Geschrieben am 1. Oktober 2021 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2021

Günther Grosser: „Paradeis“ von Fernanda Melchor

Ein Faustschlag Literatur in Gottes Angesicht

Die Mexikanerin Fernanda Melchor jagt den ewig fluchenden Trottel Polo durch den wilden Kurzroman „Paradais“.

Polo, 16, muss als Gärtner schuften für die Reichen in der Luxusanlage Paradise nahe Veracruz – Paradais wird es ausgesprochen, weil es Englisch ist, hat ihm der Obergärtner erklärt, dieser Arsch – und abends lungert er mit dem fetten Franco, der in der Anlage wohnt, am Fluss rum und hört sich dessen saublöde Fickfantasien an, wie der die Nachbarin Señora Marián Maroño flachlegen wird „mit ihren roten Lippen und den funkelnden Augen“ und was sie sonst noch vorzuweisen hat und was er dann mit ihr macht, und Polos Mutter hockt zuhause, steckt seine Bezahlung ein und kümmert sich um seine schwangere Cousine Zorayda, diese schamlose Schlampe, die sich von allen bespringen lässt, aber wir werden das Gefühl nicht los, dass Polo da selber …. Überhaupt: dieser Polo, dieser ewig fluchende saufende rauchende Nichtsnutz, „hässlich wie ein Faustschlag in Gottes Angesicht“, wie seine Mutter sagt, was für eine Figur aus Fernanda Melchors kurzem knackigem Roman „Paradais“, staccatohaft, sprudelnd, atemlos aus der Perspektive dieses Losers erzählt, 140 Seiten Loggorhoe vom Feinsten. Und diese Fernanda Melchor, 39, aus Veracruz, wildeste Stimme der mexikanischen Literatur! Vor zwei Jahren für ihren Roman „Saison der Wirbelstürme“ mit Preisen überhäuft – Anna-Seghers-Preis, Internationaler Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt, Booker-Nominierung –  knallt sie uns jetzt diesen hellen Wahnsinn „Paradais“ hin! Natürlich ist das Sozialkritik, oben und unten, arm und reich, Klassenperspektive, zynisch allerdings ist es nicht, nur ehrlich, nicht Wahrheit sondern Wirklichkeit, mit diesen Geburtstagspartys der reichen Gören, bei denen Polo dann die Sauerei wegräumen muss, mit diesem „Bisnes mit den umgebauten Karren“ von Cousin Miltons Gang, bei dem Polo gern einsteigen würde. Aber zuallererst ist es krachende, beißende, kratzende, um sich schlagende Literatur, hochprozentiger Krassrealismus, mit diesem andauernden Fluchen, so viele Schimpfwörter auf so engem Raum gab´s schon lange nicht mehr, die Übersetzerin Angelica Ammar hat Schwerstarbeit geleistet, Chapeau! Und wir wollen´s dann doch nicht verschweigen: Natürlich kann das alles nicht gutgehen, der Volltrottel Polo lässt sich doch tatsächlich von Franco zu einem Überfall auf die Villa der Maroños überreden, wo es zur Katastrophe kommt, Herr Gott nochmal, man will’s nicht glauben. Mehr als  fünf sechs Seiten am Stück kann man von „Paradais“ nicht lesen – diese Frauenhasser, diese Würstchen, dieser anhaltende Arschlochismus – aber weglegen kann man’s auch nicht, dieses Kotzbrocken-Meisterstückchen.

2019 bei Wagenbach

Günther Grosser

Fernanda Melchor: Paradais. Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammer. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021. 140 Seiten, 18 Euro.

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