Geschrieben am 1. August 2020 von für Crimemag, CrimeMag August 2018

Ingrid Mylo: Wildere Arten, der Welt zu begegnen

Wildere Arten, der Welt zu begegnen

            Auf Miriam Cahns Gemälde ‚Blau‘ fallen, vielleicht auch sinken, lichtblaue Körper deutlich durch tieferes Blau, vielleicht dem Tod entgegen. Die kleine blaue Gestalt, die auf dem Cover von Hosemanns Büchlein unter den dunkelblauen Wellenstrichen treibt, ist dagegen leicht zu übersehen: möglicherweise weil man das möchte: sie mutet, dazu mit dem helleren Dreieck einer angedeuteten Badehose, ein wenig lächerlich an. Und hat so gar nichts mit dem zu tun, wovon auf den Seiten die Rede ist.

            Schöne Idee: ans Meer gehen und schauen, einen Tag lang am Meer sein und schauen und über das Geschaute sinnieren, absichtslos. Schöne Idee, schöner Titel, der schöne Erwartungen weckt. Das Meer am 31. August. Sehen, was passiert oder nicht und wie sich das ändert, während die Stunden vergehen, und wie das Gesehene die Gedanken formt und verwirft. Ein Versuch über die Zeit, mit der Zeit fällt aber auf: wie vordergründig er ist. Ein Versuch, tatsächlich, das Meer wahrzunehmen, ein Versuch der Vergegenwärtigung und zwischendurch: die Versuche, einer Freundin eine Karte zu schreiben zu ihrem Geburtstag, eine schlaue Karte, eine anspruchsvolle Karte.

            Ein Versuch, auch, über das Ominöse: denn was Hosemann meint, ist das, was dahinterliegt, darunter, außerhalb. Daher die vielen Bilder, die Vergleiche, die Metaphern, und wiederum: schöne darunter. Nur sind es einfach zu viele. Nein, es ist nicht eigentlich die große Anzahl, es ist die Mechanik, die sture Anwendung derselben banalen grammatikalischen Konstruktion. Als gäbe, als hätte, als würde, als könnte, als wäre, als habe, als sei, als ob, wie etwas, das, wie etwas, bei dem, etwas, das aussieht wie… 3 – 5 Mal pro Seite (läßt er, als Lektor, seinen Autoren das durchgehen, was er sich gestattet?). Hat man, als Kind, sich nicht einst sagen lassen, das bunte Ausmalen der Buchstaben zeuge von einer Unzufriedenheit mit der schnöden Realität. Mag sein, der maßlose Gebrauch von Bildern dient einem ähnlichen Zweck. Oder ist Vorsicht der Grund: und Hosemann scheut sich, die Welt direkt anzufassen und streift sich vor ihrer Berührung Metaphern über. Und oft nimmt er, und voller Andacht, die permuttschimmernden Begriffe aus der Samtschatulle, sagt Traum, sagt Erinnerung, sagt Glück, sagt Geheimnis: wer verlöre sich, allen Vorbehalten zum Trotz, nicht gerne zwischen solchen Worten.

  • Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August. Berenberg, Berlin 2020. 110 Seiten, 18 Euro.

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            Da gab’s das noch, 1985, daß ein Verleger unbeanstandet „Übersetzer“ schreiben und trotzdem eine Frau meinen durfte, die er dann ganz ehrerbietig als Frau Prof. Dr. bezeichnet. Oder in Zusammenhang von Jean Genets ‚Les Nègres‘ von einer Negertruppe sprechen: das hat 1960 keinen groß gestört. Zeiten ändern sich, was als anstößig empfunden wird auch. Und daß in einem dieser eher offiziösen Protokolle wie aus dem Hinterhalt der Ausdruck „belatschert“ in eine Zeile springt, hat mich begeistert, das Wort habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Auf der anderen Seite redet Unseld von seiner ersten Frau nur als „meine Frau“, wie sie heißt, zählt nicht, nur ihre Funktion, erst die Frau danach, Ulla Berkéwicz, hat sich dann die Nennung ihres Namen verdient.

            Unseld hat sie Reiseberichte genannt, die Begegnungen, die Gespräche mit seinen Autoren, die Verhandlungen mit Geschäftsleuten und Politikern, das, was er an Arbeit außerhalb des Hauses für den Verlag verrichtet hat, Reiseberichte: weil neben den Personen auch die Orte Erwähnung finden. Oft nur knapp: Prag ist weltstädtisch, Verona eine bezaubernde Stadt, Israel eine andere Welt, Moskau boomt und Mexiko ist „sehr zu beachten“. Krakau verfügt über auffallend viele junge Leute und „ungewöhnlichen Charme“. Leipzig war, New York ist „immer eine Reise wert“, während über Berlin, Paris, Wien, Zürich München und Hamburg kaum ein Wort verloren wird: Städte, in denen man immer wieder ist und die einem deshalb geläufig sind, verschwinden aus dem Blickfeld. 

            Zum Glück mußte Unseld irgendwann nach Japan: und da ist alles neu für ihn und bringt ihn zum Schauen, zum Mitteilen: und endlich nimmt das Züge an, was Reisen heißt. Was Fremdsein heißt. Und Staunen. 104 Arten des Unheils kennt man in Japan: und für (oder gegen) jede gibt es einen Tempel. Es gibt 40 verschiedene Schulen der Teezeremonie, Zedern, die über 600 Jahre alt sind, in Tokyo in einer Nebenstraße der Ginza 300 der „feinsten Bars“ mit hochbezahlten Hostessen, und die drei berühmten geschnitzen Affen des Tosho-gu-Schreins hat er auch gesehen.

            Und was er im Mai 1989 von seinem letzten Besuch bei Samuel Beckett erzählt, in einem Heim in Paris, in dem die Alten in düsteren Zimmern herumhocken, in Rollstühlen, mit umwickelten Beinen, mit offenen Wunden im Gesicht: wollten wir das lesen, von dem Atmungsgerät in der Ecke von Becketts kleinem, karg möblierten Zimmer, von seinem Schlaganfall und den Zirkulationsstörungen, wollten wir erschrocken denken „ach, Beckett“: das hätte der weder gewollt noch so empfunden. Doch lesen wir hier nicht sowieso etwas, das gar nicht für uns bestimmt war: sondern für Frl. Ritzerfeld, Verlagsinterna: und lesen wir es (auch) nicht gerade deshalb: um durch die Ritzen ins Innere eines großen Verlags zu spähen.

  • Siegfried Unseld: Reiseberichte. Herausgegeben von Raimund Fellinger. Suhrkamp, Berlin 2020. 378 Seiten, 26 Euro.

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            Am liebsten gibt sie nichts von sich preis: nicht ihre Vergangenheit, nicht ihr Zimmer (das sie abschließt, das niemand der Familie, deren Kinder sie betreut, betreten darf: falls sie das Abschließen mal vergißt), nicht ihre Fotografien (von denen sie Hunderte, Tausende, Hundertausende macht), und schon gar nicht ihren Körper. (Das mit den Fotos, die man macht und bei sich behält, scheint nicht so selten: ich kenne eine Fotografin, die ganze Filme verschießt in nichtmal elf Minuten: und nie taucht auch nur ein einziges Bild davon auf. Niemand, sagt ihr Ex-Mann, ein begnadeter Fotograf, hat je eins ihrer Fotos gesehen).

            Sie besteht darauf, Vivian genannt zu werden, keinesfalls Viv, aber Vivienne wird irgenwann auch akzeptiert. Und manchmal verschweigt sie ihren Namen ganz: wer sie ist, muß nicht jeder wissen. Sie weiß es, das genügt, und sie will sein, was sie ist, ganz und gar, und das heißt: kein Alkohol, kein Kontrollverlust. So wenig Berührung wie möglich, kein Mann in ihrem Unterleib, den sie Moosboden nennt, sie habe, sagt sie, noch nie eine Hand gesehen, von der sie wünschte, sie würde ihr nahekommen. Und vielleicht ist ihre Kamera, die sie so exzessiv auf ihre Umgebung richtet, kein Heranholen der Dinge, der Menschen, keine Annäherung, sondern Abwehr, ein Schutzschild, hinter dem sie vor dem Anderen, das nicht sie ist, in Deckung geht.

            „Man sieht so einiges, bevor einem die Augen aus dem Kopf fallen.“ Dazu gehören: ein fürs Abendessen hergerichteter Truthahn, den sich ihr Großvater in einer Zinkwanne zwischen die nackten Schenkel preßt. Ein Pferdekopf in einer Blutlache. Der von ihrer Mutter ums Brot gewickelte Spüllappen („eine Umarmung, an der ich nicht teilhaben will“). Ihre ausgekämmten, in Briefkuverts gestopften Haare. Das in die Luft gestreckte, schlammverschmierte Hinterteil eines Straßenarbeiters. Eine Katze auf den Klaviertasten, nachdem Vivian dem Tier ein Paar Strümpfe über den Kopf gezogen hat.

            Wenn sie nicht fotografierend durch die Straßen stürmt, wenn sie nicht ihre Arbeitszeit als Kindermädchen dazu nutzt, einem ihrer Schutzbefohlenen in den Schlachthöfen von Chicago brutal die Augen zu öffnen für das wirkliche Leben, hortet sie Zeitungen in ihrem Zimmer, hortet Zeit und hat keine Zeit, was sie da hortet, zu lesen, „Mord, Vergewaltigung, Kidnapping, Brandstiftung“, und so häuft sich das Übel der Welt, bis es über ihr zusammenschlägt, und sie schläft, weil selbst das Bett unter der Last des Gehorteten ächzt, auf dem Fußboden ihres überwucherten Raums.

            (Und in der Passage, in der von einer Glastiersammlung die Rede ist, steht ein Satz, der in seiner schönen, klaren Rätselhaftigkeit in ‚Twin Peaks‘ gefallen sein könnte: „Die Hirsche machen immer nur, was ihnen gesagt wird.“)

            Daß es die Fotografin Vivian Maier ist, über die Christina Hesselholdt diesen Roman geschrieben hat, ist letzen Endes herzlich egal: wichtig ist nicht die Person, Hesselholdt könnte über sonstwen fabulieren: wie sie es tut, wie sie zu Werke geht, ist das Entscheidende, das, was mitreißt und riesiges Vergügen bereitet. Entzücken, klänge es in seiner altmodischen Manier nicht so exaltiert, wäre ein treffendes Wort. Es ist ein treffendes Wort. Wie auch Jubel. Leidenschaft, vor ihrer zivilisatorischen Zähmung. Denn Hesselholdt erzählt in einer so wunderbar sinnlichen Sprache, in der mit dem Sinnlichen auch das Verderbte gedeiht: was blüht, verblüht, verwelkt und verrottet. Das trägt japanische Züge, dieses Spiel mit dem Wollüstigen und dem Todbringenden, man begegnet ihm, wenn man Yoko Ogawa liest: auch sie beherrscht aufs Meisterhafte diese ganz und gar organische Verschränkung der Gegensätze, auch sie wühlt mit beiden Händen tief in der Welt, in Blüten und Blut, mit nackten Armen, bis zu den Ellbogen, bis unter die Achseln. Lust, nicht nur teilzuhaben: sondern Teil zu sein, sich Engel einzuverleiben und Dämonen, werden, vergehen, Moder sein, fruchtbar: und Grund für neues Entstehen. Was dazukommt, bei Hesselholdt, ist der Humor, der, wenn der Wind die Sätze wendet, aufleuchtet wie die hellere Unterseite der Olivenblätter, ein beiläufiger Humor, er hat was Lebenskluges, was Schnippisches manchmal, und weiß um das Wesen von Grausamkeit.

            „Kunst ist kein Hort der Gemütlichkeit“: und ’Vivian‘ ist große Kunst und eins dieser Bücher, in denen man bleiben will, über die Seiten hinaus. Und man verspürt nicht nur den Wunsch sondern geradezu die Gier, mehr und immer mehr von dieser Schriftstellerin zu lesen.

  • Christina Hesselholdt: Vivian. Roman aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin 2020. 206 Seiten, 21 Euro.

© 2020  ingrid mylo

Ingrid Mylo lebt in Kassel. Ihre Texte bei uns hier. Ihre Bücher:

Kaffeeblüten. Prosa, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1994.
Apropos Katherine Mansfield. Essay, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1998.
Das Treppenhaus. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2004.
Männer in Wintermänteln. Prosa, Das Arsenal, Berlin 2009.
Masken und Mandarinen. Fotos von Frank Horvat. Prosa, Gedichte, Edition Off, Paris 2009.
Zerlesene Träume. Gedichte mit Druckgrafik, AQUINartepresse, Kassel 2009.
Krähenspäne. 41 Gedichte, AQUINartepresse, Kassel 2011.
Das 100-Tagebuch. Documenta (13). Zusammen mit Felix Hofmann. Verlag getidan, Berlin 2015.
Kleine böse Absichten. Zusammen mit Peter Olpe (Illustr.). Verlag Johannes Petri/ Schwabe, Basel 2015
Zufälliges Blau / Verdichtungen. Prosa, Essays, Feuilletons. Verlag Das Arsenal, Berlin 2018 – Besprechung von Georg Seeßlen hier.

Ihre Internetseite und eine vollständige Bibliografie hier.

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