichert:

sie war nicht schwarz. 

© ingrid mylo

 2013, cotignac, france, at la véronique © frank horvat

Aber die Lieder 

Das mit den Käfern

hast du geträumt: auch

wenn du gespürt hast,

wie sie durch deine Adern

krochen, in jener Nacht im Norden 
von London: und gegen Morgen 
platzten sie, hartschalig, schwarz, 
durch deine Haut, Dutzende, 
Dutzende: ‚Mort subite’ an der Wand 
und der Wahnsinn der Salpêtrière. 
Wie bist du in dieser Wohnung 
gelandet, in dieser Situation,
in der die Wirklichkeit nur

eine Vorstellung war, die Liebe

der Zungenschlag eines Verstörten. 
Er wollte dein Lachen, aber

die Lieder, die er dir schenkte, 
waren den Spinnweben gleich 
abgestreifte Umarmungen, waren 
Verzicht. Vielleicht, wenn du ihm 
geglaubt hättest, all deinem

Wissen zum Trotz. 

© ingrid mylo 

Die Gedichte stammen aus „Ein dunklerer Grund“, noch unveröffentlicht

Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Bücher:

Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.

Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

Frank Horvat, geb. 1928, kaufte sich 1945 mit dem ersten eigenen Geld seine erste Kamera. Seine erste Reportage produzierte er 1951, 1959 trat er der Agentur Magnum bei. Später wurde er Modefotograf für „Vogue“, war immer ein Vertreter einer unprätentiösen, journalistisch inspirierten Kleinbild-Ästhetik. In späteren Jahren setzte er sich mit der digitalen Bilderzeugung auseinander, u. a. mit der Reinterpretation seiner älteren Arbeiten. Horvat lebt in Boulogne-sur-Seine. (Aus: Wikipedia, ein kleines Werkverzeichnis hier).
Seine Homepage Horvatland hat das Motto „photography is the art of not pushing the button„.

Tags : ,