Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Hans Hütt: Stephen Kings Roman „Später“

Horror als Handwerk

Später – das gilt in der lakonischen Sprache von Jugendlichen als vollständige Grußformel. Es klingt nach einem Versprechen. Oder wie eine Drohung. Warte nur! Nicht so schnell! In dem Parlando-Ton eines geschwätzigen Heranwachsenden ködert uns Stephen King und gewährt einen Einblick in das Betriebssystem der Schreckensproduktion. 

Kings Werk verdankt sich einem besonderen Sinn: dem Unwahrscheinlichkeitssinn, das ist die nach der Geburt ins Heim weggegebene finstere Zwillingsschwester des Möglichkeitssinns. Denk dir etwas so völlig Unwahrscheinliches aus wie die Gabe eines kleinen Jungen, frisch verstorbene Menschen zu sehen und mit ihnen zu reden. Dieser Anfang wirkt wie eine Fingerübung. Man dehnt sich. Man sehnt sich. Was ist da los? Ist das nicht lustig, was der kleine Jamie Conklin drauf hat? OK, es ist auch ein bisschen creepy, was er seiner Mama Tia erzählt. Geht die Phantasie mit dem Jungen durch? Oder ist er nur etwas überdreht, wie es dem verwöhnten Darling einer allein erziehenden Mutter in der Upper East Side von New York leicht passieren kann?

US Hardcover

Das Unwahrscheinliche wird auf die Probe gestellt. Deswegen ist dieser Roman von Stephen King auch wie eine Metaerzählung zu lesen. Sie gewährt uns ganz nebenbei und natürlich mit dem gebotenen Spott Einblick in das schriftstellerische Handwerk und den Literaturbetrieb, denn Jamies Mama ist eine erfolgreiche Literaturagentin. Sie hat die Agentur von ihrem großen Bruder übernommen, der früh an Alzheimer erkrankt ist und nun in einem komfortablen Pflegeheim untergebracht ist.

Dummerweise haben er und seine Schwester ihr Vermögen in einem Schwindelfonds angelegt, der sich in der Finanzkrise von 2008 in Luft auflöst. So bewegen wir uns leichtfüßig durch zwei Welten: die vermeintlich real existierende und eine imaginäre. Dass beide trügerisch sind, dass wir in beiden auf schwankendem Boden den Halt verlieren, das ist ein erzählerisches Goodie, mit dem King uns gefangen nimmt. Er zeigt in Zeitlupe, wie kapitaler Schrecken orchestriert wird und langsam an Fahrt aufnimmt. Haltet euch gut fest!

UK Edition

Mama und Jamie müssen nach dem Finanzcrash aus der Park Avenue umziehen. Plötzlich scheint alles auf Kante genäht und dann stirbt auch noch der erfolgreiche Großautor, den Jamies Mama vertritt. Wann, wenn nicht jetzt ist die Gelegenheit gekommen, das Talent des Knaben auf die Probe zu stellen? Kann Jamie dem frisch Verstorbenen den Plot und die Umwege des letzten Bandes einer überaus erfolgreichen Romanserie entlocken? Mama schreibt fieberhaft mit. 

So konstruiert King leichthändig eine Parallelaktion, so viel Musil-Musik steckt in dem für Kings normale Maße kleinen Roman nämlich auch drin, King nimmt uns an den Haken. Die Parallelaktion: Er verwandelt die Realgeschichte in eine Schreckensbühne, stellt sie auf die Probe und konfrontiert sie mit der Option eines anderen Verlaufs. Was wäre, wenn John F. Kennedy nicht ermordet worden wäre? Für King ist Musils Möglichkeitssinn der Betriebsmodus des Erzählens. Hat er erst einmal so etwas Unmögliches wie die Gabe erfunden, Tote sehen und reden zu hören, geht er ihr konsequent nach, bis sie die schlimmstmögliche Wendung nimmt. Daher ist auch dieser Roman wie eine Versuchsanordnung zu lesen. Wie geht Jamie mit seinem Talent um? Wird es nur ausgebeutet? Wie lernt er, mit dem Schrecken umzugehen? 

Die einstige Lebenspartnerin der Mutter ist eine Polizistin auf Abwegen. Sie war Zeugin, als der kleine Jamie seiner Mama den Plot des letzten Romans von dem frisch verstorbenen Erfolgsautor diktiert. Es gibt neben dieser üblen Figur mit dem einstigen Nachbarn in Park Avenue, dem emeritierten Literaturprofessor Burkett einen leibhaftigen Schutzheiligen, der dem kleinen begabten Jamie die literarischen Gegengifte nahebringt, mit denen er sich vor den Risiken seiner Gabe schützen kann. So beiläufig und gekonnt erweist sich das erzählerische Credo Stephen Kings: Literatur erlaubt es uns, dem Schrecken in die finstersten Abgründe zu folgen, aber auch ihnen standzuhalten.

Stephen King: Später (Later, 2021). Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt. Heyne Verlag, München, 304 Seiten, 22 Euro.

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