Keiner wie die anderen
Neu als Hörbuch: Die ersten sechs Folgen des ARD-Radiotatorts. Abgehört, abgewogen und besprochen von Ulrich Noller.
Es begann am 16. Januar 2008. Mit einer schnellen, assoziativ erzählten, opulent produzierten Geschichte um V-Leute, organisierte Drogenkriminalität, Ehre und Rache in Aachen und andernorts in NRW. Der Emir, so hieß der erste Teil des ARD-Radiotatortes, der da ausgestrahlt wurde, und zwar zeitgleich bei einem halben Dutzend öffentlich-rechtlicher Sender.
Der Kölner WDR-Produktion folgten im Lauf des Jahres (bislang) zehn weitere Kriminalhörspiele aus Baden-Württemberg, Bayern Thüringen, Bremen, Hamburg, Berlin-Brandenburg und Saarbrücken, die zwar nicht zeitgleich, aber jeweils innerhalb einer Woche bei allen beteiligten Sendern ausgestrahlt wurden.
Eine Radio-Variante des berühmten „Tatort“-Fernsehformates, hergestellt allerdings mit den spezifischen Mitteln des Hörfunks: grundverschiedene Hörspiele mit gemeinsamer Reihenidentität, produziert auf der Höhe der Technik, erdacht entweder von bekannten Hörspielautoren oder von mehr oder minder etablierten Kriminalschriftstellern wie Frank Göhre, Robert Hültner und Christine Lehmann.
Sechs dieser Radio-Tatorte sind mittlerweile als Hörbuch erschienen, neben Der Emir von Peter Meisenberg auch Schmutzige Wäsche von Frank Göhre, Schrei der Gänse von John von Düffel, Schöne Aussicht von Volkmar Röhrig, Irmis Ehre von Robert Hültner und Himmelreich und Höllental von Christine Lehmann.
Bekannt aus Funk, nicht Fernsehen: Die Radiotatortautoren Göhre, Hültner, Lehmann
Wessen Hörgewohnheiten Hörbücher den Hörspielsendeplätzen der öffentlich-rechtlichen Sender gegenüber bevorzugen, der ist mit dieser Edition natürlich zwar erst einmal später dran; schon bevor der erste Lehmann-Radiotatort auf CD herauskam, wurde beispielsweise beim SWR der zweite Fall gesendet.
Trotzdem lohnt sich auch und gerade das Hören der Radiotatort-CD’s. Nicht nur, weil diese sehr aufmerksam und hochwertig gestaltet wurden, sondern vor allem, weil man mit ihrer Hilfe den Vergleich zwischen den verschiedenen Produktionen wagen kann, und da tun sich bei ähnlicher Grundkonstellation doch ganz erstaunlich unterschiedliche Variationsmöglichkeiten auf:
Der Bayerische Rundfunk baut auf dialektgefärbte Regionalität in der Tradition alpenvorländischer Heimatliteratur; der WDR setzt dem ein perfekt produziertes Stück Thriller-Urbanität mit multikulturellem Background und halbafghanischer Hauptfigur entgegen; der NDR scheitert, wenn auch auf hohem Niveau, mit einer Geschichte zum schwierig spannend umsetzbaren Thema „Produktpiraterie“, der MDR glänzt mit einer packenden Stasi-Ossi-Wessi-Story um das in Nordhausen/Harz gelegene Hotel „Schöne Aussicht“; der SWR eröffnet Welten auf dem Land, weit weg vom Metropölchen Stuttgart; Radio Bremen beweist, dass der Wald immer für einen Kitzel gut ist, auch und gerade dann, wenn einem eigentlich die richtigen Mittel zum Kitzeln fehlen.
Inhaltlich und produktionsästhetisch: Kein Fall wie die anderen
Bemerkenswert ist, nach dem Anhören aller sechs Teile, vor allem viererlei: Wie unterschiedlich erstens die einzelnen Geschichten geraten sind, inhaltlich wie atmosphärisch wie auch ästhetisch gesehen. Wie stark sich zweitens auch in der Form des Hörspiels spezifische Schreibweisen der einzelnen Krimiautoren widerspiegeln, wenn auch auf andere Weise als in ihren Geschichten, nämlich, natürlich, bildstärker und dialogischer. Wie wichtig drittens eine prägnante Einführung starker Hauptfiguren fürs weitere Gelingen des Ganzen ist; das ist deutlich anders, nämlich viel bedeutsamer als in der Literatur. Und wie sehr sich viertens Inhalt und Produktionsweise bedingen: Es gibt sehr starke, aber auch eher schwache Radiotatorte, und richtig überzeugend sind tatsächlich nur die, bei denen eine dichte Geschichte eine starke Produktion erfährt. Eine dünne Story mit einer dicken Produktion retten zu wollen, das funktioniert nur bedingt, da ist der Krimi unerbittlich.
Spannend zu hören ist auch, wie unterschiedlich (opulent) die einzelnen Sender ihre Stoffe umsetzen; allen voran der WDR mit seiner wirklich beeindruckend zeitgemäß-bunten, immer wieder überraschenden Inszenierung. Klasse gelungen sind auch die atmosphärisch dichten Sequenzen in den Folgen des MDR, des BR und des SWR. Keine Frage: Da zeigen die Wortschmieden der öffentlich-rechtlichen Sender ihr Potenzial, da beweist eine Kunstform aus der Vergangenheit ihre Tauglichkeit für Gegenwart und Zukunft.
Nicht immer zufriedenstellend beantwortet: Die Frage der akustischen Authentizität
Wobei die meisten der Produktionen letztlich auch Wünsche offen lassen, und das ist zugleich auch der zentrale Kritikpunkt, den man dem Projekt des Radio-Tatortes gegenüber hegen kann: Bei aller Opulenz und Perfektion fehlt es vielen dieser Hörspielen immer wieder an Lebendigkeit; man bindet, ohne sie tatsächlich hören zu können, die Studioatmosphäre, in denen die Stücke brillant produziert wurden, in seine Rezeption mit ein. Das ist schade, weil es die Brüche, Untiefen und Zwischentöne, die wirklich guter Kriminalliteratur zu eigen sind, auf technischem Wege akustisch ausschließt: Der Fluss, die Wiese, der Wald und vor allem die Straße sind in dieser Kunstform im Großen und Ganzen – leider – nur Geräusche. Sie täuschen vor, zu sein, sie entstammen tatsächlich dem Archiv, sie dienen der Perfektion, sie schließen das Leben letztlich aus. Und man fragt sich, ob so einem Radiotatort nicht auch eine akustische Authentizität, also Aufnahmen im Freien und vor Ort, gut anstehen würden.
Ulrich Noller
• Peter Meisenberg: Der Emir (WDR)
• Christine Lehmann: Himmelreich und Höllental (SWR)
• Frank Göhre: Schmutzige Wäsche (NDR)
• Volkmar Röhrig: Schöne Aussicht (MDR)
• Robert Hültner: Irmis Ehre (BR)
• John von Düffel: Schrei der Gänse (Radio Bremen)
Der Hörverlag 2008. jeweils 14,95 Euro.