
Höchste Qualität in arktischen Sümpfen
Sibirien ist ein riesiges, primär mit negativen Assoziationen belastetes Land, und dann entschließt sich eine Engländerin, dort nach Klavieren zu suchen. Den Anstoß gab eine Pianistin, die sie in einer Jurte getroffen hatte. Sophy Roberts – es ist ihr erstes Buch! – reiste kreuz und quer durch das von Eis und Sümpfen, aber auch von großartigen Menschen geprägte Land und findet sowohl Klaviere wie auch hilfsbereite Menschen, außerdem kennt sie viele Geschichten, die sie in wissenschaftlicher wie in „schöner“ Literatur gefunden hat, von Anton Tschechows Reise in die Strafkolonie auf Sachalin bis zu der von Franz Liszt ausgelösten Pianomanie. Sie beschreibt die Grausamkeiten und die Schönheit, von der dieses Gebiet zwischen östlichem Ural und Pazifik geprägt ist, und herausgekommen ist eine Kultur- und Sozialgeschichte, nein, eine wunderbare Mischung aus Landesgeschichte, Landschaftsbeschreibung, Erzählung von unbekannten, großartigen Menschen, die ihr bei der Suche behilflich sind, und die Nacherzählung von Passagen, die sie in Biographien, Romanen oder Sachbüchern fand. „Sibirien ist viel bedeutsamer als eine bloße Region auf der Landkarte. Es ist ein Gefühl, das haften bleibt wie eine Klette, eine Temperatur, das Geräusch schläfriger Flocken, die auf Schneekissen sinken, und das Knirschen von hinten kommender unregelmäßiger Schritte.“ Es ist eine Reise durch Zeiten, Empfindungen und Landschaften, mit grauenvollen wie herzergreifenden Vignetten, immer klug, neugierig, differenziert. Man versteht nach der Lektüre mehr von der hohen Musikkultur, die sich nicht nur in Moskau und Petersburg, sondern auch jenseits des Ural seit der Kolonisierung im 17. Jahrhundert entwickelt hat.
Von jedem Klavier oder Piano, das sie findet, nennt sie die Fabrik samt Seriennummer, die meisten dieser Instrumente haben selbst eine interessante Geschichte – allein der Transport, manchmal per Pferdekutsche, im günstigsten Fall mit der luxuriösen Transsibirischen Eisenbahn, ein andermal mit einem Schiff, das acht Monate unterwegs war, bis es auf Kamtschatka bei der Frau des dortigen Gouverneurs eintraf.

Sie hat Anzeigen aufgegeben, auf die sie erstaunliche Rückmeldungen bekam, sich mit Lokalhistorikern und Klavierstimmern, Geologen, Priestern oder auch Nenzen, jenen teils umgebrachten, teils deportierten Ureinwohnern getroffen. Nebenbei, mit leichter Hand, kommt sie auf die Wurzeln der Altai-Kultur zu sprechen, die bis zu einem skythischen Stamm und damit zu einer Wiege der Menschheit zurückzuführen ist. Solche Ausflüge in die fernste und noch nahe Geschichte – immer rund um ihre Klaviersuche – sind nie belehrend, oft poetisch, immer erstaunlich, klug, voll überraschender Details. Sie erzählt von den im Zarenreich deportierten Dekabristen und den polnischen Aufständischen, den nach der Revolution an geheimem Ort verscharrten Romanows und den Zwangsarbeitern, von Wissenschaftlern, für die unter den Sowjets eine eigene Stadt – Akademgorodok – gegründet worden war, und von den Quellen der hohen russischen Musikkultur.
Roberts hat binnen zweier Jahre mehrere Reisen unternommen, vom Ural bis zu den zwischen Russland und Alaska immer noch umstrittenen Kommandeurinseln, „die stille letzte Ellipse am Ende … dieses riesigen Landes… der entfernteste Ort, den man in Russland ansteuern kann“.
Nicht nur Ort und Thema sind ungewöhnlich, auch die Kombination von profunder Kenntnis – der Geschichte, Geographie, Mechanik der Klaviere, prominenter und weniger prominenter Einwohner und Besucher – und oft sehr poetischer Beschreibung von Landschaften und Gesichtern, Klängen, Pflanzen oder auch von Öl und Industrieschrott verunstalteten Inseln am fernsten Ende des untergegangenen sowjetischen Reichs.
Zu den vielen Überraschungen, die dieses 400 Seiten starke Buch (mit Karten und Fotos, ausführlichen Anmerkungen, Literaturhinweisen und Namensverzeichnis) bietet, gehört, dass die Autorin laut Klappentext damit ihr erstes Buch vorlegt. Ein eindrucksvolles Debüt, das eine goldene Culturmag-Medaille inklusive Übersetzerinnenpreis verdiente (wenn es sowas gäbe).
Sophy Roberts: Sibiriens vergessene Klaviere. Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen (The Lost Pianos of Siberia, 2020). Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2020. 398 Seiten, 26 Euro.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.