Geschrieben am 1. Juni 2022 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2022

Hazel Rosenstrauch zu Georgi Gospodinov

Ein Trapper der Vergangenheit

Aus guten Gründen wird oft über Demenz geschrieben und gesprochen, bei Georgi Gospodinov kann man (anders als bei anderen Beiträgen zum Thema) viel lachen. Der Autor ist noch nicht alt, Ende der 1960er Jahre, zudem in Bulgarien geboren, sein Roman ist klug und witzig und hat nichts mit Betroffenheits-Kitsch gemein. Er beginnt an einem “denkwürdigen Tag”, dem 1.September 1939 in Wien, hüpft schon auf der siebenten Seite ins 12. Jahrhundert, und sammelt Geschichten aus der Vergangenheit, eigentlich aus Vergangenheiten im Plural, die er seinem Kollegen/Freund/Alter Ego Gaustín zur Verfügung stellt. Sie treffen sich in der Schweiz, die nicht nur ein Paradies für die Lebenden, sondern auch für die Sterbenden ist. Ob es den Erfinder eines gerontopsychiatrischen Zentrums (mit Vergissmeinnicht vor der Klinik) gibt oder der Ich-Erzähler mit sich selbst spricht, wird nie ganz klar. Aber klar ist, dass das Re-Enactment von Vergangenheit für Demente reichlich Stoff für Anspielungen und Witz enthält. 

Gaustín hat erst einige Zimmer, dann eine ganze Klinik so eingerichtet, dass sich die Patienten in ihre Jugend zurück versetzt fühlen, später soll es eine ganze Stadt werden, und schließlich werden die Länder in einem Referendum entscheiden, in welcher Zeit das Land leben wird. Besonders angetan haben es dem Erzähler die 1960er Jahre, die “wie auch alles andere bei uns […] erst zehn Jahre später nach Bulgarien” kamen, weshalb er sich an Kunstleder mit Rautenmuster, den Mantel mit Holzknöpfen und vieles andere aus jener Zeit deutlich erinnert. 

Er klopft an Türen von allerlei Jahren, denkt über einen Reiseführer für Sterbetourismus nach und berichtet von dem Zahnarzt, der sich nicht an die Gesichter, sondern an die Gebisse seiner Patienten erinnert. Herr N. bekommt seine Vergangenheit von einem ehemaligen Agenten nacherzählt – und ist verlegen, weil er ein so langweiliges Leben hatte, eine gute Gelegenheit, um den Agenten zusätzliche Geschichten erfinden zu lassen. “Überall erhob sich die Vergangenheit, füllte sich mit Blut und wurde lebendig.” Nicht nur verschwindet die Zukunft, es gibt sogar eine Futurophobie und Überlegungen, ob man Vergangenheit zu Zukunft recyclen kann. Irgendwann taucht die “radikale Idee auf, ein Vergangenheitsreferendum abzuhalten”, in dem entschieden werden soll, in welche Zeit das Land zurückkehren soll. Die Menschen laufen in Nationaltrachten herum, jedes Land (innerhalb Europas) entscheidet sich für eine andere Vergangenheit, auch dies Gelegenheit für böse Anspielungen. 

Bei einer Reise in seine eigene Vergangenheit, in Bulgarien, trifft der Erzähler einen Schulfreund, der zum “Dealer für Vergangenheit” geworden ist und der dann auch vor dem Referendum die “Plastikerinnerungen” für beide – einander bekämpfende – Parteien inszeniert. “Ein Großteil der Menschen passt sich, wie es eigentlich immer gewesen ist, unerwartet schnell an.” 

Georgi Gospodinov spielt mit vielen klugen und einigen billigen Beobachtungen aus Literaturbetrieb, Sprache, Politik, macht sich über den Ostblock  lustig und erwähnt Hippies, die sich die Haare schneiden lassen. Das mag, so komprimiert, nach Geblödel klingen – über Mentalitäten und Erfahrungen (in Österreich, Deutschland, die Schweiz oder den Ostblock). Es ist mehr, denn er trifft die wunden Punkte einer Gesellschaft ohne Perspektiven und verkleidet die “bösen Geister” in geistreiche Gewänder. “Gott ist nicht tot, er ist dement.” 

Wer sich mit eigenem Gedächtnisverlust oder dem befreundeter Menschen herumschlagen muss oder sich gar nach besseren Zeiten (im vorigen Jahrhundert) sehnt, findet reichlich Stoff für einen heiteren Umgang mit der vergangenen, der gegenwärtigen und vielleicht ja auch künftigen Geschichte. 

Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht. Deutsch von Alexander Sitzmann. Aufbau Verlag, Berlin 2022. 342 Seiten, 24 Euro.

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