Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

Hartl on Highsmith (3): Der Mörder im Haus – „Tiefe Wasser“

Im November erscheint bei Diogenes eine Neuausgabe von Patricia Highsmiths „Tiefe Wasser“, zu der Gillian Flynn das Nachwort* geschrieben hat. Ich kenne das Nachwort noch nicht, bin aber schon sehr gespannt darauf. Denn als ich „Tiefe Wasser“ gelesen habe, musste ich mehr als einmal an „Gone Girl“ denken. Highsmiths Roman über eine zutiefst unglückliche Ehe ist ein wichtiger Vorläufer zu „Gone Girl“ und dem domestic thriller.

Mörderische Ehe

Erzählt wird die Geschichte von Victor und Melinda Van Allen. Sie haben eine Tochter und leben in Little Wesley – ein Ort, der das Kleinstädtische schon im Namen trägt. Er wirkt wie einer der typischen New-England-Vororte der 1950er Jahre. Man kennt und grüßt einander, es gibt gesellige Pflichtveranstaltungen und Gerede. Victor Van Allen lebt gerne in diesem Ort, er ist angesehen und hat einige Nachbarn, die er als Freunde betrachtet. Außerdem betreibt er dort mit dem geerbten Geld seiner Familie einen kleinen, aber feinen Verlag, der maximal zwei Bücher im Jahr herausbringt. Sie müssen perfekt sein: fehlerlos gesetzt, auf edlem Papier. Ohnehin ist ihm wichtig, dass er stets die Haltung bewahrt.

„Vic tanzte nicht, allerdings nicht aus den Gründen, die sich die meisten Nichttänzer dafür zurechtlegen. Er tanzte schlicht deshalb nicht, weil seine Frau gern tanzte. Seine verstandesmäßige Erklärung für diese Haltung war dürftig, und er nahm sie sich keinen Moment lang ab, obwohl sie ihm jedesmal in den Sinn kam, wenn er Melinda tanzen sah: sie wirkte unerträglich albern, wenn sie tanzte. Sie machte das Tanzen zu einer peinlichen Angelegenheit.“

Schon dieser erste Absatz im ersten Kapitel des Buchs macht deutlich, dass Vic mit Herablassung auf die Welt und seine Ehefrau schaut. Melinda und er sind ein unglückliches Ehepaar, sie haben sich eingerichtet in ihren feindseligen Ecken. Von dort aus blickt Vic mit herausgestellter Gelassenheit auf die Flirts und Affären seiner Ehefrau. Diese Gelassenheit macht Eindruck – bei den Nachbarn, aber auch den Männer, die mit seiner Ehefrau schlafen. Jedoch ist sie nur vorgeschoben, tatsächlich beobachtet Vic diese Männer ganz genau. Das wird schon auf der Party deutlich, auf der Vic erkennt, dass Melindas neueste Eroberung ein gutaussehender pausbäckiger junger Mann namens Joel Nash ist. Auf der Party nun sagt Nash ihm, dass er ihn für „hochanständig“ hält, weil er ihn nicht aus Eifersucht verprügelt.

Joel Nashs Affektiertheit in der Wortwahl berührte Vic peinlich. »Ich weiß Ihre Ansicht zu schätzen«, sagte er mit schmalem Lächeln, »aber ich vergeude meine Zeit nicht damit, anderen Leuten eins auf die Nase zu geben. Wenn ich jemanden wirklich nicht mag, bringe ich ihn um.“

Das Cover einer früheren Ausgabe – mit Hinweis auf Fortgang der Handlung

Nash ist geschockt von diesem vermeintlichen Scherz. Schließlich wurde Melindas früherer Geliebter tatsächlich in seinem Apartment in Manhattan ermordet und der Täter bislang nicht gefunden. Vics Behauptung macht natürlich die Runde in Little Wesley, aber Vic kann sich gut damit herausreden, dass es offensichtlich ein Witz war.

Bereits in diesem ersten Kapitel legt Patricia Highsmith kunstvoll die Grundlagen der weiteren Handlung. Zunächst einmal ist es wichtig, dass die Sympathien eher auf Vics Seite liegen. Er ist der gehörnte Ehemann, der duldsam, aber mit einem Hauch Verachtung das Verhalten seiner Ehefrau billigt. Später wird auch klar, dass er derjenige ist, der sich mehr um die gemeinsame Tochter kümmert. Melinda hingegen wird lediglich aus Vics Perspektive geschildert. Sie erscheint als verantwortungslose, egoistische, vergnügungssüchtige und leicht dümmliche blonde Frau, die mit nichts zufrieden ist. Je größer die Empathie für Vic, desto spannender wird das Buch.

Spiel mit Rollenvorstellungen

Von Anfang wird Vic alles andere als typisch männlich gezeichnet. Körperlich in allem eher durchschnittlich hat er „unschuldige blaue Augen“, sagt über sich selbst, er habe keinen Stolz und besticht vor allem durch seine Langmut. Sexuelles Interesse oder Eifersucht zeigt er gegenüber seiner Ehefrau nicht. Stattdessen kümmert er sich um sie. Als Melinda und ihr neuster Flirt Ralph Godsen betrunken im Wohnzimmer liegen, füttert er seine Ehefrau sogar mit dem von ihm zubereiteten Rührei.

„Er servierte die leicht gesalzenen und gepfefferten Eier auf zwei angewärmten Tellern. Melinda lehnte erneut ab, aber er setzte sich neben sie auf das Sofa und fütterte sie in kleinen Häppchen mit der Gabel. Jedesmal wenn sich die Gabel näherte, sperrte sie gehorsam den Mund auf. Dabei starrten ihre Augen ihn die ganze Zeit an und zeigten den Ausdruck eines wilden Tiers, das dem menschlichen Futtermeister nur gerade so weit traut, daß es das auf Armeslänge gereichte Futter annimmt, aber nur, wenn nichts, was einer Falle ähnelt, in Sicht und jede Bewegung des Futtermeisters langsam und sanft ist. Mr. Gosdens rotblonder Kopf lag mittlerweile auf ihrem Schoß. Er schnarchte auf unschöne Weise mit offenem Mund. Wie von Vic vorausgesehen, verweigerte Melinda den letzten Bissen.“

Dieses passiv-aggressive Verhalten ist typisch für ihre Ehe. Mehrfach versucht Melinda eine heftige Reaktion zu provozieren, aber er verweigert ihr sogar Anzeichen von Eifersucht. Offenbar hat er keinerlei Besitzdenken gegenüber seiner Ehefrau und ist immun gegen sämtliches Testosteron-Gehabe ihrer Geliebten. Stattdessen züchtet er Schnecken und kocht Kaffee. Jedoch bemerkt auch Vic, dass er von seiner Umgebung anders behandelt wird, nachdem er gescherzt hat, dass er den vermissten Geliebten seiner Ehefrau ermordet hat. Dadurch wird er als männlicher wahrgenommen – zumindest bis der wahre Täter gefunden wird.

Dieser Witz und die spätere Bestätigung, dass es ein Witz war, sind clevere narrative Entscheidungen: Das Spiel mit Maskulinitäten wird verstärkt, außerdem wird zu Vics tatsächlichen Mordgedanken übergeleitet, aber ist es seine erwiesene Unschuld, die ihm helfen wird, mit einem tatsächlichen Mord davonzukommen. Zugleich wird von vorneherein ein leichtes Misstrauen gegenüber Vic etabliert.

Das Spiel mit den traditionellen Rollenvorstellungen der 1950er Jahre bezieht Melinda mit ein. Im Prinzip tut sie, was männliche Figuren in Romanen schon sehr lange tun: sie hat Geliebte, sie demütigt ihren Ehemann, der das stillschweigend und duldsam hinnimmt. Als Melinda beginnt, ihren Ehemann des Mordes zu verdächtigen, schreit und tobt sie anfangs. Dann beginnt sie, die Rolle der perfekten Ehefrau zu spielen.

„Beim Essen – Hühnchen, Kartoffelbrei, geschmorte Endivien und Kressesalat – versuchte er, sich zu entspannen und nicht zu grübeln, denn er tastete in Gedanken nach Anhaltspunkten, nach Hinweisen, wie jemand in einem dunklen Zimmer, in dem er noch nie gewesen ist, nach der Zugschnur einer Lampe tastet, von der er weiß, daß sie da ist, aber nicht, wo. Er hoffte, mit seinem ziellos schweifenden Verstand unversehens auf den Grund dafür zu stoßen, daß Melinda so brav war. Nach De Lisles Tod hatte ihr anständiges Benehmen der Öffentlichkeit gegolten, nun aber galt es ihm. Sie war auch dann rücksichtsvoll und höflich zu ihm, wenn niemand dabei war, der es mitbekam.“

Es ist dieses Verhalten, das Vic zunehmend verunsichert. Er weiß, dass es Melinda nicht ähnlich sieht – jedoch dauert es eine Weile, bis er den Grund dafür erkennt.

Szenen einer Ehe

Vic ist ein typischer Highsmith-Psychopath: Er wird von seiner Umgebung von Anfang an als ein wenig seltsam wahrgenommen, vor allem weil er den konventionellen Männlichkeitsvorstellungen nicht entspricht – darin erinnert er an den Buchhändler Kimmel in „Der Stümper“. Die größte Demütigung ist für beide, dass ihre Ehefrauen noch nicht einmal verheimlichen, dass sie Sex mit anderen Männern haben. In ihren Morden verlieren sie dann die Kontrolle und steigern sie sich in eine Raserei herein.

Vic und Melinda sind so unglücklich miteinander, dass man sich unweigerlich fragt, warum sie überhaupt zusammenbleiben. Nur in wenigen Szenen zeigen sich letzte Spuren von Zuneigung, die da eventuell einmal gewesen sein könnte. Nun sind unglückliche Ehen ein beliebtes Sujet in psychologischen Spannungsromanen – Margaret Millars „Umgarnt“ ist ein weiteres eindrückliches Beispiel aus dem Jahr 1947. Es ist sind Ehen, bei denen man weiß, dass sie niemals glücklich werden können, sofern sie es überhaupt mal waren. Im Gegensatz zu „Umgarnt“ aber begrenzt Highsmith die Perspektive auf Vic, dadurch erscheint Melinda noch unmöglicher und unkontrollierter. Diese Begrenztheit nutzt auch Gillian Flynn in „Gone Girl“ durch die starke Subjektivierung sowohl von Nicks als auch Amys Perspektive.

Verbindungen zu Domestic Thriller

Die Schilderung dieser Beziehung und der Verlust der Kontrolle sind wesentliche Merkmale heutiger Domestic Thriller. Häufig hat dort ein Charakter – sehr oft die Erzählerin – die Kontrolle verloren oder verliert sie im Verlauf des Romans. Darüber hinaus entspringen Horror und Angst in Highsmiths „Tiefe Wasser“ in genau der bürgerlichen Heile-Welt-Idylle, die auch heute Handlungsort vieler Domestic Thriller ist. Bei Highsmith sind es die Vororte, in denen saubere, adrette Menschen wohnen, die ganz harmlos scheinen. Eine Welt, die – so legen biografische Lesarten ihrer Werke immer nahe – sie ebenso erstickend fand wie vorgeschriebene Genderrollen. Auch in heutigen Domestic Thrillern ist es zumeist ein gutbürgerliches Milieu ohne finanzielle Sorgen, in dem weiterhin heteronormative Vorstellungen vorherrschen – und an denen so manche verzweifeln.

Eine Bemerkung zum Schluss: Higsmiths Romane wurden häufig verfilmt, eine große Kinoadaption von „Tiefe Wasser“ gibt es bisher nicht. Bereits in den 2000er Jahren gab es Meldungen, dass Mike Nichols an einer Verfilmung arbeitet. Dann wurde Adrian Lyne damit in Verbindung gebracht und hat tatsächlich einen Film fertiggestellt. Der sollte ursprünglich im November 2020 in den USA starten, wurde nun aber coronagedingt ins nächste Jahr verschoben. Erste Handlungshinweise lassen vermuten, dass es eine eher lose Adaption wird. Die Hauptrollen spielen Ana de Armas und Ben Affleck – eine interessante Wahl, die zumindest schon einmal rein körperlich den Beschreibungen des Ehepaars entgegensteht. Aber das Affleck unschuldig aussehende Ehemänner spielen kann, hat er ja schon bewiesen: in „Gone Girl“. Vielleicht also wird dieser Film dann noch stärker ins Bewusstsein rücken, wie eng „Gone Girl“ und „Tiefe Wasser“ verwandt sind.

Sonja Hartl

*Wie wir mittlerweile von Diogenes erfahren haben, wird es zwar eine Neuausgabe geben, aber ohne das in der Vorschau angekündigte Nachwort von Gillian Flynn.

Ihre Texte bei uns hier.
Und siehe auch:
Hartl on Highsmith: Alles Stümper, diese Männer
Hartl on Highsmith: Zwei Fremde im Kaufhaus

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