Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Harun Farocki zu „The Night of the Hunter“

Als ob alles von geheimen Kräften gefügt wäre

Dass wir Ihnen diese exemplarische Filmanalyse präsentieren können, verdankt sich dem Harun Farocki Institut, dem Neuen Berliner Kunstverein, dem Verlag der Buchhandlung Walther König in Köln sowie Herausgeber Volker Pantenburg. Sie alle haben sich zusammengetan, um Werk und Schriften von Harun Farocki, dieses großen Filmemachers und Essayisten, zugänglich zu halten – und zu machen. „The Night of the Hunter“, wie dieser Text in der Filmkritik Nr. 308, August 1982, schmucklos überschrieben war, findet sich in:

Harun Farocki: Ich habe genug! Texte 1976-1985. Schriften. Band 4. Herausgegeben von Volker Pantenburg. Harun Farocki Institut. Neuer Berliner Kunstverein, n.b.k, Berlin 2018, erschienen im Verlag der Buchhandlung König, Köln (auch Vertrieb).  472 Seiten, 19,80 Euro. – Wir danken für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Hier nun Harun Farocki selbst:

In diesem Film gibt es Brüderchen John und Schwesterchen Pearl, einen versteckten Geldschatz, eine schöne Witwe und eine Stiefmutter, dazu einen reisenden Prediger. Robert Mitchum ist der Prediger, er hat auf die Knöchel seiner linken Hand die Buchstaben HATE tätowiert und auf die seiner rechten die Buchstaben LOVE, auf jeden Finger mit Ausnahme der Daumen einen Buchstaben. 

Der Film spielt in den dreißiger Jahren. Die Gegend, in der er spielt, ist sehr abgesondert. Alle Personen haben ein besonderes Verhältnis zur Religion. Es wird viel gesungen, Mitchum singt mit tiefer, voller Stimme, melancholisch, und sein Singen macht Angst. Der Fluß Ohio begleitet die Erzählung.

Es geht um Geld. Ein Mann hat eine Bank überfallen, dabei ist es zu einer Schießerei gekommen. Er blutet und kommt mit seiner Beute – 10 000 Dollar – nach Haus, die Frau ist nicht da. Der Mann nimmt seinem Sohn John das Versprechen ab, für die kleine Pearl zu sorgen und niemandem zu sagen, wo das Geld versteckt ist, nicht einmal der Mutter. Auch das kleine Mädchen soll schwören, aber da kommt schon die Polizei.

Der Wanderprediger ist in die Stadt gekommen, er hält Zwiesprache mit seinem Gott: „Was wird es sein, Herr, wieder eine Witwe? Waren es sechs? Zwölf?, ich kann mich nicht erinnern.“ Er wird wegen Autodiebstahl verhaftet und bekommt dreißig Tage. Im Gefängnis kommt er mit dem Bankräuber zusammen, der aber nicht sagt, wo das Geld versteckt ist, bevor man ihn aufhängt.

Das ist geschehen, bevor Mitchum in Spoons Ice Cream Parlor der Witwe des Bankräubers, den beiden Kindern und auch Spoon und seiner Frau eine Darbietung gibt. Er läßt seine linke Hand Hate mit der rechten Love ringen, bis die Liebe siegt. (1) Die Kaufleute laden Mitchum zu einem Gemeindepicknick ein. 

Das Picknick findet am Fluß statt. Mitchum singt ein kirchliches Lied und wird von der Gemeinde angenommen, der Witwe zugeführt. Eine ziemliche Kuppelei ist das, wie das arrangiert wird, daß er etwas abseits der anderen mit der Witwe zu stehen kommt. Was er mit der Frau bespricht, können wir nicht hören, aus mehreren Richtungen gibt es Aufnahmen von den beiden, ab- geleitet aus einer Forterzählung des Nebensächlichen. Das Picknick wird eher beschrieben als erzählt, mit Sorgfalt ist darauf geachtet, daß beim Wechsel des Kamerastandpunkts noch die kleinste Handlung sich stimmig fortsetzt, die Anschlüsse jeder Überprüfung standhalten … Die Umschnitte behaupten auf das treuherzigste die Richtigkeit der kinematographischen Operation, die eine Wahrheit sein will. 

Ein Film wie ein Fluß, nicht wie eine Straße. Einer Straße, vor allem einer napoleonischen, sieht man an, daß sie angelegt ist, um von A nach B zu führen. Ein Fluß ist ein natürlicher Transportweg, die Orte A und B haben sich seinem besten Verlauf gefügt. Ein Mensch, der, vielleicht ein Kissen im Fenster, auf eine Straße sieht, wird wie ein armer Mensch angesehen, während es als bereichernd gilt, auf das Fließen eines Flusses zu schauen. 

Mitchum wird die Witwe heiraten. Das Geld, das er sucht, steckt in einer lumpigen Puppe, die Schwesterchen mit sich rumträgt. Einmal holt Schwesterchen ein paar Scheine heraus und schneidet aus den Dollars Papierpuppen. Brüderchen kann diese gerade noch beiseitebringen und vor dem Prediger verbergen, ein Püppchen flattert an Mitchums Füßen vorbei. 

Er ist ein falscher Prediger, aber was heißt das schon. Er spricht mit seinem Gott und dieser trägt ihm auf, Geld zur weiteren Verbreitung von Gottes Wort aufzutreiben und sündige Frauen zu bestrafen. In der Hochzeitsnacht steht Shelley Winters im Nachthemd am Spiegel und läßt selbstvergessen die Hand von ihrem Nacken bis zum Busen gleiten, tritt erwartungsvoll in das Schlafzimmer. Mitchum liegt abgewendet auf dem Bett. Er hebt ihr den Arm entgegen, etwa wie ein Priester die Hand zum Kuß reicht, oder wie aus einer Zärtlichkeit in tiefem gegenseitigem Einverständnis. Er will aber nur das Fenster geschlossen haben und mit der Hand nur auf das Fenster gewiesen haben. Er führt die Frau vor den Schlafzimmerspiegel, der wie in einem Modesalon frei im Raum steht, und hält einen Vortrag über die Lust und das Kinderkriegen. 

Der Film ist aus einer Zeit, in der man im amerikanischen Kino ein Ehe- paar nicht in einem Bett liegend zeigen durfte, hier gibt es nur ein Bett und Mitchum verhindert, daß gegen den Code verstoßen wird. Bald sehen wir Shelley Winters, wie sie Mitchum beim Predigen assistiert, Fackeln brennen, die Gemeinde ist ekstatisch, die Pfarrersfrau trägt jetzt die Haare unter einem Tuch. 

Das nächste Mal im Schlafzimmer fällt das Licht von oben auf die Frau und das Bett und die Lichtkegel schneiden sich so mit den Wänden, daß eine Form wie die der Bögen einer Kathedrale erscheint. Mitchum schlägt seine Frau. Der Sohn wacht in dieser Nacht von einem Geräusch auf. Am nächsten Morgen heißt es, die Mutter sei mit dem Ford Model T weggefahren. 

Wo sie geblieben ist, das zeigt eines der schönsten Bilder aus dem Bilderbuch der Filmgeschichte. Sie sitzt am Steuer des Autos, das auf dem Grund des Ohio liegt. Ihr langes Haar umschwebt sie, Algen wollen sie umarmen. Der betrunkene Fischer hat die Angel ausgeworfen, die sich am Auto verhakt, er schaut hinunter und sieht dieses Bild, den nächsten Augenblick ist es verschwunden, er kann dieses Bild nicht glauben. 

(Strömung, Wassertemperatur, Lichtbrechung: etwas unter Wasser kann erscheinen und verschwinden, davon habe ich schon ein paar Mal gelesen. Die schönste Anwendung bei Gavin Lyall, in Finnland schaut ein Mann auf einen See, und auf einmal wird dieser bis zum Grunde klar und ein Flugzeugwrack erscheint, darin der tote Pilot. Der tote Pilot gehört zum Zweiten Weltkrieg, sein aufblitzendes Erscheinen gibt der da ablaufenden Gegenwartsgeschichte, einer Ost-West-Sache, eine neue Tiefe. Man muß dazu wissen, daß der Zweite Weltkrieg für den englischen Agentenroman so wichtig ist wie der Bürgerkrieg für den Western.) 

John hatte dem Vater geschworen, auf Pearl achtzugeben und auf das Geld. Nachdem die Mutter fort ist, bedroht der Prediger Pearl, so daß John eine unmögliche Wahl treffen muß. Natürlich gelingt es den Kindern zu fliehen … Pearl ist ein ziemliches Luder. Als der Prediger seine Haß-Liebe-Fingernummer abzog, da saß sie auf seinem Schoß wie eine verzückte Geliebte. Der Vater wollte, daß auch sie einen Eid leistet, da hat sie gekichert. Nun kostet sie es aus, daß ihr Bruder die Verantwortung hat. Die Puppe, in der das Geld steckt, hält sie schlenkernd an einem Arm, in dieser mitleiderregenden Art. 

Die Kinder fliehen vor dem Stiefvater in einem Kahn. Es gibt in der Folge Bilder ihres treibenden Schiffs im Hintergrund und im Vordergrund ist ein Tier, ein Hase, eine Schildkröte, ein Fuchs, als wollten die Tiere die Kinder beschützen, die einmal auch schlafend den Fluß hinuntergetragen werden. Der Prediger folgt den Kindern, auf einem Pferd reitet er singend bei Tag und Nacht. Er trägt ein kleines selbstgewisses Lächeln, als wüßte er, daß eine geheime Kraft ihn wieder mit den Kindern zusammenbringen wird. Es wird einem schmerzlich bewußt – oder man sollte mal drüber nachdenken, was das bedeutet –, daß der Kinematograph kein Bild von einem bestirnten Himmel machen kann, daß man künstliche Sterne braucht, um ein Bild zu machen, wie es jeder in sich trägt. Sogar der Kontrast zwischen Himmel und Erde ist für einen Film zu groß. 

Während man diesem Film zusieht, als ob alles von geheimen Kräften gefügt wäre, ist das ein ganz ausgetüftelter Film. John sieht den Prediger bei seiner Fingernummer und erschrickt, warum erschrickt er, er kann doch gar nicht wissen, was der Prediger vorhat, hat er eine Vorahnung? Nein, er erschrickt nur, weil der Prediger die Puppe mit dem Geld in der Hand hat, als er Pearl für sich zu gewinnen sucht, um ihrer Mutter zu gefallen, dabei so tut, als müsse er weiterziehen … Dabei wissen wir noch nicht, daß das Geld in der Puppe steckt, müssen also Johns Erschrecken für einen Instinkt halten, erst im nachhinein läßt sich das durchschauen. Bei all dieser Getüfteltheit erzählt der Film von dieser abgesonderten Gegend, wie nur einer von einer Gegend erzählen kann, in der er aufgewachsen ist. Der Film schaut den Leuten (mit ihren ausgetüftelten Handlungen und Worten) so arglos zu, daß man beinahe vergißt, daß es hinter dieser hier erzählten Welt noch andere geben könnte. Eine sehr kunst- volle Studiostilistik, für diesen Film sind genauso viele Vorgärten aufgebaut worden wie Innenräume, so daß das gewohnte Verhältnis von Szene und Auf- tritt gestört ist. Ein Film, bei dem es um dieses eine Mal geht. Ich will auf den Unterschied hinaus, daß eine Frau, die einen Mann kennenlernt, denken kann: Bei meinen Liebesgeschichten ist es so und so, und auch denken kann: Mit ihm ist es so (und so). In diesem Sinn hat dieser Film einen eigenen Stil, eine eigene Sprache. Alle Stilelemente und alle Sprachelemente lassen sich herleiten, aber darauf kommt es nicht an. 

In den USA ist das möglich, da kann man behaupten, in einer bestimmten Region gäbe es ein abgesondertes Leben, das mit dem explorierten in New York oder sonstwo nichts zu tun habe. Noch heute kann James M. Cain Romane schreiben, in denen in der Provinz ein Leben nach eigenem Gesetz vorkommt, was für das Europa der Nachkriegszeit kaum vorstellbar ist. Bekannt ist die Figur des Reisenden, der eine Panne hat und dabei in die unvermutete Fremde gerät, in diesem Film gibt es diese Figur nicht, der Film selbst ist in diese Fremde geraten und gibt sie neigungsvoll wieder. 

Die Kinder finden Unterkunft bei Lillian Gish, einer resoluten Frau, die Waisenkinder bei sich aufgenommen hat. Mitchum findet das heraus und belagert ihr Haus, er sitzt im Garten und singt. In diesen Gesang stimmt Gish, die, ein Gewehr auf den Knien, wacht, ein, mit diesem Gesang dringt Mitchum in das Haus ein. Er wird niedergeschossen.

Als die Polizei Mitchum wegen des Mordes an der Witwe verhaftet, ist John verzweifelt. Er schüttet das Geld über dem Verwundeten aus. Mit seinen poetischen Taten hat er ein Märchen in Gang gesetzt, in diesem Märchen hat der Fluß die Mutter verschlungen und die Kinder in eine neue Heimat getragen. Das Märchen, das John so gerne rückgängig machen würde, ist jetzt aus. Der Wanderprediger wird vor der aufgebrachten Kirchengemeinde, die ihn lynchen will, gerettet, worüber der Henker sich freut. 

In diesem Film gibt es ein Moment, das ganz herausspringt. Die Kinder sind unterwegs und betteln um Brot. Sie bekommen etwas und werden fortge- schickt, man sieht, daß zu dieser Zeit in den USA viele Kinder unterwegs sind ohne Eltern und Brot. Ich schwamm einmal in einem Schwimmbecken und als ich, um Luft zu holen, aus dem Wasser schnellte und die Augen aufriß, sah ich, daß gleich neben dem Schwimmbecken das Meer war; ich schloß die Augen und tauchte mit dem Bild des schäumenden Meeres auf den Netzhäuten in das gefilterte Wasser des Beckens zurück. 

Laughton und Mitchum beim Dreh

The Night of the Hunter (Die Nacht des Jägers). USA, 1955; p Paul Gregory, United Artists. r Charles Laughton. b James Agee, nach dem Roman von Davis Grubb. k Stanley Cortez. s Robert Golden, t Stanford Naughton. d Robert Mitchum, Shelley Winters, Lillian Gish, James Gleason, Evelyn Varden, Peter Graves, Don Beddoe, Billy Chapin, Sally Jane Bruce, Gloria Castillo, Mary Ellen Clemons, Cheryl Callaway. – 35 mm, Schwarzweiß, 93 Min. 

Filmkritik, Nr. 308, August 1982, S. 353–357. [HaF] Teil des Hefts „Zwei Wochen Paris“ (1)

Anm.: (1) “Now watch and I’ll show you the Story of Life. The fingers of these hands, dear hearts! – They’re 
always a-tuggin’ and a-warrin’ one hand agin’ t’other. (He locks his fingers and writhes them, crack- ling the joints.) Look at ’em, dear hearts! (…) Old Left Hand Hate’s a-fightin’ and it looks like Old Right Hand Love’s a goner! (…) But wait now! Hot dog! Love’s a-winnin! Yessirree! (…) It’s Love that won! Old Left Hand Hate’s gone down for the count (he crashes both hands onto the table).”
Nach: Agee On Film. Volume Two. Five Film Scripts by James Agee, foreword by John Huston, New York: McDowell, Obolensky Inc., 1960.



Tags : , , , ,